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DOI: 10.1055/a-1071-1851
Diagnostik und Therapie von Schwerhörigkeit inkl. Cochlea-Implantat bei Migranten in Deutschland
Diagnosis and Therapy of Hearing Impairment and Cochlear Implant in Migrants in GermanyKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
20 April 2020 (online)
Zusammenfassung
Die medizinische Versorgung von Migranten – verantwortet von Ärzten – ist eine administrative und regulatorische Herausforderung. Klar verständliche gesetzliche Vorgaben und administrative Strukturen stehen zur Verfügung [1]. Ärztlicherseits und in der allgemeinen Presse wird oft diskutiert, dass zu wenige Ärzte über die Therapie von Asylbewerbern entscheiden, sondern die Sachbearbeiter der Gesundheitsämter [2]. In dem folgenden Beitrag werden diese Aspekte erfahrungsbasiert erläutert.
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Abstract
In addition to medical issues, the medical care of migrants is an administrative and regulatory challenge. Although it seems to be complicated, comprehensible and legal requirements and professional administrative structures are available [1]. Often discussed by physicians and the media is the assumption that the medical care will be decided not by the medical professionals but the administrative authorities [2].
In this paper the legal requirements are exemplified and out of the experiences of the authors, the requirements within the clinical routine work with the migrants highlighted.
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Das Wissen über die formalen Möglichkeiten, Migranten in Deutschland medizinisch zu versorgen, ist teilweise unvollständig vorhanden. Der vorliegende Artikel soll den Fokus auf die Schwerhörigkeit (insbesondere bei Kindern) lenken und den HNO-Arzt sowie Behördenmitarbeiter informieren. Die Diskussion um die Abschätzung einer kindlichen, hochgradigen Schwerhörigkeit und die gesetzlich festgelegten Rahmenbedingungen der Behandlung soll angeregt werden.
Einleitung
Die Diagnostik und Therapie von Schwerhörigkeiten haben sich in den letzten 3 Jahrzehnten enorm weiterentwickelt. Beispiele hierfür sind sowohl das Neugeborenen-Hörscreening als auch die flächendeckenden Angebote der Hörimplantat-Versorgung. Ergänzt wird dies durch die Vielfalt und den Fortschritt der konservativen Therapie, die auch E-Health einschließt (Beispiel: Remote care der MHH bei CI-Patienten: Niedersächsischer Gesundheitspreis 2016 „Innovatives eHealth-Projekt“).
Die Erkenntnis, dass auf dieser Basis nicht nur sehr gute Bildungschancen insbesondere für Kinder und Jugendliche entstanden sind, sondern auch eine Möglichkeit der vollen Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, ist mithilfe internationaler Publikationen weit verbreitet [3] [4] [5]. Durch die modernen Medien und der damit verbundenen Kommunikationsfreiheit sind diese medizinischen Errungenschaften weltweit bekannt – aber nicht weltweit vorhanden. Somit ist zu erwarten, dass aus der Gruppe der Migranten auch die Schwerhörigen um medizinische Hilfe bitten.
Rechtliche Systematik der medizinischen Versorgung
Die medizinische Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland ist auf Bundesebene gesetzlich geregelt – wobei die Verpflichtungen zur Umsetzung in den Bundesländern teilweise unterschiedlich realisiert werden. Es müssen sinnvollerweise 5 Gruppen unterschieden werden:
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Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus
Verantwortlich für eine Erstuntersuchung und die Notfallbehandlung sind die Landesebene und die Erstaufnahmeeinrichtung. -
Asylbewerber nach § 1 AsylbLG [6]
Abhängig vom Bundesland ist entweder die kommunale Sozialbehörde oder die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verantwortlich, eine „eingeschränkte Akutbehandlung“ (plus Schutzimpfungen, Vorsorge und Schwangerschaftsvorsorge) zur Verfügung zu stellen. Die eingeschränkte Akutbehandlung soll die Behandlung eines akuten Krankheitszustands oder das Abwenden von erheblichen Gesundheitsschäden ermöglichen. -
Asylbewerber nach § 2 AsylbLG nach 15 Monaten Aufenthalt
Diesem Personenkreis wird über die GKV-Gesundheitskarte der allgemeine Leistungskatalog der GKV zur Verfügung gestellt, sie sind also gemäß § 264 SGB V den gesetzlich Krankenversicherten gleichgestellt. -
Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
Die Kommunen stellen diesen Personenkreis weitgehend den GKV-Versicherten gleich. -
Neugeborene in Deutschland
Nach der Asylantragstellung der Eltern erhalten die anschließend Geborenen zum Schutz der Kinder die Möglichkeit eines eigenen Asylverfahrens.
