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DOI: 10.1055/a-1017-1348
Realität schlägt Virtualität – Hirnleistungstraining
Publication History
Publication Date:
03 January 2020 (online)
- Die Erhebung: 20 Personen machen mit
- Computergestütztes Training im Eins-zu-eins-Setting
- Betätigungsorientierte Therapie: aufwendig, aber wirkungsvoll
- Was folgt für die Praxis?
- PC-Programme entsorgen?
- Kontakt
Bei Klienten mit psychiatrischen Erkrankungen wird oft standardmäßig das computergestützte Hirnleistungstraining angewandt, um ihre kognitiven Fähigkeiten zu verbessern. Dabei ist nicht klar, ob es wirksamer ist als eine zielgerichtete betätigungsorientierte Therapie. Eine Fortbildungsgruppe junger Ergotherapeuten liefert nun Hinweise, dass die betätigungsorientierte Therapie schnellere und bessere Ergebnisse liefert als das Training am Computer.
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Seit geraumer Zeit ist die Ergotherapie im Umbruch: Der Paradigmenwechsel hin zur betätigungsorientierten Therapie ist im vollen Gang. Immer mehr Therapeuten finden es sinnvoller, die konkreten Alltagsanliegen des Klienten individuell anzugehen, anstatt nach dem Gießkannenprinzip handwerklich oder computerbasiert zu arbeiten. Doch lässt sich ein Vorteil der handlungsorientierten Therapieform belegen?
Ergotherapeutin Sarah Werner hat genau das versucht. In ihrer Fortbildung zur Fachtherapeutin Psychiatrie stellte sie fest, dass es bei ihren Kollegen ganz unterschiedliche Herangehensweisen gab, um beispielsweise Konzentrationsschwierigkeiten bei Menschen mit Depressionen zu behandeln. Während einige Kollegen berichteten, in ihrer Praxis oder Klinik ausschließlich betätigungsorientiert zu arbeiten, nutzte ein anderer Teil nur Computer-Trainingsprogramme, dritte verfolgten einen gemischten Ansatz. Die Idee für eine Facharbeit war geboren: Zusammen mit den Kursteilnehmern Kirsten Knieps, Simon Maas, Marc Kämmerer und Tim Schmidt wollte sie untersuchen, von welcher Therapieform Klienten mit Depressionen und kognitiven Einschränkungen am meisten profitieren.
Die Erhebung: 20 Personen machen mit
In einer stationären Therapieeinrichtung erklärten sich insgesamt 20 Klienten mit schweren Depressionen bereit, an der Erhebung teilzunehmen. Sie hatten aufgrund ihrer Erkrankung Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Alltägliche Dinge wie Einkaufen, Bus- und Bahnfahren oder Unterhaltungen trauten sie sich nicht mehr zu.
Zunächst führten die Therapeuten mit jedem Klienten ein Vorgespräch im Eins-zu-eins-Setting, um die individuelle Belastbarkeit, das psychische und physische Befinden sowie die Betätigungsanliegen herauszufinden. Dafür nutzten sie das Canadian Occupational Performance Measure (COPM). Im Anschluss daran teilten sie die Klienten in zwei gleich große Gruppen, die sich bezüglich Alter, Schweregrad der Erkrankung und Medikation ähnlich waren. Zehn Klienten sollten gemeinsam im Gruppensetting mithilfe eines betätigungsorientierten Ansatzes lernen, sich ihren Alltagszielen zu stellen, während die zehn übrigen mit dem Programm RehaCom ein Aufmerksamkeitstraining am Computer absolvieren würden.
Bevor es losging, durchlief jeder Klient einen Test mit dem Programm RehaCom, das einen Zahlenwert für seine kognitive Leistungsfähigkeit ermittelte. Nach Abschluss der vierwöchigen Behandlungszeit sollte dieser Wert erneut gemessen werden, außerdem sollten sämtliche Klienten mit einem Fragebogen Auskunft über ihre subjektiven Fortschritte geben.
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Computergestütztes Training im Eins-zu-eins-Setting
Die Probanden der computergestützten Therapie trainierten zusammen mit einem Therapeuten aus der Gruppe der Kursteilnehmer täglich 30 Minuten lang mit dem Programm RehaCom. Der Fokus lag dabei auf dem Modul „Aufmerksamkeitstraining“. Darin müssen die Klienten zum Beispiel ein Referenzbild mit einer Gruppe von Abbildungen vergleichen und daraus dasjenige Bild identifizieren, das mit dem Referenzbild übereinstimmt. Der Schwierigkeitsgrad steigt mit dem Leistungsniveau.
