Einleitung
Die Kapillarmikroskopie ist ein nicht mehr ganz so neues, vielen aber nicht geläufiges Verfahren, das zur Abklärung von Mikrozirkulationsstörungen der Haut genutzt werden kann. Es wurde so bereits vor über 100 Jahren beschrieben. Aus dem Dornröschenschlaf ist die Kapillarmikroskopie durch die moderne digitale Bildakquise und -speicherung erwacht, die insbesondere Verfügbarkeit und Standardisierung sichert und damit ein modernes diagnostisches Instrument schafft ([Abb. 1]). Durch die interdisziplinäre Standardisierung der Begriffe und Zuordnungen ist eine breite Anwendbarkeit gesichert [1]
[2]. Geringer Aufwand und fehlendes Risiko der Untersuchung erlauben Untersuchungen großer Populationen einerseits und eine breite Anwenderschulung andererseits [3]. Die Kapillarmikroskopie wird inzwischen von der Mehrheit der Rheumatologen und Dermatologen zur Differenzierung regelmäßig benutzt [4]
[5].
Abb. 1 Alltagstaugliche preisgünstige Kapillarmikroskope 1980 (links), 2010 (Mitte) und 2020 (rechts). Die Geräte werden kleiner, die Handlichkeit wird besser, digitale Archivierung wird möglich, in der neuesten Generation kabellos und auf dem Smartphone speicherbar.
Hierdurch hat das Verfahren in den letzten 15 Jahren eine rasante Dynamik vorgelegt, die von den Autoren regelmäßig in der deutschsprachigen Literatur zusammengefasst wurde [6]
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[14]. Wurden zunächst immer feinere deskriptive Ansätze und später immer komplexere Scores mit hoher (Veränderungs-)Sensitivität [15]
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[19] entwickelt und validiert, musste im Verlauf erkannt werden, dass diese aufgrund der Inter-Untersuchervariabilität im breiten Ansatz dann doch nicht so praktikabel erscheinen [20]
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[22]. Ein einfaches günstiges Bildgebungsverfahren sollte auch möglichst einfach auszuwerten sein.
„Wann“
Die klassische Indikation zur Kapillarmikroskopie ist das (v. a. neu aufgetretene) Raynaud-Phänomen zu Beginn und auch im Verlauf [23].
Eine normale Kapillardichte (> 7/mm) und eine Morphologie mit über 95 % Kapillaren mit schmalem Scheitel (Haarnadel oder torquiert) machen eine Kollagenose unwahrscheinlich [24]
[25]. Dagegen sind Megakapillare, Kapillarverlust und (viele) Blutungen die am besten reproduzierbaren Veränderungen, bei denen eine Kollagenose, oft eine Systemsklerose (SSc), als Ursache eines sekundären Raynaud-Phänomens wahrscheinlich wird [26] ([Abb. 2]).
Abb. 2 Kapillarmikroskopischer Normalbefund mit einem Auflichtmikroskop (a und b, 1 mm als schwarzer Balken), es zeigen sich schlanke, überwiegend haarnadelförmige, bisweilen torquierte Kapillaren in regelrechter Dichte mit leicht variabler Füllung. Systemsklerose mit einem Auflichtmikroskop (c, 1 mm als schwarzer Balken und d (200 µm Ausschnitt). Es zeigen sich die zahlreichen typischen Scheitelektasien bis zur Megakapillare (m), Blutungen (x), Ödem (ö) und Kapillarverlust mit Dichteminderung. Das typische Muster ist bereits in der Übersicht erkennbar. Hier ist durch das Ödem und die Rarefizierung mit größerer Vergrößerung wenig an zusätzlichen Informationen zu gewinnen.
Die Empfehlungen für die Verlaufsuntersuchungen bei Raynaud-Phänomen betreffend gibt es Unterschiede nur zum Zeitintervall für Kontrollen. Während M. Cutolo halbjährliche Kontrolluntersuchungen bei allen Betroffenen empfiehlt, „um den Übergang in eine Kollagenose frühzeitig zu erfassen“, erscheint für eine praktikable und ausreichend sichere Abgrenzung des sekundären Raynaud-Syndroms bei unauffälligem Erstbefund eine Kontrolle nach 2 Jahren sinnvoll [27]. Wenn dann weiter keine Auffälligkeiten bestehen, ist die Wahrscheinlichkeit für ein sekundäres Raynaud-Phänomen sehr gering und weitere elektive Kontrollen nach 2 Jahren können entfallen.
Bei auffälliger Kapillarmikroskopie, einem spezifischen Autoantikörperbefund oder einer unerwarteten Verschlechterung im Verlauf sollten längerfristig Kontrollen erfolgen [28].
