ergopraxis 2020; 13(04): 28-31
DOI: 10.1055/a-1101-5297
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

„Sexualität ist ein Grundbedürfnis – bitte sprecht darüber!“ – Sexualität als Betätigungsanliegen

Lisa Raß
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Publikationsdatum:
06. April 2020 (online)

 

Viele Klienten, die sich mit Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Querschnittlähmung oder Schlaganfall in der ergotherapeutischen Praxis vorstellen, sind in ihrer Sexualität eingeschränkt. Darüber redet aber so gut wie niemand. Ergotherapeutin Katja Stolte findet, dass sich daran dringend etwas ändern muss. Gemeinsam mit ihrer Klientin Heike Zirnstein erläutert sie, warum es wichtig ist, sexuelle Einschränkungen stärker zu beachten. Im Interview erzählen sie, wie das in ihrem Fall funktioniert hat.


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Heike Zirnstein, Katja Stolte

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Heike Zirnstein bekam 1995 mit 31 Jahren die Diagnose Multiple Sklerose. Seitdem versucht sie, ihr gewohntes Leben so weit wie möglich aufrechtzuerhalten – auch was ihre Sexualität betrifft.


Katja Stolte ist seit 2018 Ergotherapeutin. In ihrer Bachelorarbeit identifizierte sie Sexualität als Tabu in der Praxis – und fand den Grund in der mangelnden Ansprache in Ausbildung und Studium. Ihr Wunsch ist es, dass es normal wird, in der Therapie über sexuelle Einschränkungen zu sprechen, und sie arbeitet daran, das Thema in Lehre und Fortbildung zu verankern. Wer ihre Bachelorarbeit lesen oder sich fachlich austauschen möchte, erreicht sie unter katja.stolte@googlemail.com.


Abb.: K. Stolte

Frau Zirnstein, Sie leben seit über 20 Jahren mit Multipler Sklerose (MS). Wie geht es Ihnen?

Zirnstein: Es gibt gute und schlechte Tage. An den guten kann ich fast alles machen, was ich will. Leider lässt sich nie vorhersagen, wie meine Kräfte an einem bestimmten Tag ausfallen. Deshalb kann ich schlecht planen und mich verabreden. Das finde ich sehr schade.

Wie wirkt sich die MS auf Ihre Sexualität aus?

Zirnstein: Ich habe Sex noch genauso gerne wie vorher. Aber es gibt natürlich Dinge, die nicht mehr so gut gehen, weil ich nicht mehr so viel Kraft habe. Aber wenn man in einer Partnerschaft Vertrauen zueinander hat, kann man gemeinsam herausfinden, was möglich und schön ist. Für mich heißt das auch: Was ich nicht mehr kann oder was mir nicht guttut, mache ich eben nicht mehr.

Haben Sie von Anfang an die Unterstützung und die Information bekommen, die Sie gebraucht haben?

Zirnstein: Jein. Ich musste sie mir holen, unter anderem auch in der Ergotherapie.

Frau Stolte, ist die Ergotherapie ein geeigneter Rahmen für das Thema Sexualität?

Stolte: Unbedingt! Seine Sexualität zu leben ist ein menschliches Grundbedürfnis, das in der Therapie viel zu kurz kommt.

Wann haben Sie festgestellt, dass es da ein Defizit gibt?

Stolte: Ich hatte ein Schlüsselerlebnis in einem Praktikum: Da kam eine Klientin aus der Arbeitstherapie zu einem regelmäßigen Beratungsgespräch. Normalerweise wurde in diesem Rahmen über den Arbeitseinsatz gesprochen. Nun hatte diese Klientin, die an einer Depression litt, sich überwunden, ihren Partner mitzubringen. Sie wollte gern über ihre Partnerschaft reden, denn die beiden hatten in ihrem Sexualleben ein Problem, das auf die Depression der Frau zurückging: Sie hatte keine Lust mehr auf Sex, er aber schon.

Eine unerwartete Situation. Was ist passiert?

