Schlüsselwörter
Charcot-Fuß - Diabetische Neuropathie - Neurogene Inflammation - Knocheninnervation - Diabetes mellitus
Key words
Charcot foot - diabetic neuropathy - neurogenic inflammation - bone innervation - diabetes mellitus
Der Charcot-Fuß als Folge neuronaler Fehlregulation
Der Charcot-Fuß als Folge neuronaler Fehlregulation
Der Begriff neuropathische Osteo-/Arthropathie oder auch Charcot-Fuß
bezeichnet eine progressive, denervationsbedingte Inflammation und Demineralisation
typischerweise eines, manchmal aber auch beider Füße mit der Gefahr
schwerer Deformitäten bis hin zur Amputationsbedürftigkeit. Heute
stellt die diabetische Neuropathie die bekannteste und gesundheitspolitisch
wichtigste Ursache des Charcot-Fußes dar [1]
[2]. Etwa 2% aller Diabetiker entwickeln
einen solchen Charcot-Fuß [3]
[4]. Die Tatsache, dass dieser aber auch bei
erblichen Neuropathien wie z.B. der Transthyretin-assoziierten familiären
amyloidotischen Polyneuropathie oder bei der Fehlbildungs- oder traumatisch
bedingten Syringomyelie auftreten kann, leitet das Augenmerk auf die
vielfältige Genese der Nervenschädigung.
Die Geschichte der Pathophysiologie zur Entstehung des Charcot-Fußes ist
komplex. Schon im 18. Jahrhundert berichtete William Musgrave bereits über
Nerven- und Gelenkschäden im Zusammenhang mit venerischen Erkrankungen [5]. Im 19. Jahrhundert beobachteten Mitchell sen.
und jun. die Ausbildung schwerer sensomotorischer Defizite einhergehend mit
Fußdeformitäten bei Patienten mit spinaler Tuberkulose und anderen
Wirbelsäulenverletzungen [2]. Charcot
selbst beschrieb die fortan als Charcot-Fuß geltende Osteoarthropathie bei
Patienten mit Tabes dorsalis. Hier bestanden neben sensiblen Defiziten auch
fortgeschrittene Paresen mit assoziierter Fehlstellung und
Gelenkschäden.
Charakteristisch für den heutigen Charcot-Fuß ist im
Frühstadium die nicht-infektiöse Schwellung mit
Überwärmung. Im Weiteren kommt es zu Demineralisierung, gefolgt von
Knochendestruktionen und bisweilen grotesker Deformierung, die in ca. 75%
unilateral auftritt [6] und typischerweise in
einem selbstlimitierenden Prozess in einer Defektheilung zum Stillstand kommt [4]. Die bisweilen erheblichen Fehlstellungen
können zu neuropathischen Ulzera führen, die zum Teil schwere
Infektionen hervorrufen und letztlich Amputationen erforderlich machen
können ([Abb. 1a, b, c], [2]
[3]).
Abb. 1 a–c Beispiele für verschiedene Stadien
von Charcot-Füßen: a 59-jähriger Patient mit
seit > 20 Jahren bestehendem Diabetes mellitus Typ 2 b
Patient mit Hohlfuß und spontaner Weichteilschwellung c Ulkus
am Außenknöchel eines bereits Vorfußamputierten
Charcot-Fuß-Patienten mit langjährigem Diabetes
mellitus.
Abb. 2 Die MRT des Patienten aus [Abb.
1b] zeigt in der T2-Wichtung ein intraossäres Ödem
im distalen Anteil des Os naviculare, das erste Zeichen der neurogenen
Osteoklastenstimulation. In Verbindung damit hat sich ein Ödem in
den Weichteilen des Fußrückens ausgebildet. Die neurogenen
Knochenödeme können – wie hier – in der
Ausdehnung beschränkt, aber auch über mehrere Knochen
ausgedehnt sein. Die Ödeme bilden sich unter Entlastung nach
2–3 Monaten zurück. Wenn der Fuß belastet wird,
erfolgt eine Stimulation der Osteoklastentätigkeit mit
entsprechendem Knochenabbau.
