Und doch ist heute einiges anders: Nie zuvor gab es mehr frei verfügbare
Informationen zu Gesundheit und Erkrankungsrisiko und nie zuvor war der Anspruch
höher, dass Gesundheit machbar, Krankheit beherrschbar ist, wir alles im
Griff haben. Diese immer stärker ausgeprägte Vorstellung von
„Gesundheit ist machbar“ und „Krankheit ist
kontrollierbar“ trifft derzeit auf eine unsichere Erkenntnislage
bezüglich der Bedrohung durch das COVID-19-Virus. Die Folge ist eine breite
Verunsicherung und viel irrationales Verhalten: von Hamsterkäufen
über unbedarftes oder gar provokatives Nichtbefolgen einfachster
Verhaltensregeln bis hin zu impliziten oder expliziten Diskriminierungen (etwa
vorwurfsvolle Blicke auf asiatische Touristengruppen und gemiedene asiatische
Restaurants).
Die Bedrohung durch das COVID-19-Virus wirft viele Fragen zum individuellen und
kollektiven Verhalten der Bevölkerung auf. Eine davon ist diejenige nach der
Gesundheitskompetenz. Hier geht es um die Fähigkeiten der
Bevölkerung,
-
sich gesundheitsrelevante Informationen zu beschaffen und diese zu verstehen
– die funktionale Gesundheitskompetenz;
-
sich Gesundheitsinformationen interaktiv anzueignen und sich auszutauschen
– die interaktive Gesundheitskompetenz;
-
Gesundheitsinformationen abzuwägen und in den eigenen Kontext zu
überführen – die kritische Gesundheitskompetenz.
In der aktuellen Corona-Krise wird nun insbesondere diese kritische
Gesundheitskompetenz sehr wichtig: Es geht derzeit nicht nur um einfache
Wissensaufnahme, sondern auch und gerade um den produktiven Umgang mit Unsicherheit.
Bei Corona ist die Unsicherheit aktuell noch groß: Wissenschaftlich wissen
wir vieles noch nicht, die Politik geht schrittweise und teilweise
inkohärent vor und die Medien überschwemmen die Bevölkerung
mit „facts and fiction“ zu COVID-19.
Die medizinischen Wissenschaften insb. die Virologie und die Epidemiologie brauchen
Zeit, um gesicherte Erkenntnisse zu erzielen: Das sollte nicht überraschen
und der Bevölkerung klar kommuniziert werden. Die Politik hat es mit hoch
komplexen Aufgaben zu tun: Sie muss nicht nur auf die dynamischen
Erkenntnisstände der Wissenschaft zeitnah reagieren, sondern auch soziale
und ökonomische Bedarfe und Bedürfnisse berücksichtigen.
Dies alles dann zu einer ganzheitlichen Politik zusammenfügen –
insbesondere in einer liberalen Gesellschaft mit einem föderalen System und
immer unter Abwägung von Zwang und Freiheit für den Einzelnen
– ist eine mehr als schwere Aufgabe. Die Medien tragen in unterschiedlichem
Maß zu Erfolg und Misserfolg der Corona-Strategie bei: Bei ihren Aufgaben
der konstruktiven Kritik stoßen sie auf das Problem unsicherer
Erkenntnislagen. Ungut wird es, wenn in vielen Medien die Unklarheiten
überbetont und Spekulationen verbreitet werden.
Bei realistischer Betrachtung können diese Institutionen (Wissenschaft,
Politik, Medien) derzeit noch kein klares Bild zu Corona abgeben. Es kommt so
unweigerlich zu einem erheblichen Maß an Verunsicherung in der
Bevölkerung. Was dann gebraucht wird, ist kritische Gesundheitskompetenz,
einschließlich der Fähigkeit, mit den gegebenen
Wissensunsicherheiten umzugehen, Informationen kritisch zu bewerten, die Rolle der
Politik sowie auch das eigene Verhalten zu reflektieren.
Um Gesundheitskompetenz und angemessenes Verhalten in der Bevölkerung zu
fördern, wird heute häufig auf das Konzept der Selbstverantwortung
verwiesen. Dabei zeigt sich die einseitige Betonung der Selbst- oder
Eigenverantwortung als problematisch: Für viele steht das Wort
Eigenverantwortung in erster Linie für „für sich selbst
verantwortlich“ und betont so primär den Eigennutz. In Bedrohungen
durch Kontaktinfektionen wie derzeit durch COVID-19 ist der Einzelne aber eben nicht
nur für sich selbst verantwortlich, sondern gerade auch für die
anderen. Für die Mehrzahl der Bevölkerung gilt in der Tat, dass sie
nicht zu den Risikogruppen gehören und ihre Verantwortung daher
primär den anderen gilt. Das ist schwer zu vermitteln. In Corona-Zeiten muss
der Einzelne die schwierige Verbindung von Eigeninteresse und
Gemeinwohlverantwortung schaffen.