Stolte: Meine Anleiterin ist plötzlich unglaublich nervös geworden. Sie lenkte einfach ab und redete über etwas ganz anderes. Als die beiden weg waren, sagte sie nur: „Gott sei Dank habe ich das Thema umschifft – ich bin ja keine Sexualtherapeutin.“ Die Klientin habe ich danach nicht wiedergesehen.

Das hatte sich dann wohl erledigt für sie.

Stolte: Ja. Sie hat leider gelernt: Mein Anliegen ist nicht wichtig, ich werde nicht gehört. Ich fand die Situation sehr unangenehm und habe nicht verstanden, warum die Anleiterin keine Minute über Sex reden wollte. Sie hätte wenigstens an eine Beratungsstelle verweisen können. Da wurde mir klar, dass es Handlungsbedarf gibt.

Warum ist Sex so ein großes Tabu in der Therapie?

Stolte: Das hängt sicher damit zusammen, dass das Thema in Studium, Aus- und Weiterbildung einfach nicht vorkommt. Daher findet es auch den Weg in die Praxis nicht. Als Konsequenz aus dem Erlebnis im Praktikum hatte ich entschieden, meine Bachelorarbeit dem Thema zu widmen: Sex als bedeutungsvolle Betätigung im Kontext der Ergotherapie. Ich habe darin auch ein Modul für die Hochschule entwickelt, mit dem man das Thema in die Lehre integrieren könnte. Im Moment unterrichte ich aktiv zu diesem Feld, parallel entwickle ich professionsübergreifende Workshops für die Heilberufe, um das Thema zu enttabuisieren.

Bei welcher Gelegenheit kam bei Ihnen beiden das Thema Sexualität zur Sprache?

Stolte: Da ergab eins das andere. Ich hatte gerade meine Ausbildung abgeschlossen und erzählte von meiner Bachelorarbeit zum Thema „Sexuelle Einschränkungen bei Menschen mit neurologischen Krankheitsbildern“. Damit war das Thema im Raum. Irgendwann kam der Moment, in dem Frau Zirnstein über ein sexuelles Problem in der Beziehung frustriert war. Sie hat es angesprochen, und dann kamen wir sehr konkret ins Gespräch.

Zirnstein: Erst hat es mich irgendwie geschockt, als du von deiner Bachelorarbeit gesprochen hast. Später dachte ich: So was Interessantes hätte ich gern selbst geschrieben! (lacht)

Nicht jeder hat so eine Bachelorarbeit als Türöffner. Welche Situationen bieten sich noch an?

Stolte: Es gibt unterschiedliche Momente, die sich eignen. Wenn man mit jemandem schon länger arbeitet, redet man zum Beispiel auch mal über die Partnerschaft. Das kann ein Einstieg sein. Oder falls man über Nebenwirkungen von Medikamenten spricht: Da kann man nach sexuellen Störungen fragen. Auch im Anamnesegespräch zu Beginn der Therapie kann man sexuelle Probleme ansprechen.

Ist das eine gute Idee, ganz am Anfang der Therapie?

Stolte: Warum nicht? Eigentlich ist es doch absurd: Man spricht in der Anamnese über Krankheitsverlauf, Schlafqualität, Medikamente, Tagesablauf, Ernährung, Haushalt bis hin zum Toilettentransfer. Da sind durchaus auch delikate Themen dabei. Aber die Sexualität, die ja auch ein Teil des Lebens ist, kommt nicht vor. Dabei könnte man das am Anfang ganz leicht, quasi nebenbei, abfragen. Oder noch besser: nicht abfragen, sondern einfach anbieten, mal darüber zu sprechen, falls Interesse besteht.

Dann liegt der Ball beim Klienten.

Stolte: Ja, das macht es leichter. Ich weiß von einem Querschnittszentrum in Kanada, das die Frage nach der Sexualität im Erstgespräch fest verankert hat. Die Erfahrung dort ist: Die Klienten kommen manchmal erst viel später, um über ihre Sexualität zu sprechen. Anfangs sind sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo sie auch über ihre Partnerschaft nachdenken, und dann wissen sie, wen sie fragen können.

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Der Klient soll wissen: Hier ist der Ort, an dem ich auch über Einschränkungen meiner Sexualität sprechen kann. Abb.: K. Stolte

Wie ist Ihre Erfahrung: Schätzen Klienten das Angebot, über ihre Sexualität zu sprechen?

