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DOI: 10.1055/a-1067-0151
Wer nimmt sich das Leben? Ergebnisse einer psychologischen Autopsiestudie im Allgäu basierend auf Polizeiakten
A Psychological Autopsy Study Based on 626 German Police RecordsKorrespondenzadresse
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
17. Januar 2020 (online)
Zusammenfassung
Ziel der Studie Erhebung von Suizidmotiven, Risikofaktoren und Ansatzpunkten für Prävention.
Methodik Psychologische Autopsiestudie basierend auf Akten der Kriminalpolizei Kempten 2001 bis 2009.
Ergebnisse Die meisten der 626 Suizidenten zeigten bekannte Risikofaktoren für Suizide. Häufig waren negative Lebensereignisse im Vorfeld und Ankündigungen des Suizids.
Schlussfolgerung Die Suizide sind Ergebnis eines Zusammenspiels psychopathologischer und psychosozialer Faktoren. Suizidprävention muss auf die bessere Erkennung von Suizidankündigungen zielen und klare Konzepte der spezifischen Krisenversorgung vorhalten.
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Abstract
Objective In Germany roughly 10.000 persons commit suicide per year. To develop prevention strategies data regarding risk factors and potential interventions.
Methods We performed a psychological autopsy study based on police records from the Bavarian Allgäu in southern Germany.
Results We were able to analyse data on 626 suicides. The population studied showed numerous risk factors for suicide including mental illnesses in 50 % of the cases. Three quarters of the suicides had negative life events and nearly 50 % had announced their suicide.
Conclusions In the population studied mental illness alone was not a sufficient predictor for suicide. Rather, an interaction between mental illness, psychosocial crisis and other factors may explain and predict suicides. Suicide prevention should better address the needs of relatives and family doctors and offer specific low-threshold services.
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Einleitung
Weltweit sterben jährlich etwa 800 000 Menschen an einem Suizid [1], in Deutschland sind es ca. 10 000 Menschen pro Jahr [2]. Die Zahl der Suizidversuche liegt noch um ein Vielfaches darüber [1]. Suizide gehören damit nicht nur zu den häufigsten Todesursachen junger Menschen, sie betreffen immer auch noch andere Personen wie Familien, Partner, Behandler, auffindende Personen oder andere Beteiligte (z. B. Lokführer oder Rettungskräfte).
Und bei Suiziden handelt es sich grundsätzlich um vermeidbare Todesfälle [3], vor allem, wenn man annimmt, dass ein Großteil der Suizidopfer an behandelbaren psychischen Erkrankungen [4] leidet.
Wichtige Aspekte der Suizidpräventionsforschung sind die Identifizierung von Risikofaktoren sowie die Erforschung von Interventionsmöglichkeiten vor Suizidereignissen. Sogenannte „psychologische Autopsiestudien“ (d. h. retrospektive Analysen zu Suizidopfern) gehören zu den etablierten methodischen Herangehensweisen [5]. Hierzu werden verfügbare Daten (z. B. Krankengeschichten) ausgewertet, aber auch Personen aus dem Umfeld der Suizidopfer (z. B. Behandler, Angehörige) befragt. Methodisch halten viele Autoren diese Art der Herangehensweise für valide, u. a. um dem Suizid vorangehende Ereignisse und deren Beziehung zum Suizid zu untersuchen [5], wogegen andere Autoren (z. B. [6]) die methodische Qualität von psychologischen Autopsiestudien anzweifeln. Hauptkritikpunkt ist dabei die Validität der in den meisten Studien festgestellten hohen Rate an Suizidopfern mit vorangegangener psychischer Erkrankung (teilweise bis zu 90 % [5]).
In der hier vorgestellten Untersuchung wurden Polizeiakten aus dem bayerischen Allgäu über einen Zeitraum von neun Jahren mit dem Ziel ausgewertet, anhand einer aktuellen Stichprobe aus Deutschland Charakteristika von Suizidopfern nachzuzeichnen, Motive zu ermitteln und Möglichkeiten von Präventionsansätzen zu evaluieren.