Abb. 3 Koronarer CT-Schnitt durch das Sprunggelenk eines
83-jährigen Patienten, bei dem der Fuß beim Gehen auf ebenem
Boden unvermittelt nachgegeben hatte. Der Kalkaneus ist bis auf das
Sustentaculum tali komplett nach lateral luxiert. Der Knochen ist deutlich
hypomineralisiert, wahrscheinlich altersbedingt. Man erkennt multiple
Lyseherde als Folge der neurogenen Ostoklastenstimulation. Am kranialen
Kalkaneus sind die Lyseherde konfluiert und haben die
Knochenoberfläche bis auf einen kleinen Rest an der Medialseite
weitgehend beseitigt. Das Ausmaß der neurogenen Porosierung kann
sehr unterschiedlich sein. Anders als in diesem Fall kann es sich auf eine
begrenzte Region beschränken.
Es ist bislang nicht geklärt, wodurch der „Charcot-Prozess“
ausgelöst wird. Unbestritten ist jedoch: Am Anfang der pathophysiologischen
Ereigniskette steht die Nervenschädigung, oder: kein Charcot-Fuß
ohne Neuropathie.
Die diabetische Polyneuropathie – ein Überblick
Die diabetische Polyneuropathie – ein Überblick
Der Diabetes mellitus ist die häufigste Ursache für erworbene
Neuropathien in der westlichen Welt. Man geht davon aus, dass ca. die Hälfte
aller Menschen mit einem Diabetes mellitus eine klinisch manifeste Neuropathie
entwickelt [7], wobei frühe Stadien der
Erkrankung oftmals klinisch unbemerkt bzw. nur elektrophysiologisch nachweisbar
verlaufen, sodass die Dunkelziffer wesentlich höher anzusiedeln sein
dürfte [8]
[9].
Die Ursachen der diabetischen Neuropathie sind bis heute nicht in allen Details
verstanden, jedoch finden sich Hinweise, dass es sich nicht um eine einzige
Schadensursache handelt, sondern dass eine Vielzahl von Faktoren zu deren Entstehung
beitragen. So finden sich multiple destabilisierte Stoffwechselwege [10], welche in ihrer Summe zu Zellschwellung,
Mitochondriendysfunktion, Endoplasmatisches Retikulum (ER)-Stress, Inflammation und
letztlich Apoptose führen.
Im Rahmen einer hyperglykämen Stoffwechsellage kommt es zur Akkumulation von
Glukose in Nerven-, Nieren- und Retinazellen, wo unter Verbrauch von NADPH durch
Reduktion der Zucker Sorbitol entsteht. Als zellschädigend wird einerseits
die osmotische Wirkung des in der Zelle akkumulierenden Sorbitols diskutiert, zudem
aber auch die fehlende Reduktionskapazität durch verminderte
Verfügbarkeit von NADPH. Durch mitochondriale Dysfunktion und Bildung von
Advanced-Glycation-End-Products (AGE) entsteht oxidativer Stress, sodass es zu
DNA-Schäden und in der Konsequenz zur Zellnekrose sowie Zytokin-vermittelt
(z.B. TNF-α, IL-6) zur Inflammation kommt. Der Transkriptionsfaktor
NFκB wird über den Phospholipase C Pathway exprimiert und in den
Zellkern verlagert, was inflammatorische Prozesse verstärkt [10]. Die Überlastung des endoplasmatischen
Retikulums („ER-Stress”) durch das Überangebot ungefalteter
Proteine oder Störungen der Kalziumhomöostase kann ihrerseits zu
pro-inflammatorischen Kaskaden führen [11]. Das Überangebot der glukoneogenen Aminosäure Alanin
verleitet die Serin-Palmitoyl-CoA-Transferase, das geschwindigkeitsbestimmende Enzym
der Sphingolipidsynthese, zum Substratwechsel, sodass durch vermehrte
Verstoffwechselung von Alanin statt Serin die neurotoxischen Deoxy-Sphingolipide
entstehen [9]
[12].