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Gruppen zu versorgender schwerhöriger Migranten
Aus HNO-fachärztlicher Sicht stellt sich die Frage, inwieweit die Versorgung von schwerhörigen Flüchtlingen in Deutschland realisiert werden kann oder sogar muss. Ist dies abhängig vom Lebensalter, dem Ausmaß der Schwerhörigkeit und ggf. den Versorgungsmöglichkeiten des Heimatlandes?
Den Autoren dieses Beitrags liegt eine breite Erfahrung in Bezug auf die genannten Fragestellungen vor, wobei die tatsächliche Anzahl der versorgten Personen mit sehr unterschiedlicher Anamnese relativ gering ist. Somit ist eine systematische Aufarbeitung der Ergebnisse der Versorgung noch nicht möglich.
Dennoch lassen sich nach mehreren Jahren des Engagements bestimmte, sich wiederholende Herausforderungen erkennen. Diese werden – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – im Folgenden dargestellt:
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prälingual hörgeschädigte Kinder vor dem 6. bis 10. Lebensjahr ohne Diagnose und Therapie,
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prälingual hörgeschädigte Kinder nach dem 10. Lebensjahr ohne Diagnose und Therapie,
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bekannte Hörschädigung mit Therapiebeginn in der Heimat, unabhängig vom Lebensalter,
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prälingual hochgradig hörgeschädigte Erwachsene, häufig ohne systematische Sprachanbahnung, meist mit familiär gestützter Kommunikation, sowie
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in der Heimat therapierte Hörgeschädigte mit Verlust oder Defekt der Hörsystem- oder Hörimplantat-Versorgung.
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Verlauf der HNO-ärztlichen Versorgung bei Migranten
Zumeist wird im Rahmen der allgemeinmedizinischen Eingangsuntersuchung oder bspw. während der Sprachkurse der Verdacht auf eine Hörschädigung gestellt. Inwieweit diese Verdachtsdiagnose in jedem Fall zu einer fachärztlichen Diagnostik und somit ggf. Therapieplanung führt, ist nicht zu beurteilen. Nach Kenntnis der Autoren werden diese Informationen an keiner Stelle gesammelt.
Wird eine fachärztliche Diagnostik angestoßen, so wird der HNO-Facharzt in der Regel von der entsprechenden Behörde kontaktiert, sofern sich der Asylbewerber noch im zeitlichen Fenster von 15 Monaten Aufenthalt befindet. Meist sind die Gesundheitsämter/Sozialämter in dieser Fragestellung der verantwortliche Ansprechpartner. Hierbei obliegt den Behörden die Feststellung, ob es sich um die Abwendung von erheblichen Gesundheitsschäden handelt, wenn eine HNO-ärztliche Diagnostik und Therapieeinleitung erfolgen würde. Im Falle einer Mittelohrentzündung ist die Frage eindeutig, und die Patienten werden sofort im Rahmen der Möglichkeiten der Akutbehandlung versorgt und entsprechend über die Behörden (in manchen Bundesländern bereits auch in den ersten 15 Monaten über eine GKV-Karte) abgerechnet.
Hingegen ist die Fragestellung z. B. bei einer potenziell chronischen Innenohrschwerhörigkeit bei Asylbewerbern innerhalb der ersten 15 Monate komplexer. Handelt es sich um ein prälingual hörgeschädigtes Kind in der Phase der Hörbahnreifung (Gruppe 1), muss diskutiert werden, ob das Versäumnis der Hörbahnreifung bei Nichtbehandlung im Sinne der Gesetzgebung falsch ist. Ist es falsch, diesen Kindern im frühen Lebensalter ein CI zu verwehren?