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Methoden
Datenbasis
Datenbasis der Untersuchung waren Ermittlungsakten der Kriminalpolizeiinspektion Kempten der Jahre 2001 bis 2009. Die Kriminalpolizei ist für die Aufklärung aller unbekannten Todesursachen zuständig, v. a. bei Verdacht auf Selbsttötung oder Tötung unter Fremdeinwirkung.
Der festgelegte geografische Raum entspricht dem Landgerichtsbezirk Kempten. Somit sind in der Studie alle Suizidfälle, die in den Landkreisen Ober-, Ostallgäu und Lindau sowie den kreisfreien Städten Kempten und Kaufbeuren verübt und als solche nach polizeilicher Ermittlungsarbeit auch beurteilt wurden, enthalten. Nicht enthalten sind Suizide im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, da letztere Akten von der Verkehrspolizei archiviert werden.
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Aufbau und Inhalt der Polizeiakten
In den Ermittlungsarbeiten ist die Aufklärung des Tathergangs von großer Bedeutung (v. a. zur Unterscheidung von Selbst- und Fremdeinwirkung), weshalb die Akten meist sehr ausführliche Beschreibungen der Leiche und des Tat- und Auffindeortes, oft zusammen mit viel Fotomaterial, enthielten. Zudem wurde regelhaft nach einem Motiv für eine bewusst herbeigeführte Selbsttötung gesucht. Deshalb wurden i. d. R. Hinterbliebene, aber auch behandelnde Ärzte, als Zeugen befragt. In manchen Fällen waren auch ausführliche Arztberichte angefordert worden. In fast allen Akten waren die Todesbescheinigungen enthalten. Wenn eine Obduktion angefordert wurde, waren auch die ausführlichen Ergebnisse davon beigelegt. Sehr genau wurde von den ermittelnden Beamten nach Abschiedsbriefen gesucht und ggf. der Akte beigelegt. Standardmäßig war in den Akten ein Eingangsprotokoll mit kurzer Tatbeschreibung, -ort und Uhrzeit sowie ein abschließender kurzer zusammengefasster Bericht enthalten. In diesem Bericht war meist auch neben der Feststellung der Selbsttötung noch eine polizeiintern codierte Beschreibung des Motivs festgehalten.
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Datenextraktion
Die Datenextraktion orientierte sich an der Studie von Wolfersdorf et al. [7]. An der Datenerfassung waren zwei Ärztinnen und ein Psychologischer Psychotherapeut beteiligt, die anhand eines Merkmalskatalogs die interessierenden Daten aus den Polizeiakten extrahierten. Um die Validität der Datenerfassung sicherzustellen, wurden in regelmäßigen Treffen mehrere Fälle von allen drei Mitarbeitern getrennt ausgewertet und die Daten anschließend verglichen.
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Erfasste Daten
An soziodemografischen Daten wurden Alter, Geschlecht, Zivilstand, Zahl der Kinder, Wohnsituation, Schul- und Berufsausbildung und berufliche Situation zum Zeitpunkt des Suizids erhoben. An Angaben zum Suizid wurden die Methode (nach ICD-10) und eine eventuelle Beteiligung von anderen Menschen dokumentiert.
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Suizidmotive
Motive für den Suizid wurden zum einen auf Basis der Einschätzungen und Kategorisierung der Kriminalpolizei Kempten erhoben (siehe Ergebnisse). Zum anderen wurde im Rahmen des eigenen Aktenstudiums versucht (aus ärztlicher und psychotherapeutischer Sicht), die Motivation zum Suizid nachzuvollziehen. Wichtigste Basis der Einschätzungen waren in beiden Fällen Abschiedsbriefe, hinzu kamen Aussagen Hinterbliebener sowie der Gesamteindruck der Datenerfasser.