Die diabetische Neuropathie kann sich fokal oder generalisiert präsentieren,
dabei überwiegend die kleinen intraepidermalen C- und
Aδ-Nervenfasern betreffen oder zur Ausprägung einer
längenabhängigen Polyneuropathie führen. Die
„typische“ und gleichzeitig am häufigsten anzutreffende
Subform der diabetischen Neuropathie ist die distal symmetrische und somit
längenabhängige diabetische Polyneuropathie, die etwa dreiviertel
aller Subformen ausmacht [13]. Sensible Defizite,
beginnend an den Füßen, stehen im Vordergrund, wobei das
Berührungs- und Temperaturempfinden sowie die Spitz-Stumpf-Diskrimination
besonders früh, im Verlauf aber auch die Pallästhesie und der
Lagesinn betroffen sein können. Neuropathische Schmerzen, die v. a.
als brennend oder stechend beschrieben werden, finden sich bei 25% der
Patienten [14]. Demgegenüber bestehen
Paresen bei 1–6% aller Diabetiker, wobei diese wiederum
v. a. die distale Muskulatur der Füße und Unterschenkel
betreffen und in Kombination mit der afferenten sensiblen Störung die
Sturzneigung dieser Patienten erhöhen [15]. Im späten Verlauf können Fußfehlstellungen und
Störungen der Hauttrophik auftreten.
Eine weitere klinische Manifestationsform stellt die autonome diabetische Neuropathie
dar, die selten isoliert, sondern wesentlich häufiger kombiniert mit anderen
diabetischen Neuropathieformen auftritt. Das sympathische und/oder
parasympathische System kann dabei betroffen sein, was durch gastrointestinale
Passagestörungen, neurogene Blasenentleerungsstörungen, Erektions-
und Ejakulationsstörungen, orthostatische Hypotonie, Ruhetachykardie,
Störungen des Schwitzens sowie der Pupillomotorik manifest wird [16]. An der Haut führt die autonome
Neuropathie zur Weitstellung der präkapillären
Widerstandsgefäße mit der Folge einer Hyperämie.
Andererseits bedingt diese eine Reduktion der Schweiß- und Talgsekretion,
wodurch die Haut trocken und dadurch verletzlich wird.
Ebenfalls meist schmerzhafte Plexusneuropathien des Plexus lumbo-sacralis
können vorkommen und werden dann als diabetische Amyotrophie
(Bruns-Garland-Syndrom) bezeichnet [17].
Mononeuritiden können isoliert einen Hirn- (meist N. III, IV oder VI) oder
Extremitätennerven oder einen thorakalen Nerven (Pseudohernie)
betreffen.
Klinisches Bild der Diabetischen Neuropathie
Das charakteristische Bild stellen strumpfförmige
Sensibilitätsstörungen, eine gestörte Hauttrophik sowie
im späteren Verlauf auch Paresen, Fußfehlstellungen und die
inneren Organe betreffende autonome Störungen dar. Die
Empfindungsstörungen von Schmerz und Temperatur und die autonomen
Beschwerden werden durch Schädigung der kleinen unmyelinisierten C- und
Aδ-Fasern verursacht, welche als besonders vulnerabel gelten und bei der
diabetischen Neuropathie bereits in frühen Stadien betroffen sind [18].
Die diabetische Neuropathie kann verschiedene Verlaufsformen nehmen und ist somit
klinisch oft nicht eindeutig von anderen, nicht-diabetischen Neuropathien zu
unterscheiden. Bei der Untersuchung der (diabetischen) Polyneuropathie werden
nach der klinischen Symptomatik drei funktionell wichtige Aspekte
unterschieden:
1. Die sensible Neuropathie kann man orientierend durch Streichen mit dem Finger
oder einem Wattebausch überprüfen. Es liegt nicht immer ein
Sensibilitätsausfall vor, sondern häufig lediglich eine
Sensibilitätsminderung. Ebenso gemindert kann die Kalt-Warm-,
Spitz-Stumpf-, Positions- sowie die Vibrationsdiskrimination sein. Gleichzeitig
treten häufig sensible Plus-Symptome in Form von kribbelnden
(Parästhesien) und stechenden (Dysästhesien) Missempfindungen,
eine Allodynie oder neuropathische Schmerzen auf, welche anamnestisch erfragt
werden müssen.
2. Die motorische Neuropathie führt zu einer Schwächung und
später zu einem Ausfall der Muskeltätigkeit, die meist von
distal nach proximal fortschreitet. Die Schädigung beginnt an den Mm.
interossei und den Mm. lumbricales [19], deren
Funktion in der Beugung des Grund- und Streckung des Mittelgelenks besteht. Bei
Ausfall ergibt sich eine Hammer-oder Krallenstellung der Zehen, da die Funktion
der langen Zehenbeuger noch erhalten ist.