Man könnte die Auffassung vertreten, dass die Therapie und somit Sicherstellung der Hörbahnreifung ein „Abwenden von erheblichen Gesundheitsschäden“ gemäß § 1 AsylbLG sind. In aller Regel ist es sinnvoll, eine solche abwägende Diskussion vorausschauend mit den Gesundheitsämtern zu führen. Denn wenn HNO-Facharzt und Behörde gemeinsam der Auffassung sind, dass diese Kinder eine Diagnostik und Therapie auch in den ersten 15 Monaten erhalten dürfen, müssen administrative Strukturen frühzeitig abgesprochen sein. Außerdem müssen die Gesundheitsämter darüber informiert werden, dass sich an die Diagnostik ggf. eine Therapie anschließt. Diese kann vom Hörgerät bis hin zum Cochlea-Implantat reichen. Nur die gemeinsame Übereinkunft über die Notwendigkeit beider Versorgungsstufen erfüllt das notwendige Maß der Effizienz.
Nach der Erfahrung der Autoren ist keine große Zahl an Kindern betroffen. Wenn betroffen, sind sie jedoch relativ häufig zusätzlich durch syndromale Erkrankungen komplex gekennzeichnet (Konsanguinität der Eltern aus anderen Kulturkreisen heraus). Außerdem sind die Kinder abhängig vom sehr unterschiedlichen Bildungsgrad der Eltern und der unterschiedlichen Sozialisation. Daher muss eine gute administrative Vernetzung zwischen Gesundheitsbehörde und Leistungsanbieter gegeben sein. Dies umfasst, neben der Möglichkeit der kompletten Diagnostik, eine ausreichende und zuverlässige Dolmetscherstruktur sowie eine gute Vernetzung mit einer Hörgeschädigten-pädagogischen Begleitung. Nur auf solche Strukturen aufbauend kann sich im Falle einer Therapienotwendigkeit diese effizient anschließen.
In dem Zusammenhang ist zu betonen, dass den Behörden die mögliche Vielfalt der medizinischen Konsequenzen, die auf die Diagnostik auch im zeitlichen Verlauf folgen kann, bekannt sein muss. Die Fachleute müssen sich im Vorfeld mit den Autoritäten der Behörden auseinandersetzen und die Sachlage erläutern und ein gemeinsames Vorgehen entwickeln. Eine Absprache und Diskussion um die Realisierung möglicher medizinischer Konsequenzen erst nach der Diagnostik verschwendet Zeit und Ressourcen des Gesundheitssystems und ist psychisch zu belastend für die Familien.
Komplexer stellt sich der Verlauf der Entscheidung bei prälingual hochgradig, an Taubheit grenzend hörgeschädigten Kindern nach dem 10. Lebensjahr (Gruppe 2) dar. Auch hier muss eine Diagnostik durchgeführt werden. Diese entspricht der der jüngeren Kinder. Stellt sich eine hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit heraus, die nicht Hörgeräte-versorgt ist und ohne dass der Jugendliche eine Lautsprache beherrscht, ist eine zielgerichtete und abwägende Diskussion mit allen Beteiligten wichtig. Eckpunkte des Abwägens bewegen sich zwischen der Qualität der bis dahin entwickelten, grundsätzlichen sprachlichen Kompetenz, der lautsprachlichen Kompetenz und der möglichen Entwicklung des Restgehörs bis zum Zeitpunkt der Vorstellung. Es gilt abzuwägen, ob mit einem Cochlea-Implantat zumindest ein Geräuscherkennen zu erwarten ist, um die mögliche lautsprachebegleitende Gebärde als Kommunikationsmittel zu entwickeln.
Anders stellt es sich bei prälingual hochgradig schwerhörigen Erwachsene dar (Gruppe 4). Meist kommunizieren diese in einer familiär entwickelten „Zeichensprache“ und leben verwurzelt in dieser Gemeinschaft. Da auch Rudimente von Hörbahnreifung nicht zu erwarten sind, in den meisten Fällen ein systematisches einfaches Sprachverständnis nicht entwickelt wurde und auch bei den Familienangehörigen evtl. Analphabetismus vorliegt, ist ein Cochlea-Implantat nicht sinnvoll. Abhängig vom zukünftigen Aufenthaltsort ist jedoch eine gebärdensprachliche Kommunikation erforderlich, um eine Integration in den Erwerbsmarkt und die Sozialgemeinschaft zu bahnen. Sicher besteht keine medizinische Notwendigkeit für eine schnelle Förderung der gebärdensprachlichen Fähigkeiten, und es kann somit das Asylverfahren abgewartet werden.