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Charakteristika der Suizidopfer
Neben allgemeinen soziodemografischen Angaben wurden auch spezifische, aus der Literatur bekannte Risikofaktoren erhoben [4]. Hierzu zählten u. a. Suizidversuche in der Vorgeschichte, kriminelle Vergehen, somatische und psychische Vorerkrankungen sowie Suchterkrankungen. Dabei dienten vor allem Todesbescheinigungen, Arztberichte sowie Aussagen von Angehörigen, falls vorhanden zusätzlich Obduktionsberichte, als Quellen. Da die meisten der Suizidopfer an mehreren somatischen Erkrankungen gelitten hatten, wurde der Schweregrad der schwersten somatischen Grunderkrankung in verschiedenen Abstufungen eingeschätzt.
Ferner wurden potenziell belastende Lebensereignisse aufgenommen (u. a. Verlust von Bezugspersonen durch Tod, Trennung oder Beziehungsprobleme), wie sie in den untersuchten Akten fast regelhaft erwähnt wurden.
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Suizidankündigungen, Reaktion des Umfelds, präsuizidales Verhalten
Durch die Kriminalpolizei wurde sorgfältig nach Suizidankündigungen und Hinweisen für auffälliges, präsuizidales Verhalten gesucht. Neben der getrennten Codierung für „Äußerungen zu Lebensunlust“ und konkreten Suizidankündigungen („Absichtsäußerungen“), wurde der Abstand der Äußerungen zum Suizidereignis dokumentiert und wem gegenüber diese Äußerungen getätigt worden waren. Gestützt auf Verhaltensbeschreibungen, die die Hinterbliebenen bei den Befragungen zu Protokoll gegeben hatten, wurde präsuizidales Verhalten dokumentiert. Bei expliziter Nennung wurde „unauffällig“ bzw. „so wie immer“ codiert, alternativ die genannten Auffälligkeiten (z. B. „unruhig, nervös“, „gelöst“, „geplagt von Schuldgefühlen“ etc.). Schließlich interessierte noch die Frage, ob aus den Ermittlungen der Eindruck entstand, dass der Suizid überraschend für die Hinterbliebenen gekommen war.
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Ethikvotum
Die Akteneinsicht in die Ermittlungsakten der Kriminalpolizei Kempten wurde vom Leitenden Oberstaatsanwalt für wissenschaftliche Zwecke gemäß § 476 StPO genehmigt. Die Ethikkommission der Universität Ulm bewilligte die retrospektive Auswertung und Analyse der Suizidfälle aus den Ermittlungsakten der Polizei (Aktenzeichen 281 /09-UBB/bal).
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Ergebnisse
Insgesamt fanden sich Daten zu N = 626 Suiziden. Neben der Tatortbeschreibung, Unterlagen von Polizei, Feuerwehr etc. wurden im Mittel 2,9 (SD = 2,1) Angehörige befragt. Zusätzlich lagen in 32 % (n = 197) Hausarztberichte den Akten bei, in 14 % (n = 86) Obduktionsberichte und in 596 Fällen (95 %) die Todesbescheinigung. Bei 259 Suizidopfern (41 %) wurden Abschiedsbriefe gefunden und bei 355 kein Abschiedsbrief (57 %, n = 12 bzw. 2 % unklar).
Die Suizidopfer waren überwiegend männlich und eher im höheren Lebensalter. Die meisten Suizidenten waren zum Zeitpunkt des Suizids berufstätig oder in Altersrente ([ Tab. 1 ]). Sogenannte „harte“ Suizidmethoden (Erhängen, Erschießen) wurden am häufigsten eingesetzt ([ Tab. 2 ]). In je fünf Fällen handelte es sich um einen gemeinschaftlich begangenen bzw. um einen erweiterten Suizid. Die Suizidenten wurden am häufigsten von eigenen Familienmitgliedern (n = 249, 40 %) aufgefunden, gefolgt von professionellen Helfern (Polizei, Feuerwehr etc., n = 131, 21 %), Fremden (n = 108, 17 %), Bekannten/Kollegen (n = 52, 8 %), Nachbarn (n = 48, 8 %) und Behandlern (Pflege, Betreuer etc., N031, 5 %) (n = 6 fehlende Werte).