Stolte: Manche fühlen sich vielleicht unwohl, weil das Thema tabuisiert ist. Andere sind offen dafür. Man kann das vorher schwer abschätzen. Wichtig ist, dass ein Vertrauensverhältnis besteht und dass ein Angebot gemacht wird. Der Klient soll wissen: Hier ist der Ort, an dem ich auch über Einschränkungen meiner Sexualität reden kann.

Ich glaube, die wesentlichen Gründe, warum manche Therapeuten das Thema nicht ansprechen, sind Unsicherheit und Unwissenheit. Vielleicht auch die Sorge, man müsse sofort eine Lösung anbieten. Aber das spielt für Klienten erst einmal keine Rolle. In der Regel sind sie froh, überhaupt über ihre Probleme sprechen zu können. Eine Lösung kann man, wie bei anderen Therapieinhalten auch, gemeinsam erarbeiten.

Welche Lösungen können das sein?

Stolte: In vielen Fällen ist das Gespräch bereits die Lösung. Der Klient hat das Gefühl: Ich werde ernst genommen und bekomme die Chance, selbst eine Strategie zu entwickeln. Was ich als Therapeutin machen kann: Hilfsmittel anbieten – das ist mein ureigenes Metier. Warum nicht auch im sexuellen Bereich? Außerdem kann ich Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Literatur empfehlen und Flyer mitgeben. Wenn ich mich selbst nicht in der Lage fühle, über Sexualität zu sprechen, ist das völlig in Ordnung. Nicht jeder muss sich dazu befähigt fühlen. Aber jede Therapeutin sollte wissen, welche Hilfsmöglichkeiten und Anlaufstellen es gibt, damit der Klient in die Eigenverantwortung kommt und sich selbst kümmern kann.

Frau Zirnstein, was haben Sie aus dem Gespräch mit Frau Stolte mitgenommen?

Zirnstein: Ich war froh, dass sie mich nicht an eine andere Stelle verwiesen hat. Es ist mir schon so oft passiert, dass ich irgendwo anders hingeschickt werde, das frustriert mich. Für mein Problem hatte ich zum Zeitpunkt des Gesprächs schon eine vage Lösung gefunden. Es hat mir trotzdem geholfen, darüber zu sprechen: Frau Stolte hat mich bestärkt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Frau Stolte, Sie haben vorhin ein Querschnittzentrum in Kanada erwähnt. Was läuft dort besser als hier?

Stolte: Diese Klinik arbeitet systematisch nach dem Extended PLISSIT-Modell (MODELL). Das ist ein sexualtherapeutischer Ansatz, nach dem alle Professionen im Gesundheitswesen ein Basiswissen haben sollten, um Hilfe bei sexuellen Problemen anzubieten. Wem die inhaltlichen Kenntnisse fehlen, der verweist weiter. Das kann in der Praxis so aussehen, dass der Arzt, der die Anamnese macht, zunächst an einen Ergotherapeuten verweist, der sich auf Sexualität spezialisiert hat. Dieser wiederum könnte weiter überweisen an einen Sexualmediziner oder Sexualtherapeuten, falls nötig. Auf diese Weise fällt niemand durchs Raster, jeder bekommt von Anfang an eine Anlaufstelle.

Zirnstein: Mich hat nie jemand außer Frau Stolte auf meine Sexualität angesprochen. Ich glaube, alle waren froh, dass ich sie nicht gefragt habe. (lacht)

Haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt überlegt, Ihren Partner mit einzubeziehen in die Beratung bei Frau Stolte?

Zirnstein: Nein, das war nicht nötig, weil ich mich mit meinem Partner immer gut austauschen konnte. Aber wenn das schwierig gewesen wäre, hätte ich vielleicht Frau Stolte um Hilfe gebeten.

Stolte: Dass Klienten ihren Partner mitbringen, ist unüblich. Wenn das den Klienten weiterbringen könnte, würde ich es wie bei jeder anderen ergotherapeutischen Intervention vielleicht anbieten. Wobei ich sagen muss: Das wäre eine herausfordernde Situation.

