Die Verordnung von Arzneimitteln ist die meist praktizierte therapeutische Maßnahme.
In den Industrienationen sind die älteren Menschen (> 65 Jahre) die am stärksten wachsende
Bevölkerungsgruppe. Beim älteren Patienten bestehen dabei häufig mehrere überlappende,
oft chronische Krankheitsprozesse, die Indikationen zu lebensbegleitender Arzneimitteltherapie
darstellen können (z. B. Herzinsuffizienz, Hypertonie und Diabetes mellitus, aber
auch psychiatrische Krankheitsbilder wie Demenz).
Diese Multimorbidität kann den behandelnden Arzt zu einer Polypragmasie (konzeptlose
Diagnose und Behandlung) mit kaum vorhersagbaren Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten
veranlassen. Dabei ist eine Fülle von Faktoren netzwerkartig am Zustandekommen von
unerwünschten Wirkungen beteiligt, die altersbedingt zunehmen, wie Organfunktions-
und Compliancestörungen. Arzneimittelinduzierte Symptome sind kein seltener Grund
für Krankenhauseinweisungen in der Geriatrie. Problematischerweise können diese Symptome
als neue eigenständige Erkrankungen fehlinterpretiert werden und zu einer Ausweitung
der Medikation führen.
Naturgemäß steigt mit der Zahl der Diagnosen bei älteren Patienten auch die Anzahl
der verordneten Medikamente. Nach einer amerikanischen Studie nehmen Patienten (älter
als 65 Jahre) in etwa der Hälfte der Fälle 5 und mehr Arzneimittel und in 12% der
Fälle sogar mehr als 10 Arzneimittel ein.
Ein einfacher Erklärungsansatz für diese Polypharmazie besteht in der Leitlinienadhärenz
der Ärzte, die ihnen ja als erstrebenswertes Ziel mit normativem Charakter überall
angeraten wird: Jede Leitlinie empfiehlt etwa 3 Arzneimittel. Über 80-jährige Patienten
haben im Schnitt über 3 Diagnosen. Hieraus ergibt sich eine Arzneimittelzahl von 3
mal 3, also etwa 10 Arzneimittel pro Patient in diesem hohen Lebensalter, was leider
der Realität auch entspricht.
Der Hauptdenkfehler in dieser von Leitlinien getriebenen Polypharmazie besteht in
der Tatsache, dass es aufgrund der großen Heterogenität der Hochbetagten und der mangelhaften
Datenlage keine Leitlinien für dieses Alterskollektiv gibt.
Was hier also zur Adhärenz (Übereinstimmung mit der Therapie) und Polypharmazie führt,
nämlich die an Leitlinien orientierte Medizin, weist eindeutige Grenzen in diesem
Alterssegment auf. Daher sind auch keine Leitlinienübertretungen nötig, um zu einer
rationaleren Therapie im hohen Alter zu kommen.
Als eine Folge dieser Polypharmazie rechnet man für die USA mit immerhin etwa 2,1 Millionen
nebenwirkungsbedingten Krankenhauseinweisungen und 100 000 Todesfällen pro Jahr auf
die damalige Bevölkerung von 265 Millionen Einwohner bezogen. Für Deutschland werden
jährlich 20 000 Arzneimitteltodesfälle diskutiert. Das Autofahren ist bei 3200 Verkehrstoten
pro Jahr in Deutschland inzwischen durch die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte
(Gurte, Verkehrsführung, strenge Kontrollen) wesentlich sicherer.
Die Nierenfunktion ist bei den meisten betagten Patienten eingeschränkt und damit
hier eine regelhaft auftretende Besonderheit für den Arzneimittelstoffwechsel. Z. B.
über die Cockcroft-Gault-Formel lässt sich die Nierenfunktion auch ohne aufwändige
Parameter (z. B. Sammelurin) abschätzen.
Generell nimmt im Alter das Körperfett auf Kosten des Körperwassers zu, wodurch sich
Unterschiede in der Arzneimittelverteilung ergeben. Daraus resultieren größere Anteile
ungebundener freier Arzneistoffe.
Darüber hinaus unterliegt die Wirkung von Arzneimitteln krankheits- und altersbedingten
Veränderungen der End- oder Zielorgane. Sogenannte Arzneimittel-Krankheiten-Interaktionen
können hieraus entstehen. Dass über die Nieren ausgeschiedene Arzneimittel bei Nierenschäden
nicht oder nur eingeschränkt gegeben werden dürfen, gehört zum Grundwissen jedes Mediziners/Apothekers.
Dass aber zahlreiche Arzneimittel selbst auch Nierenschäden hervorrufen können, die
in der Folge auch für akute Vergiftungen verantwortlich sein können, wird viel zu
wenig beachtet.
In erster Linie sind hier Schmerz- oder Rheumamittel, sog. nichtsteroidale Antiphlogistika
(NSAID), zu nennen, die gerade in Kombination mit anderen, die Nierenfunktion störenden
Arzneimitteln wie ACE-Hemmern (Hochdruckmittel) zu akutem Nierenversagen führen können.