Suizidmotive
Aus Sicht der Kriminalpolizei lag den Suiziden in etwa 60 % der Fälle eine Krankheit oder ein Nervenleiden zugrunde. Aus Sicht der Untersucher waren psychosoziale Belastungssituationen zusätzlich wichtige Suizidmotive ([ Tab. 3 ]).
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Charakteristika der Suizidopfer/Risikofaktoren
Mindestens 20 % der Suizidopfer hatten bereits Suizidversuche in der Vorgeschichte. Etwa ein Drittel litt vor dem Suizid an einer diagnostizierten psychischen Erkrankung und war deshalb in fachärztlicher Behandlung, bei weiteren 20 % gab es in den Akten Hinweise, dass z. B. der Hausarzt eine psychische Erkrankung vermutet hatte. Bei der Hälfte der Suizidenten gab es dagegen keine belastbaren Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung.
Etwa die Hälfte litt unter teils schweren somatischen Erkrankungen und immerhin 16 % waren bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Hinweise auf negative Lebensereignisse im Vorfeld des Suizids fanden sich bei 480 Suizidenten (77 %), davon ereigneten sich die meisten der insgesamt 703 Ereignisse innerhalb eines Jahres vor dem Suizid (n = 525, 75 %) und nur n = 45 (6 %) länger als ein Jahr zuvor (n = 133 bzw. 19 %: unklarer Zeitpunkt). Nur 42 Suizidopfer (7 %) wiesen keinen der genannten Risikofaktoren auf, 149 (24 %) einen und 435 (69 %) zwei oder mehr.
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Suizidankündigungen, Reaktion des Umfelds, präsuizidales Verhalten
Bei 48 % der Suizidopfer (n = 296) gab es v. a. laut Angaben der Hinterbliebenen konkrete Ankündigungen des Suizids bzw. zumindest Äußerungen in Richtung Todessehnsucht ([ Tab. 5 ]). Davon erfolgten n = 129 (44 %) der Äußerungen innerhalb der letzten Woche vor dem Suizid. Adressaten der Suizidankündigungen waren in erster Linie Familienangehörige oder Partner (81 %), nur in 14 % professionelle Anlaufstellen und hier v. a. Hausärzte. In der überwiegenden Mehrheit erfolgte die Suizidankündigung dabei im persönlichen Gespräch und nur in Einzelfällen mittels Briefen, SMS o. Ä.
Das Verhalten der Suizidenten in der Zeit vor dem Suizid („präsuizidales Verhalten“) wurde in 36 % der Fälle (n = 222) als „normal“ oder „so wie immer“ wahrgenommen und in 103 Fällen war aus den Akten keine Information hierzu zu entnehmen (17 %). In den verbliebenen 301 Fällen berichteten die Hinterbliebenen über Verhaltensauffälligkeiten, wobei Depressivität und Rückzug am häufigsten (134 bzw. 21 %; 69 bzw. 11 %) genannt wurden. Eine „gelöste Stimmung“ oder „Heiterkeit“ wurde insgesamt 27-mal (4 %) genannt. Die Frage, ob der Suizid für die Hinterbliebenen überraschend kam, wurde in 333 Fällen (53 %) bejaht, in 116 Fällen verneint (19 %), und bei 177 Fällen (28 %) konnte anhand der Akte keine eindeutige Aussage dazu abgeleitet werden.
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Diskussion
Wichtigste Ergebnisse
Die untersuchten Suizidenten stellen eine hochbelastete Bevölkerungsgruppe dar, in der sich Risikofaktoren für Suizide überzufällig häufig finden. Hier hätte zumindest ein Suizidrisiko angenommen werden können. Zudem haben fast die Hälfte der Suizidenten ihren Suizid zuvor deutlich angekündigt, sodass hier die theoretische Möglichkeit einer rechtzeitigen Intervention bestanden hätte.