Gesichert und Bestandteil der diagnostischen Kriterien [29] ist der Befund der Kapillarmikroskopie bei Verdacht auf Systemsklerose.
Bei Nachweis von Megakapillaren ist eine frühe Systemsklerose (SSc) wahrscheinlich, insbesondere wenn spezifische Antikörper wie gegen Centromer oder Topoisomerase nachweisbar sind. Hier ist vor klinischer Manifestation eine regelmäßige Kontrolle sinnvoll, da ein Abfall der Kapillardichte prädiktiv für die klinische Manifestation ist. Die Untersuchung ist für den Dermatologen oder Rheumatologen auch dann angezeigt, wenn zunächst innere Organe betroffen sind (Lungenfibrose, pulmonalarterielle Hypertonie, Ösophagusmotilitätsstörung) und auf eine SSc hindeuten, aber an der Haut sonst noch keine Veränderungen die spezifische Zuordnung erlauben – in diesen seltenen, aber schwierigen diagnostischen Fällen kann ein kapillarmikroskopischer Befund eine große Hilfe sein.
Verlaufsuntersuchungen bei Systemsklerose gewinnen zunehmend an Bedeutung.
Bei manifester Systemsklerose sind jährliche Kontrollen sinnvoll und können bei Verschlechterung (insbesondere abnehmender Kapillardichte oder Verschlechterung des Kapillarmusters) zusätzliche Untersuchungen veranlassen [30].
Um einen prädiktiven Wert zur Vorhersage von digitalen Ulzerationen zu haben (eine die Patienten sehr beeinträchtigende Komplikation), wurde von Sebastiani für deren italienisches Kollektiv ein Faktor (CSURI) entwickelt [16]
[17]. Nach Studienlage, aber auch unserer Erfahrung (und genauerer mathematischer Betrachtung der Formel, die der Kapillardichte eine führende Rolle zuweist), ist die relativ einfache Bestimmung der Kapillardichte wohl ausreichend [20]
[32]. Die Kapillardichte ist auch ein guter Prognosemarker für andere Organkomplikationen und die Mortalität [33]
[34]
[35].
Erstaunlicher und erfreulicher Weise tritt nach erfolgreicher Stammzelltransplantation eine „Besserung“ des Kapillarmikroskopie-Befundes auf. Somit kann die Kapillarmikroskopie auch hierfür als ein gut zu beurteilender Verlaufsparameter genutzt werden [31].
Der Einsatz lohnt auch bei Verdacht auf Kollagenose.
Neben der Systemsklerose zeigen auch andere (floride) Kollagenosen regelhaft kapillarmorphologische Veränderungen, die aber durch eine größere Vielfalt der Veränderungen und Ausprägungen (noch nicht) so gut zu stadienabhängigen, krankheitsspezifischen Mustern abstrahiert werden konnten wie bei der SSc. Aber sie geben Anlass zu einer weiterführenden Diagnostik, während ein kapillarmikroskopischer Normalbefund eine aktive Kollagenose unwahrscheinlich macht [36]
[37]
[38]
[39].
Für Verlaufsuntersuchungen bei Kollagenosen gibt es noch keine Evidenz.
Belastbare Daten zur verlässlichen Aktivitätsabschätzung von Kollagenosen mittels Kapillarmikroskopie liegen nicht vor bzw. sind widersprüchlich [37]
[38].
„Wie“
Durchführung
Die Kapillarmikroskopie ist eine erlernbare Bildgebung, die einer Lichtquelle, einer Technik zur Vergrößerung (optisch oder digital) und Immersionsöl zur Reduktion der Brechkraft der Haut bedarf.
Moderne Lichtquellen basieren nahezu alle auf der LED-Technologie, was neben der vereinfachten Bauweise den Vorteil des fehlenden Verbrennungsrisikos der heißen Glühdrähte bedingt.
Optische Lupen erlauben eine 10-fache, Dermatoskope eine 10 – 60-fache und klassische Mikroskope eine bis zu 200-fache Vergrößerung, bei lichtempfindlichen modernen digitalen Bildsensoren sind so hohe Auflösungen möglich, dass diese nochmals eine mehr als 10-fache zusätzliche Vergrößerung generieren können.
Die Kombination der digitalen Möglichkeiten und eine zufriedenstellende Abbildung bieten bereits kleine handliche und kostengünstige Kameras, die über USB-Anschlüsse und zuletzt kabelfrei die Betrachtung und Auswertung am Bildschirm erlauben ([Abb. 1]).