Bei Hochdruckpatienten macht ein NSAID im Schnitt das Hinzufügen eines weiteren Hochdruckmittels
erforderlich, da die Hochdrucktherapie insgesamt an Wirkung verliert.
Ein anderer bekannter, aber häufig unbeachteter Zusammenhang besteht zwischen zahlreichen
Arzneimitteln und der Auslösung bzw. der Verschlechterung eines Diabetes mellitus.
Zu diesen Arzneimitteln gehören nicht nur reine β-Blocker und hochdosierte Thiazide,
sondern auch Glukokortikoide und andere. Die besondere Empfindlichkeit des geschädigten,
aber auch des alten Gehirns gegenüber Beruhigungs- und Schlafmitteln, Morphin und
vor allem gegenüber Benzodiazepinen sei hier ebenfalls als bedeutsame Arzneimitteln-Krankheiten-Interaktion
erwähnt.
Früh wurde erkannt, dass an Stelle der oft ungenügenden Leitlinienempfehlungen Listenansätze
zur Beurteilung der Alterstauglichkeit von Arzneimitteln angewandt werden sollten,
die eine schnelle Beurteilung bei ausgedehnten Medikationsschemata ermöglichen. Das
erste Hilfsmittel dieser Art war die US Beers-Liste [1], die die alterskritischen Arzneimittel auflistet, deren Anwendung am älteren Patienten
nicht erfolgen sollte. Wichtige Substanzgruppen sind hier psychoaktive Pharmaka (Benzodiazepine,
Neuroleptika, Trizyklika) oder nichtsteroidale Antiphlogistika, die beim älteren Patienten
zu gravierenden Nebenwirkungen wie Verwirrtheit, Stürzen, Kognitionseinschränkung
oder gastrointestinalen Blutungen, Bluthochdruck und Herzinfarkten führen können.
13 Jahre später erschien eine deutsche Adaptation dieser Liste, die PRISCUS-Liste
[2].
Derartige Negativlisten sind heute in großer Zahl und mit regionalen Unterschieden
verfügbar. Ihnen ist gemeinsam, dass sie primär nur anhand der Arzneimittelliste feststellen,
ob unangemessene Arzneimittel (PIM: potentially inappropriate medications) vorhanden
sind. In neueren Versionen werden auch Ersatzvorschläge gemacht, die bezüglich der
Indikationsprüfung allerdings von der einzigen betrachteten Evidenz ausgehen, nämlich
dem Vorliegen eines bestimmten „schlechten“ Arzneimittels, das dann a priori auch
eine Indikation haben sollte. Dies ist oft nicht der Fall.
Bislang hat der klinische Einsatz dieser reinen Negativlisten enttäuscht. In einem
kürzlich durchgeführten systematischen Review [3] wurden unter 73 Listenansätzen 64 identifiziert, die die Arzneimittelliste in den
Vordergrund stellen („Drug-oriented listing approach“ oder DOLA). Nur 9 Listenansätze
stellten den Patienten in den Mittelpunkt, um Arzneimittelempfehlungen auf die individuellen
Bedürfnisse des Patienten anpassen zu können („patient-in-focus listing approach“
PILA). Die reine Betrachtung der Arzneimittelliste (DOLA), losgelöst von den klinischen
Daten des Patienten, ist zwar einladend und attraktiv, da elektronisch leicht zu unterstützen
und für epidemiologische Studien leicht zu erfassen; dies führt jedoch nicht zu einer
Indikationsüberprüfung. Sie kann daher nicht die Frage beantworten, ob ein „schlechtes“
Arzneimittel, z. B. ein Benzodiazepin zur Behandlung von Schlafstörungen, durch ein
besseres ersetzt werden muss, weil es sein kann, dass der Patient überhaupt kein derartiges
Arzneimittel benötigt. Dieser grundsätzliche Unterschied zu den meist später entwickelten
Positiv/Negativ-Ansätzen (PILA) ist wahrscheinlich auch der wesentliche Grund für
die relative klinische Erfolglosigkeit der expliziten Vorgehensweise. In dieser Übersicht
waren dann auch klinische Validierungsstudien von PILA signifikant häufiger in Bezug
auf eine klinische Besserung der Patienten erfolgreich als solche von DOLA. Dieser
Befund entspricht der allgemeinen ärztlichen Erfahrung, dass nur eine vom Patienten
ausgehende Beurteilung der Medikation erfolgreich sein kann. Deswegen sind insbesondere
zwei Ansätze, die im Jahr 2008 erstmals publiziert wurden, hervorzuheben, die als
PILA sowohl Negativ- als auch Positivempfehlungen kombiniert berücksichtigten. Das
START/STOPP-Projekt [4] listet Kriterien für „schlechte“ Arzneimittel, deren Anwendung beendet werden soll