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Stärken und Schwächen der Untersuchung
Für Deutschland liegen unseres Wissen nach bisher nur zwei psychologische Autopsiestudien vor [7] [8]. Stärken der vorliegenden Untersuchung sind demnach die Größe [9] sowie die Repräsentativität der Stichprobe, d. h. es wurden nicht, wie sonst oft üblich, nur ausgewählte Gruppen (z. B. Suizidenten aus psychiatrischen Kliniken) in die Untersuchung eingeschlossen. Der Umfang und die Gründlichkeit der kriminalpolizeilichen Ermittlungen, die aus der Anzahl der befragten Hinterbliebenen, Vorhandensein von Arztberichten und Abschiedsbriefen etc. ablesbar ist, bietet zudem eine breite Datengrundlage.
Einschränkend ist zu erwähnen, dass kriminalpolizeiliche Arbeit eben nicht vorrangig der Untersuchung von Suizidursachen oder Präventionsstrategien dient, sondern Fremdeinwirkung ausschließen soll. Zudem liefern die Befragungen der Hinterbliebenen möglicherweise verzerrte Einschätzungen, da sie retrospektiv nach dem Suizid erfolgten und Einflüsse wie Schuldgefühle o. Ä. nicht auszuschließen sind. Weiterhin sind die Quelldaten nicht von psychiatrisch/psychologisch geschulten Personen erhoben, sondern eben von Polizeibeamten. Diese Einschränkungen weisen auf ein vielfach diskutiertes Dilemma mit der Methodik der psychologischen Autopsiestudien hin. Zwar bietet dieser Studienansatz die gute Möglichkeit Beziehungen zwischen (Lebens-)Ereignissen oder Eigenschaften der Suizidenten und den Suizidereignissen zu untersuchen, die Daten werden aber retrospektiv und mit Wissen um das Suizidereignis erhoben, so dass sie möglicherweise methodischen Verzerrungen, etwa in Richtung einer zu hohen angenommenen Rate an psychischen Erkrankungen, unterliegen [6]. Die zuvor als methodische Schwäche diskutierte Tatsache, dass in unserer Studie keine psychiatrisch geschulten Mitarbeiter nach möglichen psychischen Vorerkrankungen gesucht haben, könnte also auch eine Stärkte des Projekts sein, in dem die mögliche Verzerrung in Richtung einer retrospektiven Psychiatrisierung der Suizidopfer ausgeblieben ist.
Um ein besseres „Verstehen“ der Suizidereignisse zu ermöglichen und die diskutierten methodischen Unsicherheiten abzuschwächen, werden deshalb vielfach ergänzende qualitative Untersuchungen gefordert [10].
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Entsprechen die Ergebnisse dem, was bekannt ist?
Das Geschlechterverhältnis (dreimal mehr Männer als Frauen) und das relativ hohe Durchschnittsalter entspricht den Ergebnissen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes und der Länder [11]. Hinsichtlich der angewandten Suizidmethoden ist Erhängen mit etwa 50 % in Europa überwiegend die häufigste – das entspricht auch unseren Ergebnissen. Es gibt aber möglicherweise regionale Besonderheiten [12], die sich auch in unserem Datensatz widerspiegeln. So ist der Sturz aus Höhe als Suizidmethode mit 12 % häufiger als in anderen Berichten, was vielleicht durch die geografischen Besonderheiten einer alpenländischen Region bedingt ist.
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Suizide als Folge psychischer Störungen?
Große Metanalysen [5] [9] [13] gehen davon aus, dass bei mehr als 80 % der Suizidenten in europäischen Ländern eine psychiatrische Diagnose zu stellen war. Daraus wird in der Regel geschlussfolgert, dass psychische Erkrankungen, vor allem Depressionen, der entscheidende Risikofaktor für Suizide sind [14]. Dabei wird davon ausgegangen, dass depressive Symptomatik ein erfolgreiches Auseinandersetzen mit negativen Lebensereignissen einschränkt bzw. negative Lebensereignisse erst durch die „depressive Brille“ zu solchen werden. Depression ist demnach der wichtigste zugrunde liegende Auslöser für Suizidalität, der konsequent behandelt werden muss [14].