Bei allen diagnostizierten und versorgten Schwerhörigkeiten (Gruppe 3) ist prinzipiell die Qualität der Versorgung zu prüfen – ob dies in den ersten 15 Monaten notwendig ist, ist eine medizinisch nicht zu beantwortende Frage. Die Patienten sind in aller Regel sicher nicht ausreichend versorgt – aber versorgt.
In einigen Heimatländern der Migranten existieren auf der Basis eines profunden Wissens ambitionierte Versorgungstrukturen für Hörgeschädigte, inklusive Cochlea-Implantat-Programme, wobei nicht immer aktuelle Produkte verwendet werden. Ist es auf dem Fluchtweg oder in der weiteren Versorgung zu einem Verlust oder Defekt von Sprachprozessoren und/oder Hörgeräten gekommen, ist zunächst über ein CI-Leihgerät auf Kulanz der Hersteller ein unmittelbarer Ersatz möglich. Die Abwicklung der endgültigen Ersatz-Versorgung wird nachfolgend meist über die Servicestrukturen der Hersteller durchgeführt, sofern keine Reimplantation notwendig ist. Ist eine Reimplantation medizinisch notwendig, unterliegt diese meist der Indikation eines Notfalls und kann somit im Rahmen der Vorschriften erfolgen. Dies ist bei Hörgeräten so nicht möglich. Leihgeräte gibt es hier nicht.
Nach den ersten 15 Monaten Aufenthalt ist die Frage der medizinischen Versorgung durch einen HNO-Facharzt bei allen Asylbewerbern allein nach den medizinischen Indikationskriterien wie bei jedem anderen GKV-Versicherten zu entscheiden. Die Behandlungsinhalte sind dann nicht mehr auf Akuterkrankungen reduziert. Hierbei muss es irrelevant sein, wie das weitere Asylbewerberverfahren verläuft. Ob der Asylbewerber das Land verlässt und/oder zukünftig in Strukturen lebt, die eine Versorgung der durchgeführten Therapie (bspw. Cochlea-Implantat-Versorgung) nicht ermöglichen oder nicht in gleichem Ausmaß, darf rein medizinisch nicht Teil der Therapieüberlegungen sein.
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Ausreise von schwerhörigen Migranten
Herausfordernd wird es dann, wenn medizinisch versorgte Asylbewerber ausreisen müssen. Handelt es sich um eine medizinische Versorgung wie bei einem Cochlea-Implantat, die mit einer lebenslangen Nachsorge und bei Kindern in den ersten Jahren mit einer sich wiederholenden medizinischen und pädagogischen Therapie verbunden ist, dann entsteht ein scheinbar unüberwindbarer Konflikt. Denn in aller Regel werden die implantierende/versorgende Klinik und/oder Fachärzte vonseiten der Betroffenen gebeten, Argumente für ein Bleiben aus medizinischen Gründen zu finden. In diesen Fällen gilt es, die potenziellen Risiken abzuwägen, die eine Gefährdung bei fehlenden medizinischen Strukturen nach sich ziehen. Aus Sicht der Autoren ist dies in keinem Fall, auch nicht bei einer CI-Versorgung, der Fall, da eine Hörschädigung per se nicht lebensgefährlich ist. Dass eine effiziente Versorgung nicht weitergeführt werden kann, kann durchaus möglich sein. Ob dies jedoch ein Bleibegrund ist, ist aus Sicht der Autoren eine politische/gesellschaftspolitische Entscheidung, die dem einzelnen Arzt nicht abverlangt werden kann.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die ausreichende Therapie von Hörschädigungen wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit der Integration von Asylbewerbern ist. Nur mit einem ausreichenden Sprachverstehen ist das Erlernen der deutschen Sprache sinnvoll und effektiv möglich. Dies gilt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene und betrifft alle Formen der Schwerhörigkeit.
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Diskussion
Die medizinische Versorgung von Migranten ist eine administrative und regulatorische Herausforderung, die parallel zu den medizinischen Fragen von Ärzten verantwortet werden muss. Auch wenn es kompliziert anmutet, stehen klar verständliche gesetzliche Vorgaben und administrative Strukturen zur Verfügung [1]. Ärztlicherseits und in der allgemeinen Presse wird oft diskutiert, dass zu wenige Ärzte die Therapie von Asylbewerbern und stattdessen die Sachbearbeiter der Gesundheitsämter entscheiden [2].