Nach jeder Therapieeinheit besprach der Therapeut die Ergebnisse direkt mit dem Klienten. „Das ist ein großer Vorteil des Programms: Der Klient bekommt sofort eine Rückmeldung über seine Fortschritte“, sagt Sarah Werner. Gerade für schwer betroffene Klienten, die sich gar nichts mehr zutrauen, sei die Arbeit mit dem Computerprogramm eine Hilfe. So sehen sie: „Mensch, ich kann ja doch etwas leisten – und sogar mehr, als ich dachte.“ Ein weiterer Vorteil: Das Eins-zu-eins-Setting überfordert niemanden, Stress kommt gar nicht erst auf.
Am Ende der vierwöchigen Behandlungszeit hatten sich alle zehn Klienten der Computergruppe verbessert: Der durchschnittliche Anfangswert für die kognitive Performanz, ermittelt durch RehaCom, lag bei -1,68, während der Endwert -0,78 betrug. Das entspricht einer durchschnittlichen Verbesserung von 0,9 Punkten.
Bei der Selbsteinschätzung durch die Fragebögen gaben acht Klienten an, dass sich ihre Konzentration verbessert habe, zwei hielten ihre Situation für unverändert. Auf die Frage, ob das Training ihnen geholfen habe, alltägliche Aufgaben zu bewältigen, waren sechs von acht Antworten positiv, darunter: „Fühle mich wacher“, „Es hat mein Selbstwertgefühl gestärkt“, „Ich habe gelernt, dass ich auch kleine Schritte machen darf“.
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Betätigungsorientierte Therapie: aufwendig, aber wirkungsvoll
In der Vergleichsgruppe führte eine Therapeutin mit den Klienten zweimal wöchentlich für jeweils 60 Minuten alltagsrelevante Tätigkeiten in der Gruppe durch. Dazu gehörte zum Beispiel das Aussuchen von Rezepten, das Schreiben einer Einkaufsliste, einkaufen gehen und dabei auf das Budget achten und kochen. Dazu sagt Sarah Werner: „Das Training in der Gruppe war anfangs schwierig für die Klienten, denn sie sind hier ganz anders gefordert. Sie müssen in verschiedenen Situationen angemessen reagieren, zum Beispiel in der richtigen Tonlage miteinander reden, bitte und danke sagen, eigene Ideen einbringen oder Kompromisse schließen. Aber nach den ersten Einheiten stellte sich ein Gefühl von Sicherheit ein, und davon schienen sie sehr zu profitieren.“
In der betätigungsorientierten Gruppe verbesserte sich der Kognitionswert bei neun von zehn Klienten. Während der Durchschnittwert für die gesamte Gruppe zu Beginn bei -1,83 lag, betrug er nach Abschluss der Therapie -0,65 Punkte. Die durchschnittliche Verbesserung betrug 1,18 Punkte und damit 0,28 Punkte mehr als in der RehaCom-Gruppe. Sarah Werner, die regelmäßig mit RehaCom arbeitet, wertet dies als respektablen Abstand.
Interessant ist, dass die Klienten die alltagsorientierte Therapie subjektiv besser bewerteten: Sämtliche Klienten gaben an, sich besser konzentrieren zu können, acht davon sogar „sehr viel besser“. Auf die Frage, ob das Training geholfen habe, im Alltag zurechtzukommen, wurden sechs ausschließlich positive Antworten gegeben, darunter: „Ich bin selbstständiger geworden“, „Meine Aufmerksamkeit und Konzentration (…) sind viel besser geworden“.
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Was folgt für die Praxis?