Wichtig ist eine kalibrierte Skalierung, da die Kapillardichte nur in einem definierten Bereich gemessen verwertbar ist.
Das Dermatoskop hat aufgrund der geringeren Vergrößerung eine geringere Sensitivität für eine Kollagenose (60,2 % vs. 81,6 %) als die Kapillarmikroskopie (so kann es Kapillarverzweigungen z. B. bei Lupus erythematodes nicht gut sichtbar machen). Sind aber Veränderungen bereits mit dem Dermatoskop sichtbar, ist es hoch wahrscheinlich (Spezifität 92,5 %), dass auch eine Erkrankung dahintersteckt. Hingegen zeigen andere Geräte mit höherer Vergrößerung vergleichbare Ergebnisse wie die klassische Kapillarmikroskopie [40].
Untersucht werden sollten alle „langen“ Finger beider Hände [41]. Um Auffälligkeiten nicht zu übersehen, sollten je Finger 4 Abschnitte a 1 mm oder ein Panorama dokumentiert werden ([Abb. 3]).
Abb. 3 Kapillarmikroskopische Bilder bei Systemsklerose mit einem Videomikroskop. Die Bilder a und b entsprechen jeweils 1 mm, c 500 µm. Alle Bilder wurden an einem Finger gewonnen, was die Vielfalt der Veränderungen demonstriert und die Wichtigkeit, nicht nur einen Ausschnitt zu beurteilen. Insbesondere Teil c aus dem Randbereich zeigt normale Kapillaren in Haarnadelform (h) und Torquierung (t). Abbildung a und b zeigen quasi alle definierten Veränderungen wie Kaliberschwankung (k), Scheitelektasie (s), Megakapillare (m), Elongation (e), Verzweigung (v), Blutung (x), Ödem (ö), Sludge (sg) und Thrombose (tr).
„Wofür“
Kapillardichte
Als wesentlichstes prognostisches Kriterium hat sich die Kapillardichte der Nagelfalz herauskristallisiert. Eine normale Kapillardichte geht bei neu aufgetretenem Raynaud-Syndrom mit einem geringen Risiko einer sekundären Genese im Sinne der frühen SSc einher, bei manifester SSc ist eine niedrige Kapillardichte assoziiert mit einem erhöhten Risiko digitaler Ulzerationen, pulmonalarterieller Hypertonie oder vorzeitigem Tod. Es zeigen sich auch Assoziationen mit anderen Biomarkern [35]. Die Kapillardichte kann sehr an bestimmten Abschnitten der Nagelfalz variieren, sie ist aber dennoch recht übereinstimmend zu bestimmen, wenn man sich auf eine standardisierte Methode einigt [42]. Erste automatisierte Anwendungen wurden beschrieben [43].
Kapillarmorphologie
Waren ursprünglich lediglich haarnadelförmige Kapillaren als „normal“ anzusehen, konnte die eingehendere Untersuchung größerer Populationen auch geringe Abweichungen in der gesunden Bevölkerung dokumentieren. Insbesondere die Torquierung zeigt sich häufig.
Eindeutig pathologisch sind Megakapillaren (mit mehr als 50 µm Durchmesser). Diese sind gut und mit hoher Übereinstimmung identifizierbar. Scheitelektasien können auch bei funktionellen Perfusionsstörungen wie Akrozyanose beobachtet werden, bei Übergang in eine Megakapillare ist aber von einer sekundären Symptomatik im Rahmen einer Kollagenose auszugehen.
Auch Büschelkapillaren sind Ausdruck einer Mikrozirkulationsschädigung, sie sind aber als Neoangiogenese eine sekundäre Reaktion und damit deutlich unspezifischer.
Extrakapilläre Veränderungen
Blutungen aus den Kapillaren sind gut erkennbar und Ausdruck einer akut stattgehabten Kapillarwandschädigung. Sie bieten sich daher gut als Aktivitätsparameter an. Blutungen einzelner Kapillaren treten aber auch nach mechanischer Belastung auf.
Wohin geht die Entwicklung?
Automatisierte Erfassung und Auswertung als Screening für Risiko von Erkrankung, Komplikation und Therapieansprechen bei (allen) Kollagenosen stellen eine realistische Anwendung in fünf Jahren dar [42]
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Die Kenntnis und Verbreitung der Methode und die frühere Erkennung der Systemsklerose könnte die Prognose der Erkrankung langfristig verbessern.
Die Anwendung der Kapillarmikroskopie bei anderen Erkrankungen mit potenziell mikrovaskulären Veränderungen kann auch hier den diagnostischen Horizont erweitern [46]
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