Im Verlauf können eine Fuß- und Zehenheberschwäche mit
Steppergang und Sturzneigung und seltener auch proximale Paresen auftreten. Bei
Befall der Hände führt die motorische Neuropathie oft zu
Feinmotorikstörungen.
3. Die autonome Neuropathie hat Auswirkungen auf die inneren Organe wie
Magen-Darm-, Herz-Kreislauf- und Urogenitaltrakt. An der Haut führt sie
zur Weitstellung der präkapillären
Widerstandsgefäße mit der Folge einer Hyperämie.
Andererseits bedingt diese eine Reduktion der Schweiß- und
Talgsekretion, wodurch die Haut trocken und dadurch verletzlich wird.
Der Knochenmetabolismus
Der Knochenstoffwechsel wird durch Zytokine beeinflusst bzw. gesteuert. Durch
Aktivierung des Rezeptors RANK (Receptor Activator of NF-κB) wird der
Transkriptionsfaktor NFκB (nuclear factor
‚kappa-light-chain-enhancer‘ of activated B-cells) in den
Zellkern unreifer Osteoklastenprogenitoren verlagert, was die Differenzierung zu
reifen Osteoklasten bewirkt. Als Agonist zu RANK wirkt der RANK-Ligand (RANK-L),
während Osteoprotegerin (OPG) als Antagonist fungiert. Bei Patienten mit
Charcot-Fuß ist das Verhältnis dieser beiden Faktoren, die
RANKL/OPG Ratio, erhöht [20].
Als Ursache des Ungleichgewichtes zugunsten des Knochenabbaus wird das
pro-inflammatorische Milieu und insbesondere die Überexpression von
TNF-α angesehen [4]
[21]
[22]. Monozyten, die Vorstufen der
Osteoklasten, erwiesen sich bei Patienten mit Charcot-Prozess als
Apoptose-resistenter [22], was eine
für die Akutphase spezifische Veränderung darstellt. Genetische
Assoziationsstudien hypothetisieren zudem eine individuelle
Suszeptibilität im Zusammenhang mit bestimmten Polymorphismen in den
Genen OPG und RANKL [23].
Periphere neuronale Regulation
Periphere neuronale Regulation
Die Innervation des Knochens findet sowohl durch myelinisierte als auch durch kleine
unmyelinisierte Nervenfasern statt [24]
[25]
[26]. Mittels Histofluoreszenz konnten sowohl
gefäßnah als auch in unmittelbarem Knochenkontakt Noradrenalin und
vasoaktives intestinales Peptid (VIP) produzierende sympathische Nervenfasern
dargestellt werden [27]
[28]. Nervenfasern sind sowohl im Periost, im
Knochenkortex sowie im -mark vorhanden, in besonderer Dichte allerdings nah der
osteochondralen Junktion im Bereich der Wachstumsfuge [29]. Nach Frakturen ist eine besonders hohe Nervenfaserdichte dort
auszumachen, wo viel Knochenneubildung stattfindet [30], sodass die neuronale Regulation des Knochenmetabolismus nicht nur
beim Knochenwachstum, sondern auch im Normalzustand zur Aufrechterhaltung des steady
state und bei der Frakturheilung eine Rolle spielt. Nicht-synaptisch sezernierte
Transmitter sind u.a. CGRP (calcitonin gene related peptide), Substanz P und VIP
[26].
CGRP entsteht durch alternatives Splicing des Calcitonin-Gens. Wie auch Calcitonin
selbst ist es durch Inhibition der Knochenresorption an der Kalziumregulation
beteiligt, exprimiert wird CGRP allerdings nicht in den follikulären
Schilddrüsenzellen, sondern in den knochennahen Nervenfasern. Capsaicin
führt zur Destruktion dieser Zellen, was in einer verminderten Knochendichte
resultiert [29]
[30]. Darüber hinaus ist CGRP
dafür bekannt, überschießende zytokinvermittelte
Inflammationsreaktionen zu begrenzen, indem es bspw. den TNF-α Spiegel senkt
[31]
[32].
Substanz P wird in Dorsalganglien produziert und durch Axonreflexe in terminalen
Nervenendigungen freigesetzt. Als typischer Transmitter der neurogenen Inflammation
ist es mit Vasodilatation und -extravasation, Glattmuskelkontraktion,
Schmerzmodulation und Angiogenese assoziiert. Osteoklasten werden zur Ausreifung
angeregt, der Effekt von RANKL potenziert und das
RANKL/OPG-Verhältnis zugunsten von RANKL verschoben [29]
[33].