Diese Schlussfolgerung lässt sich auch im vorliegenden Datensatz für viele Patienten nachvollziehen. So hatten ca. 50 % der Suizidenten eine diagnostizierte bzw. vermutete psychische Erkrankung und es lagen gleichzeitig, z. T. mehrere negative Lebensereignisse vor. Hier wären ggf. verstärkte psychiatrisch/psychotherapeutische Interventionen (z. B. Pharmakotherapie oder Psychotherapie) notwendig und ausreichend gewesen, die suizidale Krise aufzulösen.
Andererseits war aber bei fast 50 % der Suizidenten in unserer Untersuchung zum Zeitpunkt des Suizids keine psychische Störung diagnostiziert worden bzw. fanden sich für eine solche keinerlei Hinweise in den Ermittlungsakten. Bezüglich der Suizidmotive fanden sich in etwa der Hälfte der Fälle Hinweise auf psychische Erkrankungen, in der anderen Hälfte nicht, wogegen es Belege für negative Lebensereignisse bei fast allen Suizidenten gab. Entsprechend halten wir eine kritische Diskussion der Frage, ob Suizidenten wirklich überwiegend manifest psychisch krank sind, für notwendig [15] [16]. Hierbei muss bedacht werden, dass die Diagnosezuschreibungen in den Untersuchungen i. d. R. retrospektiv erfolgen. Dabei besteht die Gefahr, dass die Befragten einem Bewertungsfehler im Sinne eines retrospektiven confirmation bias [17] unterliegen: Wenn sich jemand suizidiert hat, werden aus der Kenntnis dieses Ereignisses zuvor gezeigte Verhaltensweisen als auffällig bewertet, auch wenn sie möglicherweise in der Situation nicht so erlebt worden wären.
Die Alternativerklärung wäre, dass Psychopathologie/psychische Erkrankung als Haupterklärung für Suizidhandlungen nicht ausreicht. So ist z. B. eine depressive Erkrankung einer der am besten belegten Risikofaktoren, andererseits begehen nur die wenigsten der depressiv Erkrankten tatsächlich einen Suizid [18]. Suizidhandlungen wären dann vielmehr als ein Zusammenspiel psychopathologischer, psychosozialer und persönlichkeitsgebundener Faktoren zu sehen. Diese Annahme hätte dann auch praktische Konsequenzen für die Suizidprävention, die dann eben nicht überwiegend auf die Erkennung und Behandlung psychischer Störungen fokussieren darf.
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Präventionsmöglichkeiten und Versorgungsangebote
Jeder Suizid ist einer zu viel. Suizide bedürfen deswegen entsprechender Präventionsstrategien, um ihre Zahl weiter deutlich zu reduzieren. Zugleich sind sie statistisch gesehen relativ seltene Ereignisse mit einer Häufigkeit von zwischen 12 und 15 pro 100 000 Einwohnern in Deutschland. Auch wenn insgesamt eine gute Kenntnis von Risikofaktoren besteht [3] [4], so gelingt es nur sehr eingeschränkt, daraus Modelle zu entwickeln, im Einzelnen Risikopersonen zu identifizieren, bei denen eine konkrete Suizidgefahr besteht [4].
In unserer Stichprobe zeigten aber viele Suizidenten eine Kombination aus mehreren Risikofaktoren und hatten gleichzeitig ihren Suizid konkret angekündigt. Mindestens für diese Gruppe (also Patienten, die suizidale Gedanken äußern und Risikofaktoren für einen Suizid haben) müssen Präventionsmöglichkeiten verbessert werden, zumal diese Präventionsansätze auch für „falsch positive“ Fälle (also Personen, die nie einen Suizid begangen hätten) hilfreich sein dürften. Aus unseren Daten kann auch abgeleitet werden, wo derartige Interventionen ansetzen müssen, nämlich bei den Hausärzten und den Angehörigen der suizidalen Personen. Für die Seite der Hausärzte gibt es bereits konkrete Ansätze [19], in denen vermittelt wird, depressive Symptome und Warnzeichen für einen Suizid besser einzuschätzen und mit suizidalen Krisen besser umzugehen.
