Im August 2019 stellte sich ein 9-jähriges Mädchen in Begleitung ihrer Eltern vor.
Die Familie lebt seit vielen Jahren in Deutschland und stammt aus Montenegro. Das
Mädchen ist in Deutschland geboren. Seit Geburt bestünden bei dem Mädchen stark juckende
Hautveränderungen in wechselnder Ausprägung. Zu keinem Zeitpunkt wurde über Beschwerdefreiheit
berichtet. Zum Zeitpunkt der Geburt bestanden bereits erste ekzematöse Veränderungen,
jedoch keine Erythrodermie. Es besteht eine atopische Diathese mit einer Rhinokonjunktivitis
allergica saisonalis und Asthma bronchiale. Die bisherige klinische Verdachtsdiagnose
lautete seit Geburt auf ein atopisches Ekzem. Die dermatologische Familienanamnese
der Patientin ist leer, insbesondere der 6-jährige Bruder des Mädchens ist gesund
und hatte bislang keine Hauterkrankungen. Das Mädchen ist sonst gesund, weist keine
Gedeihstörungen, Zeichen einer mentalen Einschränkung oder Epilepsie auf. Lediglich
der Zahnstatus ist desaströs mit reichlich kariös veränderten Zähnen bei noch vollständigem
Milchzahngebiss.
Bei der initialen klinischen Untersuchung zeigte die Patientin eine Vielzahl an atopischen
Stigmata: gedoppelte Unterlidfalte, Mundwinkel- und Ohrläppchenrhagaden und pelzkappenartiger
Haaransatz, Lidekzeme mit gelblichen Krusten v. a. an den Unterlidern sowie einen
ausgeprägten weißen Dermografismus. Am Körper fiel neben einer generalisierten Xerosis
cutis ein stamm- und extremitätenbetontes Ekzembild mit fettiger, groblamellärer Schuppung
und zirzinären, teils girlandenartig imponierenden Plaques mit gedoppelter Schuppenleiste
auf. Besonders auffällig war eine ichthyosiform anmutende Lichenifikation der großen
Gelenkbeugen aber auch der Knie und Ellenbögen. An der behaarten Kopfhaut fiel eine
massive Pityriasis amiantacea auf, mit fest haftenden, trockenen, die Haarbüschel
ummauernden Schuppenkrausen. Retroaurikulär deutliche Schuppung und Rhagadenbildung.
Zudem zeigten sich kurze, trocken-struppige und glanzlose braune Haare, welche nach
Angaben der Eltern nicht über die vorhandene Haarlänge hinaus wachsen ([Abb. 1 a – l]). In einer orientierenden Blutuntersuchung konnte eine Bluteosinophilie von 5 %,
ein diskreter Zinkmangel mit 69 µg/dl (Normwert 75 – 100 µg/dl) sowie ein erhöhtes
Gesamt-IgE (976 IU/ml) festgestellt werden.
Abb. 1 Klinisches Bild des Mädchens bei Erstvorstellung. a Subakute Lidekzeme beiderseits mit gelblichen Krusten entlang des Wimpernkranzes.
b Trocken-groblamellär schuppendes Ekzembild retroaurikulär mit retroaurikulären Rhagaden.
c Schmutzig-braune Lichenifikation der Handgelenke. d Flächige Ekzematisierung und Lichenifikation der Ellenbeugen. e Girlandenförmiges Ekzem sowie schmutzig-braune Xerosis cutis am Stamm. f Girlandenförmiges Ekzem mit gedoppelter Schuppenkrause entlang des rechten Oberschenkels.
g Girlandenförmiges Ekzem mit gedoppelter Schuppenkrause. h Xerosis cutis und Lichenifikation an beiden Beinen. i Identisches klinisches Bild mit V-förmiger girlandenförmiger Ekzematisierung am Rücken.
j Lichenifikation der Kniekehlen. k Detailaufnahme der Ekzemplaques am Rücken. l Tinea amiantacea der behaarten Kopfhaut und krauses, trockenes und glanzloses Haar.
Unter der klinischen Verdachtsdiagnose eines Netherton-Syndroms wurden sowohl epilierte
und abgeschnittene Haare als auch eine Hautbiopsie vom Oberschenkel rechts entnommen.