VIP reduziert die RANKL/OPG-Ratio durch Erhöhung zirkulierenden OPGs
und hemmt die Sekretion pro-inflammatorischer Zytokine. Es bewirkt eine
Osteoblastenaktivierung, erkennbar an der Expression von alkalischer Phosphatase,
welche für den Knochenanbau zuständig ist, und führt zu
einer gesteigerten Kalziumakkumulation in Knochennoduli und einer verminderten
Osteoklastenformation [29].
Störungen der Knocheninnervation können also zu einem Ungleichgewicht
von Neurotransmittern führen. Ein Mangel an CGRP und VIP verschiebt das
Verhältnis von Knochenan- und -abbau, von OPG und RANKL zugunsten des
Knochenabbaus. Zudem inhibiert CGRP die Produktion von proinflammatorischen
Zytokinen wie TNF-α, was ebenfalls direkten Einfluss auf
Osteoklastenprogenitoren hat. Ein lokaler CGRP Mangel könnte ein
Auslöser (Trigger) für die Entwicklung des Charcot-Fußes
nach heutigem Verständnis sein mit der Gefahr von Frakturierung,
Fehlstellung, Ulzeration und Infektion. Letztere Komplikationen stellen selbst
inflammatorische Reize dar, die den Prozess der Osteolyse verstärken und in
Gang halten können.
Zentrale Regulationsmechanismen
Zentrale Regulationsmechanismen
Auch das zentrale Nervensystem übt Einfluss auf den Knochenstoffwechsel aus.
Serotonerge Neurone der Raphe-Kerne aktivieren den ventromedialen Hypothalamus,
welcher präganglionäre sympathische Neurone hemmt. Durch Reduktion
des Sympathikotonus wird der Knochenaufbau gegenüber der -resorption
gefördert. Leptin beeinflusst diesen Pathway negativ, wobei der genaue
Mechanismus noch unverstanden ist. Auch bei der Appetitregulation sind Serotonin und
Leptin Gegenspieler; und tatsächlich haben leptindefiziente Mäuse
eine erhöhte Knochendichte [34]. Das
anabol wirkende Serotonin wird zudem von Knochenzellen selbst produziert,
gleichzeitig sind Serotoninrezeptoren im Knochen exprimiert, sodass Autoregulation
als zusätzlicher serotonerger Mechanismus diskutiert wird [34].
Nervenschädigung und neurogene Inflammation – die Brücke zum
Knochenstoffwechsel
Unter der neurogenen, nicht-infektiösen Inflammation versteht man die
antidrome Freisetzung entzündungsfördernder Faktoren aus afferenten
Nervenendigungen [35].
Entgegen ihrer eigentlichen Signalleitungsrichtung kommunizieren nozizeptive C- und
Aδ- Fasern nicht-synaptisch mit Entzündungszellen, welche systemisch
wirksame pro-inflammatorische Faktoren wie IL-2 und TNF-α sezernieren [36]. Die wichtigsten Transmitter neben Glutamat
sind Neuropeptide wie Substanz P, VIP, CGRP, Hypophysen-Adenylatcyklase
stimulierendes Peptid (PACAP) und Neuropeptid Y (NPY) [37].
Als nozizeptive Sensoren der C- und Aδ- Fasern gelten unter anderem die
Transient Receptor Potenzial (TRP) Kanäle, zu deren aktivierenden und
sensitivierenden Faktoren Hitze oder Kälte, Protonen, reaktive
Sauerstoffspezies, Stickstoffmonoxid sowie intrazelluläre Modulationswege
zählen [38]. TRPV1-Kanäle aus
C-Fasern sind gleichzeitig auch verantwortlich für die Peak-Vasodilatation
nach Ischämie oder Stauung [39].
Die C- und Aδ- Fasern sind im Rahmen der diabetischen Neuropathie
früh und häufig geschädigt [18], was ein Ungleichgewicht an CGRP, VIP, Substanz P und weiteren
Transmittern als Voraussetzung zum Erwerb des neuropathischen Fußsyndroms
erklärt. Demnach stellt die Fehlregulation nozizeptiver Nervenfasern auf
molekularer Ebene eine potentielle pathophysiologische Brücke zwischen
Diabetes mellitus und neurogener Inflammation dar.