(STOPP), aber auch positive Handlungsanweisungen (START), die zu einer besseren Nutzung
von Chancen für einen älteren Patienten führen. Das FORTA-Prinzip [5] ist die bislang einzige Positiv/Negativ-Bewertung einzelner Arzneimittel oder Arzneimittelgruppen
in Bezug auf altersrelevante Diagnosen und kategorisiert diese Arzneimittel von A
(sehr vorteilhaft) über B (vorteilhaft) und C (kritisch, nur in Ausnahmefällen zu
verabreichen) bis D (praktisch immer zu vermeiden). Dieses Prinzip wurde zur Entwicklung
einer Arzneimittelliste (FORTA-Liste) verwendet und hat in insgesamt drei Delphiprozessen
zu einer jetzt 296 Bewertungen in 30 Indikationen umfassenden Liste geführt [6]. Beide Systeme sind inzwischen in klinischen Interventionsstudien erfolgreich evaluiert
worden. Zuerst konnte in der VALFORTA-Studie [7] gezeigt werden, dass eine FORTA-Implementierung auf geriatrischen Stationen zu einer
hochsignifikanten Verbesserung der Medikationsqualität nach dem FORTA-Score (Summe
aus Über- und Untertherapiefehlern, nur durch eine Positiv/Negativ-Liste zu leisten)
führt. Diese Studie war die erste, die eindeutig auch zu klinisch positiven Endpunkteffekten
geführt hat: Bei nur 16-tägiger Intervention an im Schnitt 81-jährigen Patienten sank
die Rate von Arzneimittelnebenwirkungen gegenüber einer nach geriatrischen Standardbedingungen
therapierten Kontrollgruppe hochsignifikant ab, und dies bei einer NNT (Number Needed
to Treat) von nur fünf! Des Weiteren verbesserte sich der Barthel-Index signifikant
stärker in der FORTA-Gruppe als in der Kontrollgruppe. Danach erschien eine ganz ähnliche
Studie mit vergleichbaren Endpunkteffekten zum START/STOPP-System [8]; dies unterstreicht die große Bedeutung des positiven Anteils in diesen kombinierten
Positiv/Negativ-Bewertungssystemen.
Die Besonderheiten in der Arzneimitteltherapie des alten Patienten sollten insgesamt
jedoch nicht dazu verleiten, dieser hochrelevanten Zielgruppe hoffnungsvolle medikamentöse
Therapieansätze vorzuenthalten. Wichtig ist es, sich auf essenzielle Therapien zu
konzentrieren und somit die Zahl der Medikamente, wenn möglich, zu vermindern. Insbesondere
die Behandlungen des Bluthochdrucks und der Cholesterinerhöhung sind inzwischen auch
für ältere Patienten als äußerst erfolgreich belegt. Hier ist als Beispiel eine Liste
der in der Hochdrucktherapie üblichen Medikamente nach der FORTA-Klassifikation wiedergegeben,
die dem Arzt eine schnelle Orientierung (8 min Kontaktzeit in der primärärztlichen
Versorgung!) erlaubt ([Tab. 1]):
Tab. 1 Klassifizierung der Antihypertensiva nach FORTA.
|
Renin-Angiotensin-System Inhibitoren
|
|
ACE-Hemmer
|
A
|
|
Angiotensin-Rezeptor-Antagonisten
|
A
|
|
langwirksame Kalziumantagonisten vom Dihydropyridintyp, z. B. Amlodipin
|
A
|
|
Betablocker
außer Atenolol
|
B
D
|
|
Diuretika (als Thiazid Indapamid bevorzugt)
|
B
|
|
Alphablocker
|
C
|
|
Spironolacton
|
C
|
|
Moxonidin
|
C
|
|
Urapidil
|
C
|
|
Aliskiren
|
C
|
|
Clonidin
|
D
|
|
Minoxidil
|
D
|
|
Calciumantagonisten vom Verapamiltyp
|
D
|
Die gesamte FORTA-Liste ist frei zugänglich unter http://www.umm.uni-heidelberg.de/ag/forta/. Außerdem existiert jetzt für alle Handy-Systeme eine kostenlose APP (FORTA in den
entsprechenden AppStores eingeben).
Leider fehlen in vielen Bereichen noch Studiendaten zur Arzneimitteltherapie älterer
Patienten, da sie aus Zulassungsstudien für Arzneimittel häufig ausgeschlossen werden.
Angesichts der großen zahlenmäßigen Bedeutung der älteren Patienten und der anspruchsvollen
Therapiebedingungen ist dies ein gravierender Mangel, der energischer angegangen werden
sollte.
Abschließend soll nochmals betont werden, dass jede Arzneimittelanwendung ein Individualexperiment
darstellt, das trotz aller Informationen nur unter genauer klinischer Verlaufskontrolle
sicher durchzuführen ist!
Wer „scharfe“ Messer – und das sind viele der hochwirksamen modernen Medikamente –
führen will, muss mit ihnen umzugehen lernen und sich der möglichen Gefahren bewusst
sein.