In der Haarschaftmikroskopie wurden an vielen Haarschäften einzelne und auch mehrfache,
kugelgelenkartige Stauchungen des Haarschafts beobachtet ([Abb. 2 a, b]). Polarisationsoptisch zeigten sich keine weiteren Haarschaftanomalien, insbesondere
keine Tigerung ([Abb. 2 c]). Lichtmikroskopisch konnten ebenfalls keine weiteren pathologischen Befunde (Torquierung
oder Aufsplitterung) erhoben werden. In der Haarschaftmikroskopie konnte somit die
Diagnose von Bambushaaren ([Abb. 2 d]) bzw. einer Trichorrhexis invaginata gestellt werden.
Abb. 2 Trichoskopischer Befund untersuchter Haare in der (a, b) Lichtmikroskopie und (c) Polarisationsoptik. Es liegt eine Trichorrhexis invaginata vor. Der Haarschaftdefekt
entwickelt sich im Kindesalter und kann alle Körperhaare betreffen a Bitte beachten Sie insgesamt 3 „Stauchungen“ in der Übersichtsaufnahme (eingekringelt).
Stauchungen finden sich sowohl solitär als auch mehrfach an einem einzelnen Haarschaft
(Originalvergrößerung 40-fach). b Kugelgelenkartige Stauchung des Haarschaftes, ein Bild welches an Bambusstämme erinnert.
Diese Knoten im Haarschaft entstehen durch Stauchung und ggf. Torsion des wachsenden
Haares an Stellen der schwersten Störung in Kortex und Kutikula des Haarschaftes (Originalvergrößerung
200-fach). c Trichorrhexis invaginata in der Polarisationsoptik. In der Polarisationsoptik unauffällige
Schaftstruktur ohne Räderung oder Bänderung ähnlich einem Tigerschwanz – ein Befund,
der bei der Trichothiodystrophie beobachtet werden kann (Originalvergrößerung 200-fach).
d Die Trichorrhexis invaginata gleicht den Stauchungen innerhalb eines Bambusstammes
– daher rührt die Bezeichnung Bambushaar. Die für Bambus so typische Stauchung des Stammes, die mehrfach an einem Stamm beobachtet
wird, entsteht während des Längenwachstums des Bambusstammes. Bambusse haben kein
Dickenwachstum; das Längenwachstum erfolgt wie bei einem Teleskop durch Ausschieben
des nächsten Abschnitts. © Bildabdruck mit Genehmigung von Georg von Schmoller, Wangen,
www.bambooboom.de.
In der Hautbiopsie zeigte sich eine psoriasiforme Dermatose, fokal intrakorneale Granulozytenansammlungen
im Sinne Munroe’scher Mikroabszesse in einer ansonsten parakeratotisch verhornenden
Epidermis ([Abb. 3 a, b]). Fokal ganz diskretes subkorneales Splitting ([Abb. 3 c]). Mittels PAS-Färbung konnten keine Pilzelemente nachgewiesen werden. Ein schmales
Stratum granulosum war vorhanden. Fokal konnte eine diskrete Spongiose beobachtet
werden, in diesen Bereichen auch eine Parakeratose mit Serumeinlagerung. Begleitend
war ein schütteres, mononukleäres Infiltrat zu sehen. In der immunhistochemischen
Färbung mittels LEKTI-Antikörper (anti-SPINK5 Sigma, HPA011351) konnte unter Kontrolle
der Färbung mittels Positivkontrollen ein vollständiger Verlust der Lekti-Expression
gezeigt werden ([Abb. 4]). Der molekulargenetische Nachweis der zugrundeliegenden Mutation im SPINK5-Gen
stand zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Manuskriptes noch aus.
Abb. 3 Hämatoxylin-Eosin-Färbung einer Hautbiopsie vom Oberschenkel (Übersichtsaufnahme,
Originalvergrößerung 100-fach). Man beachte die psoriasiforme Epidermishyperplasie
mit Parakeratosehügeln a Parakeratotische Verhornung der Epidermis mit Einlagerung neutrophiler Granulozyten
in die Hornschicht. Ein Befund, der an Munroe’sche Mikroabszesse der Psoriasis vulgaris
denken lässt (Originalvergrößerung 200-fach). b Detailaufnahme mit Darstellung des subkornealen Splitting (Originalvergrößerung 100-fach).