Warum?

Stolte: Man muss genau schauen: Wo sind die Rollenabgrenzungen zu anderen therapeutischen Professionen? Übernehme ich jetzt die Rolle einer Paartherapeutin? Das möchte ich nicht. Mir geht es als Ergotherapeutin um die Betätigung. Wenn ich sehe, es gibt ein ergotherapeutisch lösbares Anliegen, dann könnte ich zum Beispiel die Hilfsmittelversorgung im Paargespräch anbieten. Das setzt voraus, dass ich mir über das Ziel des Gesprächs im Klaren bin: Was will der Klient konkret erreichen? Dann muss ich entscheiden: Gehört das noch zu meiner Berufsidentität? Falls nein, verweise ich auf einen Paartherapeuten oder eine Beratungsstelle wie Pro Familia.

Modell – Mit dem Extended PLISSIT Model den Einstieg in sexuelle Themen finden

  • Permission (Erlaubnis): Vor dem Einstieg in das Thema Sexualität holt sich die Therapeutin die Erlaubnis vom Klienten, darüber zu sprechen.

  • Limited Information (beschränkte Informationen) Gegebenenfalls klärt die Therapeutin den Klienten über das Problem auf.

  • Specific Suggestions (gezielte Vorschläge) Die Therapeutin berät beispielsweise über Hilfsmittel, versorgt den Klienten mit Informationsmaterial oder verweist ihn an Selbsthilfegruppen oder Fachberatungsstellen.

  • Intensive Therapy (intensive Therapie) War die Intervention bis hierhin noch nicht erfolgreich, kann die Therapeutin den Klienten an einen Spezialisten verweisen.

Was sollte man vermeiden, wenn man mit Klienten über Sexualität spricht?

Stolte: Auf jeden Fall sollte man die eigenen Werthaltungen zurückstellen. Man muss schon offen sein für die Sicht des Klienten. Es hilft auch nicht, ihm eine Lösung vorzugeben. Das funktioniert hier genauso wenig wie in anderen Bereichen. Stattdessen sollte man versuchen, gemeinsam herauszufinden, was er braucht oder erreichen möchte. Zu direkt ins Thema einzusteigen, ist sicher auch nicht hilfreich. Eine gewisse Feinfühligkeit gehört dazu.

Was tun Sie, wenn Sie merken, der Klient schämt sich im Gespräch?

Stolte: Ich zeige, dass ich das wahrnehme. Ich könnte dann sagen: „Das ist Ihnen jetzt vielleicht ein bisschen unangenehm, darüber zu sprechen. Aber das braucht es nicht zu sein, wir können ganz offen reden.“ Das Wichtigste ist, das Gefühl zu vermitteln: Dies hier ist ein sicherer Raum, in dem wir frei sprechen können.

Frau Zirnstein, was war es, das Ihnen geholfen hat, mit Frau Stolte über intime Dinge zu sprechen?

Zirnstein: Sie ist eine gute Zuhörerin, ich habe viel Vertrauen zu ihr. Sie sagt, was sie denkt. Und in der Therapie hat sie mir sehr oft geholfen, auch ganz praktisch – das war großartig.

Was möchten Sie noch sagen zu Sexualität und Multiple Sklerose?

Zirnstein: Es gibt bestimmt Leute, die denken, dass Sexualität bei Menschen mit MS keine Rolle mehr spielt. Aber das Leben geht ganz normal weiter – und Sexualität gehört einfach dazu. Deshalb sollte man nicht frustriert sein, wenn es schwierig wird, sondern sich Hilfe suchen.

Stolte: Das kann ich nur unterstreichen. An alle Therapeuten: Bitte einfach drüber sprechen! Man kann wirklich in den seltensten Fällen etwas falsch machen. Die Grundhaltung sollte sein: Lass uns gemeinsam eine Lösung finden. Der Gewinn ist so groß für Klienten!

Das Interview führte Lisa Raß.


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Der Klient soll wissen: Hier ist der Ort, an dem ich auch über Einschränkungen meiner Sexualität sprechen kann. Abb.: K. Stolte