Wir haben von den Eckpunkten, die für alle Bundesländer gleichermaßen Gültigkeit haben, berichtet. Entscheidend ist die Feststellung der Dauer des Aufenthalts in Deutschland – mehr oder weniger als 15 Monate. Nur in den ersten 15 Monaten besteht eine Einschränkung der Therapiemöglichkeiten auf die Akuttherapie. Die Feststellung, ob die Therapie einer Schwerhörigkeit akut ist, also in einer gewissen Form für den Patienten bedrohliche Folgen haben könnte ohne Behandlung, ist in jedem Einzelfall die notwendige Fragestellung. Es muss immer fachärztlich abgewogen werden, ob die medizinisch notwendigen Leistungen eine akute Therapie darstellen und somit einen erheblichen Gesundheitsschaden verhindern würden. Die Autoren haben die persönlich vielfältige Erfahrung gemacht, dass sich sowohl die Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens als auch die Sachbearbeiter der Sozialämter in jedem Fall fachärztlich beraten lassen.
Für die Versorgung der kindlichen Hörschädigung steht es außer Frage, dass ein nicht wieder gut zu machender Schaden verursacht wird, wenn die Phase der Hörbahnreifung ungenutzt bleibt. Ob dieser Schaden gesellschaftspolitische Anerkennung findet, als erheblich betrachtet wird im Sinne von gesundem Leben und mit einer adäquaten Versorgung dann eine (gesetzlich verankerte) Inklusion realisiert wird, ist eine Frage, die außerhalb der ärztlichen Entscheidungskompetenz liegt. Die Realität zeigt aber, dass die politisch verantwortlichen Entscheider in den Gesundheitsämtern und Behörden eine sehr sinnvolle Interpretation und Gewichtung mit Blick auf die Notwendigkeit der Hörbahnreifung vornehmen.
Die Versorgung von hörgeschädigten Migranten mit einer anderen Muttersprache als das aufnehmende Land wird begleitet von einigen Spezifika. Insbesondere eine Kommunikationsstörung und insbesondere die, die an eine kindliche Reifung gebunden ist, stellt in diesem gesetzlichen Kontext mit zeitlich eingeschränkten Rahmenbedingungen eine besondere medizinisch-abwägende Herausforderung dar. Im Allgemeinen gelten ethnische Minderheiten als „schwierige Klienten“ [7]. Bei der Frage der Versorgung mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten kann das aus dem klinischen Alltag nicht berichtet werden. Die Autoren erleben die Migranten als aktiv und im positiven Sinne fordernd.
Aber die notwendige Wissensvermittlung der Diagnosen und deren therapeutisch mögliche Konsequenzen erscheinen aufgrund der ungenügenden sprachlichen Deutschkenntnisse der überwiegenden Zahl der Migranten schwierig. Hingegen beeindruckend gut ist der Wissensstand bei Migranten, die schnell die deutsche Sprache erlernten. In den übrigen Fällen muss nicht nur von einem anderen kulturellen Verständnis und religiöser Verpflichtung, sondern auch von einem deutlich niedrigeren Bildungsniveau ausgegangen werden. Dies erschwert die notwendige Überzeugungsarbeit auf dem Weg zur Therapierealisierung weiter, unabhängig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Daher ist die Hinzuziehung von Dolmetschern zwingend erforderlich und sollte nie unterlassen werden. Improvisierte Patientenaufklärungen mit unqualifizierten Dolmetschern oder Familienmitgliedern führen häufig zu einer ungenügenden Wissensbasis, die auch negative Konsequenzen für die weitere Therapie haben kann.
Immer wieder wird diskutiert, dass die Gesundheitskosten der Migranten unsere finanziellen Möglichkeiten übersteigen und die Versorgung der GKV-Versicherten gefährden. Diese Argumente sind weder zu belegen noch zu entkräften. Verlässliche Hochrechnungen gibt es nicht. Die Beobachtungszeit der vergangenen Jahre ist zu kurz, um eine retrospektive Berechnung schon jetzt zu erstellen. Aus rein hörtherapeutischer Sicht ist zu erwarten, dass die Cost-Benefit-Relation allein aufgrund der vereinfachten bildungs- und erwerbspolitischen Integration dieser CI-versorgten Menschen sicher positiv ausfallen wird.
Ärzte sind nicht immer die Entscheider in den Gesundheits- und Sozialämtern, sodass auch falsches Einschätzen der Risiken droht [8].