Abb. 4 Immunhistochemische Befunde der LEKTI-Färbung (anti-SPINK5 Sigma, HPA011351, Verdünnung
1:500). a Positivkontrolle an einer Biopsie eines chronischen Ekzems. Man beachte die subkorneale
Expression von LEKTI in den Keratinozyten sowie im akrosyringealen Epithel (Originalvergrößerung
200-fach). b Die LEKTI-Färbung an der Biopsie des erkrankten Kindes zeigt den vollständigen Verlust
der Expression von LEKTI (Originalvergrößerung 200-fach).
In der Zusammenschau der erhobenen klinischen, histologischen, trichologischen und
immunhistologischen Befunden konnten wir bei unserer kleinen Patientin die Diagnose
eines Netherton-Syndroms (NS) stellen.
Das NS ist eine ausgesprochen seltene, wenngleich durch eine sehr klassische und eindrückliche
Klinik gekennzeichnete Genodermatose, welche im Kindesalter manifest wird (OMIM: 256500).
Es liegt ein autosomal-rezessiver Vererbungsmodus vor. Typischerweise sind die Haut,
die Haare und das Immunsystem von dieser Erkrankung betroffen, die durch eine Mutation
des SPINK5-Gens auf dem kurzen Arm des Chromosoms 5, welches den Serin-Protease-Inhibitor
LEKTI kodiert, verursacht wird. Weltweit sind ca. 150 Betroffene beschrieben.
Das Netherton-Syndrom wurde 1958 erstmalig beschrieben [2]. Die Inzidenz der Erkrankung wird auf 1:20 000 Geburten geschätzt, wobei sie vermutlich
höher liegen wird (ca. 1:50 000). Es wird angenommen, dass die Erkrankung aufgrund
ihrer klinischen Ähnlichkeit zu atopischer Dermatitis und anderen Ichthyoseformen
oft genug nicht als solche erkannt und fehl- bzw. unterdiagnostiziert wird. Abhängig
vom genauen Ort der Mutation im SPINK5-Gen bilden sich unterschiedlich schwere klinische
Phänotypen heraus. Je weiter upstream (Richtung 5'Region) die Mutation im SPINK5-Gen stattfindet, desto schwerer ist das
klinische Krankheitsbild ausgeprägt [3]. Das klinische Spektrum der Erkrankung reicht von unkomplizierten Fällen mit Störungen
des Längenwachstums der Haare und einer Xerosis cutis bis hin zu letalen Verläufen
aufgrund hypernatriämischer Dehydratation, Krampfanfällen, Diarrhoen und rekurrierender
septischer Episoden [1]. Typisches klinisches Merkmal, welches den Verdacht auf ein NS lenken sollte, ist
die charakteristische Verhornung im Rahmen der Ichthyosis linearis circumflexa (ILC),
welche gelegentlich auch als einziges Symptom des Netherton-Syndroms beobachtet werden
kann, ohne die übrigen, in [Tab. 1] genannten klinischen Befunde [4].
Tab. 1
Klinische Merkmale des Netherton-Syndroms. Fettgedruckt die klinischen Major-Kriterien
der Erkrankung [1].
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Typischerweise tritt die ILC direkt postnatal als Erythrodermie in Erscheinung. Im
weiteren Leben bilden sich jedoch, wie auch bei unserer Patientin, wandernde, teils
girlandenartige, braunrote Hyperkeratosen aus, welche von einer hochcharakteristischen
doppelten Schuppenleiste gesäumt werden ([Abb. 1 f, g]) [5]. Diese Läsionen variieren in Form und Ausprägung inter-, intraindividuell und im
zeitlichen Verlauf. Wenngleich die ILC ein definierendes Diagnosekriterium des NS
darstellt, kann sie auch außerhalb des NS beobachtet werden [6].