Andere Knochenerkrankungen als Folge neuronaler Fehlregulation
Das neuropathische Fußsyndrom ist nicht spezifisch für die
diabetische Neuropathie. Die abhängig von der Ätiologie
ungleiche Übernahme (sekundär) prophylaktischer
Maßnahmen wie Fußpflege für Diabetiker durch die
Kostenträger des Gesundheitssystems erschien schon in der Vergangenheit
zweifelhaft und wurde folgerichtig ganz aktuell (Stand 03/2020) nach
einer Gesetzesänderung auch auf andere Neuropathieformen ausgeweitet.
Andere Neuropathien wie z.B. die hereditäre sensible und autonome
Neuropathie (HSAN) oder die familiäre amyloidotische Polyneuropathie
(FAP) können ebenfalls zu schmerzloser Überwärmung,
Schwellung und Rötung mit Knochenabbau und Deformierung der
Füße führen [40]
[41]. Die verminderte Schmerzwahrnehmung ist
für alle diese 3 Erkrankungen charakteristisch.
Mit starken neuropathischen Schmerzen namensgebend assoziiert ist hingegen das
chronische regionale Schmerzsyndrom (CRPS) [42]. Als Auslöser des CRPS wird charakteristischerweise eine
Verletzung bzw. Operation der betroffenen Extremität beschrieben [43] Unabhängig davon, ob große
Nervenfasern nachweislich geschädigt waren, konnte eine verminderte
intraepidermale Dichte schmerzvermittelnder C- und Aδ-Fasern an vom CRPS
betroffenen Extremitäten hautbioptisch gezeigt werden [44]
[45]. Es entsteht auch hier eine neurogene
nicht-infektiöse Inflammation, vermittelt z.B. durch die Zytokine
TNF-α und IL-1β [46]
[47]. Pathophysiologisch bestehen
darüber hinaus parallele Erklärungsansätze, die
ebenfalls ein Ungleichgewicht des RANK-RANKL-OPG-NFκB-Systems
hypothetisieren [48]
[49]. Die Gemeinsamkeit zwischen CRPS und
Charcot-Fuß liegt somit in der nerval bedingten Inflammation und Abbau
von Knochensubstanz. Im Unterschied zum Charcot-Fuß kann die
Nervenschädigung beim CRPS reversibel sein, oft ist der Verlauf
äußerst schmerzhaft, eine komplette Knochendestruktion ist beim
CRPS nicht typisch, und auch der Weichteilschaden unterscheidet sich meist
deutlich.
Ausgang der Pathogenese zur Entwicklung des Charcot-Fußes ist die
neuropathiebedingte Osteopathie. Anders als bei den von Musgrave, Mitchell
und Charcot beschriebenen Patienten steht beim heutigen Charcot-Fuß
weniger die paresebedingte Fehlstellung als das kombinierte sensible und
autonome Defizit im Vordergrund. Der Knochenmetabolismus wird neuronal
reguliert. Wichtige Botenstoffe, die sich auf die Osteoblasten- und
Osteoklastenreifung- und -aktivität modulierend auswirken sind CGRP,
VIP und Substanz P, die aus knochennah gelegenen C- und Aδ-Fasern
sezerniert werden. Wenn diese Fasern (nicht nur) bei der diabetischen
Neuropathie geschädigt werden, kann es zu einem unkontrollierten,
überschießenden Knochenabbau kommen. Die initialen
Skelettveränderungen gehen somit auf eine nervale Fehlregulation des
Knochenstoffwechsels zurück, indem vorübergehend die
knochenabbauenden Prozesse den Knochenanbau weit überwiegen. Im
weiteren Verlauf können sich Frakturen, Fehlstellungen, Ulzerationen
und Infektionen entwickeln. Für die Therapie und die Prognose ist es
bei einem Neuropathiepatienten wichtig, bei jeder schmerzlosen Schwellung
auch ohne vorausgegangenes Trauma und bei negativem Röntgenbefund
v.a. an die neuropathische Osteopathie zu denken. Die
Überaktivierung der Osteoklasten klingt nach acht bis 12 Wochen
wieder ab, sodass die angemessene Therapie in der Entlastung für den
entsprechenden Zeitraum besteht.