Aufseiten der Angehörigen gibt es zu wenig spezifische Hilfsangebote. Deswegen wurden wohl trotz der konkreten Suizidankündigungen an Angehörige allzu oft Interventionsmöglichkeiten nicht genutzt. Wir vermuten, dass das Wissen darum, wer in welcher Krisen- oder Notfallsituation akut Hilfe gewähren kann, in der Allgemeinbevölkerung nicht ausreichend ist. Dazu dürften auch Schwierigkeiten kommen, Suizidäußerungen adäquat zu bewerten und somit zu erkennen. Das gelingt im Einzelfall auch „Profis“ nicht, was beispielsweise die Häufigkeit von Suiziden im psychiatrischen Krankenhaus widerspiegelt. Der/die ungeschulte Angehörige ist damit zwangsläufig überfordert.
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Fazit
Suizidprävention muss also unseres Erachtens auf die geeignetere Reaktion von Mitmenschen auf die Ankündigung eines Suizids zielen und klare Konzepte der spezifischen Krisen- oder Notfallversorgung vorhalten, die weithin bekannt sowie niedrigschwellig und rund um die Uhr verfügbar sein müssen. Mit Interesse wird zu beobachten sein, ob etwa die Ausweitung des Angebots der psychiatrischen Krisendienste, die mit dem neuen Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfegesetz zukünftig unter einer bayernweit einheitlichen Rufnummer rund um die Uhr erreichbar sind, die Versorgungssituation diesbezüglich verbessern wird. Zu hoffen ist dies.
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Suizidenten stellen eine hochbelastete Bevölkerungsgruppe dar. Risikofaktoren für Suizide sind u. a. höheres Alter, männliches Geschlecht, psychische Vorerkrankungen und negative Lebensereignisse.
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Fast die Hälfte der Suizidenten kündigt ihren Suizid zuvor deutlich an.
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Präventionsansätze sollten auch auf die Erkennung von Suizidgedanken durch Angehörige und Hausärzte und deren adäquate Reaktion zielen.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Suizidprävention: Eine globale Herausforderung. (veröffentlicht durch die WHO als Preventing Suicide: A global imperative) Leipzig: 2016
- 2 Statistisches Bundesamt. Sterbefälle (ab 1998) durch vorsätzliche Selbstbeschädigung. 2013. www.gbe-bund.de (aufgerufen am 15.11.2019)
- 3 Wasserman D. Suicide. An unnecessary death. Oxford: Oxford University Press; 2016
- 4 Hawton K, Casanas ICC, Haw C. et al. Risk factors for suicide in individuals with depression: a systematic review. J Affect Disord 2013; 147: 17-28
- 5 Cavanagh JT, Carson AJ, Sharpe M. et al. Psychological autopsy studies of suicide: a systematic review. Psychol Med 2003; 33: 395-405
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- 10 Hjelmeland H, Knizek BL. Why we need qualitative research in suicidology. Suicide Life Threat Behav 2010; 40: 74-80
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- 12 Thomas KH, Beech E, Gunnell D. Changes in commonly used methods of suicide in England and Wales from 1901–1907 to 2001–2007. J Affect Disord 2013; 144: 235-239
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- 14 Hegerl U, Heinz I. Reflections on causes of suicidal behaviour. Epidemiol Psychiatr Sci Epidemiol Psychiatr Sci 2019; 28: 469-472
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- 18 Wasserman D. Depression, bipolar disorders, and suicide. In: Wasserman D. ed. Suicide an unnecassary death. Oxford: Oxford University Press; 2016: 62
- 19 Coppens E, Van Audenhove C, Gusmao R. et al. Effectiveness of General Practitioner training to improve suicide awareness and knowledge and skills towards depression. J Affect Disord 2018; 227: 17-23
Korrespondenzadresse
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Literatur
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