Die definitive Diagnose eines NS kann ausschließlich durch eine Hautbiopsie mit Nachweis
eines Verlustes der Expression von LEKTI an läsionaler Haut gestellt werden. Mittels
LEKTI-Immunhistologie kann an Hautbiopsien mit einer Sensitivität und Spezifität von
100 % bei neonatalen Erythrodermien die Diagnose eines NS gestellt werden [1]. In der konventionellen Histologie wird typischerweise mit sehr hoher Frequenz (bis
zu 86,3 %) eine psoriasiforme Hyperplasie beobachtet. Weitere histologische Merkmale
umfassen eine subkorneale Spaltbildung und das teilweise oder vollständige Fehlen
des Stratum corneum [7]. In SPINK5-knockout-Mäusen führt die o. g. subkorneale Spaltbildung zu einem oberflächlichen
Peeling der Haut [7]. Im Unterschied zur Psoriasis vulgaris fehlt beim NS die suprapapilläre Ausdünnung
der Epidermis. Eine Spongiose wurde in unterschiedlicher Frequenz in den verschiedenen
Fallserien beobachtet [7]
[8]. Typischerweise wird begleitend ein nur schütteres lymphozytäres Infiltrat beobachtet,
dem gelegentlich einzelne eosinophile Granulozyten beigemengt sein können.
Der Nachweis des Verlustes der LEKTI-Expression beweist das Vorliegen eines Netherton-Syndroms
wie in unserem Fall ([Abb. 4]). In normaler Haut wird LEKTI in der Granularzellschicht sowie der inneren Wurzelscheide
von Haarfollikeln exprimiert. Wichtig ist der Nachweis der fehlenden LEKTI-Expression
innerhalb der inneren Haarwurzelscheide in den Fällen, bei denen das Stratum granulosum
fehlt. LEKTI (lympho-epithelial Kazal type related inhibitor) inhibiert 3 Majorproteasen, welche Funktionen in der Desquamation des Stratum
corneum erfüllen: Kallikrein-related Peptidase 5, 7 und 14(KLK) [9]. Der Verlust von LEKTI führt zu einem Verlust der Hemmung dieser Proteasen und konsekutiv
unreguliert hoher Aktivität dieser Proteine mit epidermaler Proteolyse. Dies führt
zu einer weitreichenden Dysregulation der Homöostase der Haut und Inflammation und
beeinflusst auch die Keratinozytenproliferation, -differenzierung, Kornifikation und
Immunregulation [9].
Eine kurative Therapie des NS existiert derzeit nicht. Therapeutisch stehen bei neonatalen
Erythrodermien im Rahmen eines NS symptomorientierte intensivpädiatrische Maßnahmen
im Vordergrund, um begleitende Diarrhoen, Elektrolytverschiebungen, Sepsis und Krampfanfälle
zu behandeln. Im höheren Lebensalter ist die Therapie vom klinischen Phänotyp und
seiner Ausprägung abhängig: neben einer dringend notwendigen Therapie der Xerosis
cutis und einer an die Ichthyosen angepassten externen Therapie sowie der Behandlung
allergischer Erkrankungen im atopischen Kontext kommt bei der ILC systemisch vorrangig
Acitretin zum Einsatz. Unterstützend kann eine PUVA-Therapie zum Einsatz kommen. Die
Haarwachstumsstörung ist derzeit nicht behandelbar.
Experimentelle Verfahren sind gegenwärtig in der Entwicklung: autologer Keratinozytentransfer
mit lentiviralem SPINK5-kodierendem Vektor [10], Amnionmembrantransplantation [11] oder die Herstellung krystallografischer Surrogatproteine zur Inhibition der Auswirkungen
des LEKTI-Verlustes [12].
Fazit
Die Diagnose eines Netherton-Syndroms kann ausschließlich durch Histologie und Immunhistologie
(Verlust der LEKTI-Expression) an läsionaler Haut gestellt werden. Hierzu ist der
Histologe zwingend auf die Hilfe des Klinikers angewiesen, der die klinischen Befunde
kennen, erkennen und unter einen Hut bringen muss. Klinischerseits ist die girlandenförmige
Schuppung mit doppelter Schuppenleiste sowie der Nachweis der Trichorrhexis invaginata
und Befunde aus dem Formenkreis der atopischen Stigmata wegeweisend, um die Verdachtsdiagnose
zu stellen.