Die Ergebnisse legen nahe, dass die betätigungsorientierte Ergotherapie wirksam bei Menschen mit Depressionen und kognitiven Defiziten ist. Im vorliegenden Fall verbesserten sich die Klienten sowohl objektiv als auch subjektiv stärker als unter dem computergestützten Aufmerksamkeitstraining. Auch was den Alltagstransfer angeht, scheint die betätigungsorientierte Therapie überlegen zu sein – zumindest lassen sich die Antworten der Teilnehmer in der anschließenden Befragung in diesem Sinn interpretieren. Sarah Werner, die die beiden Gruppen zusammen mit Kirsten Knieps betreute, machte zusätzlich eine wichtige Beobachtung: „Die Teilnehmer der betätigungsorientierten Gruppe konnten sich nicht nur am Ende der Therapiezeit objektiv besser konzentrieren. Ich hatte den Eindruck, dass sie auch schneller Fortschritte machten als die Vergleichsgruppe. Sie konnten sich früher schon wieder eine Einkaufsliste merken oder sich unterhalten.“
Die Überlegenheit des betätigungsorientierten Ansatzes könnte darin liegen, dass die Gruppentherapie die Sinne der Klienten umfassender anspricht und verschiedene Ressourcen mobilisiert. Während man zum Beispiel gemeinsam eine Mahlzeit vorbereitet, fühlt, riecht und schmeckt man die Lebensmittel, bewegt sich im Raum und redet miteinander. Die Initiatoren der Erhebung finden, auch wegen der positiven Bewertungen auf den Fragebögen, „dass die realen Erfahrungen, die einzelnen Schritte der Betätigung im Alltag, der Umgang mit Menschen, die Nähe- und Distanzregulation, die sozialen Anforderungen nicht durch ein PC-Programm zu ersetzen (…) sind“.
Allerdings stellen sie auch fest, dass der betätigungsorientierte Ansatz nicht nur für Klienten, sondern auch für Therapeuten aufwendiger und komplexer ist: Sinnvolle Betätigungswünsche müssen gefunden und gruppengerecht umgesetzt werden; in der Gruppenarbeit muss der Therapeut permanent gut beobachten und angemessen eingreifen, sobald sich jemand mit einer Aufgabe schwertut; er muss verständnisvolle Rückmeldungen geben und Unterstützung anbieten – kurz: Er muss die Gruppe so anleiten, dass alle sich aufgehoben fühlen und das Scheitern bei einer Aufgabe nicht als Katastrophe empfunden wird. Gelingt dies, bietet das Gruppensetting ihrer Meinung nach eine Lernsituation, von der die Klienten außerordentlich profitieren können: Weil sie sehr konkrete Unterstützung für ihre Ziele erhalten, finden sie möglicherweise schneller in ihren Alltag zurück.
Der betätigungsorientierte Ansatz ist zwar aufwendiger, bietet aber konkretere Unterstützung für Alltagsziele.
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PC-Programme entsorgen?
Folgt daraus, dass die Programme jetzt entsorgt werden müssen? Hierzu kommt ein klares Nein von den Ergotherapeuten des Fortbildungskurses. Sie sind der Meinung, dass PC-Programme ihren berechtigten Platz in der Therapie haben. RehaCom sehen sie zum Beispiel als „eine hilfreiche Vorbereitung für die alltagsorientierte Therapie“. Danach sollten sie aber schnell zu einer betätigungsorientierten Therapie wechseln, insbesondere, um den Transfer in den Alltag zu meistern. Zusätzlich könnten computerbasierte Tests dazu beitragen, eine betätigungsorientierte oder kombinierte Therapie transparenter zu machen. Denn standardisierte Tests zu Beginn und am Ende der Behandlung messen Erfolge objektiv und machen sie dadurch sichtbar. Das ist nicht nur nützlich für die Verhandlung mit Kostenträgern, sondern motiviert auch Klienten und stärkt ihre Compliance.
Eine Verbindung beider Maßnahmen – computerbasiert und betätigungsorientiert – scheint den Kursteilnehmern daher, gerade bei Klienten mit schweren Depressionen und kognitiven Einschränkungen, am sinnvollsten. Am Arbeitsalltag von Sarah Werner werden die Ergebnisse der Erhebung nichts ändern: „Wir haben an meinem Arbeitsplatz auch bisher schon kombiniert gearbeitet. Aber der Arbeitgeber einer meiner Kurskollegen, der bisher nur computerbasiert gearbeitet hat, hat schon angekündigt, in Zukunft auch die betätigungsorientierte Therapie anzubieten.“
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Kontakt
Fragen, Anregungen, Interesse
Unterstützt wurde die Gruppe von Dr. Benigna Brandt. Wer Interesse an der Erhebung hat, kann sie über Sarah Werner beziehen: sarah.w.1993@web.de
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