Dass die Systematik der Gesundheitsversorgung eine Triage-anmutende Struktur hat, zeigt, dass im Notfall alle Asylbewerber sofort ärztlich behandelt werden. Dass man im Falle einer bspw. CI-Versorgung eine inhaltliche Absprache mit einem Amt führen muss, stellt aus Sicht der Autoren keine ungebührliche Härte für den Migranten dar. Zumal diese Absprachen durch die Ärzte erarbeitet werden – eine Mehrbelastung für die Ärzte, die nicht honoriert wird und somit auch finanziell dem GKV-System nicht zur Last fällt. Andererseits sind diese Absprachen für einen Freiberufler eine gesellschaftspolitische Last, die zumutbar erscheint.
Außerdem ist zu bedenken, dass, sobald die Asylbewerber sozialversicherungspflichtig Arbeit finden, Krankenkassenbeiträge gezahlt werden und sie somit solidarisch das Gesundheitssystem mitfinanzieren. Die Aufnahme von Erwerbstätigkeit ist an Deutschkenntnisse gebunden – ein wichtiges Argument für eine zügige und ausreichende Hörsystemversorgung insbesondere für Asylbewerber.
Die hörtechnische Versorgung von schwerhörigen Flüchtlingen in Deutschland ist machbar. Sie ist an gesetzliche Regelungen gebunden. Diese sind einleuchtend und behindern, sofern sich effiziente Netzwerke bilden lassen, die Diagnostik und Versorgung nicht.
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Zitierweise für diesen Artikel
Sprache · Stimme · Gehör 2018; 42: 30–34. doi:https://doi.org/10.1055/s-0043-119118
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Interessenkonflikt
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Mylius M, Frewer A. Medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus – eine Studie zur Rolle der Gesundheitsämter in Deutschland. Gesundheitswesen 2014; 76: 440-445
- 2 Dt Ärzteblatt 14.12.2016 „Medizinische Versorgung von Geflüchteten regional unterschiedlich“.
- 3 Blom H, Marschark M, Machmer E. Simultaneous communication supports learning in noise by cochlear implant users. Cochlear Implants Int 2017; 18: 49-56
- 4 Huarte A, Martínez-López M, Manrique-Huarte R. et al. Work activity in patients treated with cochlear implants. Acta Otorrinolaringol Esp 2017; 68: 92-97
- 5 Illg A, Haack M, Lesinski-Schiedat A. et al. Long-Term Outcomes, Education, and Occupational Level in Cochlear Implant Recipients Who Were Implanted in Childhood. Ear Hear 2017; 38: 577-587
- 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.
- 7 Borde T. „Migrantinnen und Migranten in der deutschen Gesundheitsversorgung – Auch nach 50 Jahren der Zuwanderung noch ein Problem?“. http://mighealth.net/de/images/4/46/Migrantinnen_und_Migranten_in_der_Deutschen_Gesundheitsversorgung.pdf
- 8 Deutscher Ethikrat. „Migration und Gesundheit. Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung“. Vorträge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010.
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Mylius M, Frewer A. Medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus – eine Studie zur Rolle der Gesundheitsämter in Deutschland. Gesundheitswesen 2014; 76: 440-445
- 2 Dt Ärzteblatt 14.12.2016 „Medizinische Versorgung von Geflüchteten regional unterschiedlich“.
- 3 Blom H, Marschark M, Machmer E. Simultaneous communication supports learning in noise by cochlear implant users. Cochlear Implants Int 2017; 18: 49-56
- 4 Huarte A, Martínez-López M, Manrique-Huarte R. et al. Work activity in patients treated with cochlear implants. Acta Otorrinolaringol Esp 2017; 68: 92-97
- 5 Illg A, Haack M, Lesinski-Schiedat A. et al. Long-Term Outcomes, Education, and Occupational Level in Cochlear Implant Recipients Who Were Implanted in Childhood. Ear Hear 2017; 38: 577-587
- 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.
- 7 Borde T. „Migrantinnen und Migranten in der deutschen Gesundheitsversorgung – Auch nach 50 Jahren der Zuwanderung noch ein Problem?“. http://mighealth.net/de/images/4/46/Migrantinnen_und_Migranten_in_der_Deutschen_Gesundheitsversorgung.pdf
- 8 Deutscher Ethikrat. „Migration und Gesundheit. Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung“. Vorträge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010.