Gemeinwohlverantwortung ist ein abstrakter und eher schwer zu kommunizierender
Begriff. Für die Kommunikation zwischen Wissenschaft und der
Bevölkerung, in den Medien und in der Politik erscheint der Begriff der
Mitverantwortung wohl angemessener. Er bezeichnet das, was jetzt in der Corona-Krise
gebraucht wird, um mit angemessenem Verhalten sich selbst und andere zu
schützen und die medizinischen Dienste nicht
übermäßig zu beanspruchen. Häufiger von
Mitverantwortung zu sprechen, könnte auch helfen, gesellschaftliche und
für unser Gesundheitswesen elementare Werte wie Solidarität in die
aktuellen Corona-Diskussionen zu integrieren.
Mitverantwortung muss geübt und praktiziert werden. Dafür liefert uns
Corona ganz aktuell Anlässe. Das sogenannte „social
distancing“ und die Schließung öffentlicher Räume
kann vielleicht als aktuelles Beispiel dafür dienen, dass der
mitverantwortliche Einzelne gefragt ist, um die besten Lösungen zu
erreichen: Einen hinreichenden Sicherheitsabstand (1,5–2 Meter) zu den
Mitmenschen zu halten, ist eines der effizientesten Mittel, die
COVID-19-Übertragungsketten zu durchbrechen. Die Umsetzung der
entsprechenden Verhaltensweisen z. B. dadurch zu erreichen, dass man ganze
Parkanlagen schließt, basiert auf der Annahme, dass es immer wieder Menschen
geben wird, die sich dort treffen und dabei den sicheren Abstand nicht einhalten.
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass diese Menschen sich an einem
anderen Ort treffen. Die Alternative wäre wohl, den Park offen zu halten,
weiterhin die Möglichkeit zu bieten, Spaziergänge zu machen in einer
natürliche Ruhe ausstrahlenden Umgebung, zu erleben, dass man Mitmenschen
hat, auch wenn die halt in einer gewissen Distanz bleiben. Evtl. müsste die
Anzahl der Besucher begrenzt werden, Parkpersonal könnte angemessenes
Verhalten kontrollieren und dort, wo angezeigt, gleich vor Ort zur freundlichen
Aufklärung und so zur Gesundheitskompetenz beitragen.
Wenn wir nicht jegliches COVID-19-relevante Verhalten der Menschen regeln
können oder wollen, dann braucht es neben strukturellen Vorgaben die
(gesundheits-)kompetente Bevölkerung, die unter Einhaltung der wichtigen
Grundregeln (wo immer es geht Abstand halten und oft die Hände waschen)
entscheidet, wie sie diese Regeln in ihrem spezifischen Kontext am besten umsetzen
kann und so ihrer Mitverantwortung gerecht wird.
In der derzeitigen Krisensituation muss es in erster Linie darum gehen, die
Bevölkerung zielführend zu informieren und dazu zu bewegen, mit
richtigem Verhalten beizutragen, dass die Ansteckungsketten unterbrochen werden und
die aktuelle Krise überwunden wird. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass
wir zukünftig vermehrt mit ähnlichen Krisen wie die der
COVID-19-Infektionen werden umgehen müssen. Hinreichende und besonders auch
kritische Gesundheitskompetenz in unserer Bevölkerung wäre ein Teil
der Vorbereitung auf Zeiten, die wieder geprägt sein werden von unsicheren
Erkenntnisständen und komplexen Maßnahmen. Diese
Gesundheitskompetenz muss gelernt werden. Es wird die Aufgabe der Gesellschaft sein,
gute Bedingungen dazu zu schaffen, z. B. mit entsprechenden Anpassungen der
Lerninhalte in den Schulen. Kritische Gesundheitskompetenz im Sinne des
konstruktiv-kritischen Mitwirkens muss auch angewendet werden können.
Anwendungsfelder dazu sind z. B. die Mitgestaltung von
gesundheitsförderlichen Arbeitsplätzen oder Wohnanlagen. Ebenfalls
in diese Richtung gehen heute Projekte im Bereich der sog. „patient reported
experiences“, bei denen die Erfahrungen von Patientinnen und Patienten im
Gesundheitswesen systematisch erhoben und für Verbesserungen im System
genutzt werden können.
Derzeit macht Deutschland neue Erfahrung im Umgang mit einer weitreichenden Bedrohung
durch COVID-19. Auch in der aktuellen Krise liegt erhebliches Potenzial für
Lernerfahrung. Die politischen Entscheidungsträger müssen
z. B. sicherstellen, dass zukünftig bessere infektions- und
versorgungsepidemiologischen Daten sehr früh zur Verfügung stehen.
Nur so lassen sich Infektionsverläufe valide abbilden und die Erkenntnisse
daraus entscheidungsvorbereitend und entscheidungsbegleitenden nutzen.
Zugleich kann und muss aus den sozialen Dynamiken der Corona-Krise gelernt werden.
Wie sind die Institutionen und wie die Bürgerinnen und Bürger mit
der bedrohlichen Lage umgegangen? Es gilt, diese Erfahrungen der Bevölkerung
ernst zu nehmen, systematisch aufzuarbeiten und für die Vorbereitung auf
ähnliche Notstände zu nutzen, ganz im Sinne der Förderung
von mehr Gesundheitskompetenz und ihrer Nutzung bei aktuellen Gesundheitskrisen.