Krisenzeiten wie bei der CoVID-19-Pandemie verschärfen die Situation des Pflegenotstands
zusätzlich. (Symbolbild/Quelle: Alexander Fischer/Thieme Gruppe)
Das Problembewusstsein hinsichtlich eines bestehenden Pflegenotstands in Deutschland
hatte sich auf der politischen Ebene bereits vor der CoViD-19-Pandemie abgezeichnet.
Euphemistisch ausgedrückt, könnte man „zum Glück“ sagen, aber faktisch lag das Kind
zu dem Zeitpunkt schon im Brunnen, bedingt durch politische Versäumnisse in der Vergangenheit.
Eines der Versäumnisse im Bereich der stationären Krankenbehandlung war zum Beispiel,
dass die Pflegeleistungen größtenteils im DRG-Abrechnungssystem bis 2020 pekuniär
nicht abgebildet wurden. Ab 2020 ändert sich hier das DRG-Abrechnungssystem mit der
Einführung des Pflegeerlöskatalogs.
Schieflage: mehr Arbeit, weniger Personal
Schieflage: mehr Arbeit, weniger Personal
Spätestens seit 2003 und mit Einführung der German Diagnosis Related Groups (G-DRG)
als Abrechnungssystematik für die stationäre Krankenbehandlung entwickelte sich die
Vollzeit-Äquivalenzzahl der beschäftigten Pflegefachpersonen in Krankenhäusern im
Verhältnis zur Arbeitsverdichtung (durch Fallzahlsteigerung und Verweildauerverkürzungen)
negativ. Die Ungleichverteilung des klinischen Personals ([
Abb. 1
]) führte somit in der Praxis zur Schieflage. Die Arbeitstaktung erhöhte sich somit
immens für Pflegefachpersonen, zum Teil über die Belastungsgrenzen hinaus, worunter
natürlich die pflegerische Versorgungsqualität am Patienten nachvollziehbar leidet.
Abb. 1 Entwicklung der Vollkräfte nach Dienstarten im Zeitverlauf zwischen 2000 und 2015
in Prozent. [1]
Die Korrelation zwischen dem Pflegepersonaleinsatz in Krankenhäusern und patientenbezogenen
Outcomes ist international, insbesondere in angelsächsischen Ländern, bereits bemerkenswert
untersucht worden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bestätigen die Vorannahme,
dass die Anzahl und der formelle Qualifikationsgrad des eingesetzten Pflegepersonals
mit den Behandlungsergebnissen korrelieren [1]
[7]. Die Konsequenz daraus ist, dass eine personelle Unterausstattung mit Pflegefachpersonen
zur Erhöhung der unerwünschten Ereignisse bei den zu versorgenden Patienten führt.
„Dieser Zusammenhang konnte gezielt für eine Vielzahl pflegesensitiver Outcomes gezeigt
werden (z. B. erworbene Wundinfektionen, Lungenentzündungen oder Sepsis, Medikationsfehler).“ [1]
Pandemiekrise verschärft die Situation „Pflegenotstand“
Pandemiekrise verschärft die Situation „Pflegenotstand“
Das Coronavirus (SARS-CoV-2) öffnet quasi die Büchse der Pandora im Hinblick auf einen
generellen Notstand zu Krisenzeiten im Gesundheitssystem, aber im Speziellen legt
die Pandemie nun den Finger in die seit Längerem bestehende Wunde „Pflegenotstand“.
Es wird aktuell diskutiert, ob man die bestehenden rund 28.000 Intensivbetten in Deutschland
in Anbetracht der bevorstehenden Krise aufstocken müsste bzw. könnte. Die wesentliche
Frage ist nur, woher soll kurzfristig das dafür notwendige Intensivpflegefachpersonal
kommen, das die Intensivpflegebedürftigen dann auch adäquat betreuen könnte? Isfort
hatte bereits 2012 darauf hingewiesen, dass der Patientenschutz Priorität haben muss
und dass eine Personalfachquote auf Intensivstationen notwendig ist, insbesondere
wenn Intensivpflegefachpersonen beatmungspflichtige Patienten versorgen müssen. Isfort
stellte damals schon fest: „Empfehlungen von Experten werden nicht ernst genommen, weil bei einer Nichteinhaltung
bislang den Verantwortlichen keine Konsequenzen drohen. Es gibt schlichtweg keine
Kontrollinstanz oder aber eine verbindliche Grundlage einer Mindestausstattung. Es
reicht offensichtlich nicht, an den ‚Markt‘ zu appellieren und auf ‚Selbstheilung‘
zu hoffen.“ [4] Diese jüngst eingeführte Kontrollinstanz in Form der Pflegepersonaluntergrenzenverordnung
– PpUGV – wurde in dieser Krisenzeit jedoch vom Gesundheitsminister ausgesetzt.
Ähnliche Probleme beschäftigten auch den ambulanten und stationären Langzeitpflegesektor
schon weit vor der Pandemie-Krise. Fachkräftemangel und finanziell betrachtet „unattraktive
Beschäftigungsanreize“ müssen lange vor der Krise gelöst und Arbeitsbedingungen wieder
hin zu einem vertretbaren Maße verbessert werden, um dem frühen Ausstieg aus dem Pflegeberuf
entgegenzuwirken [6]. Diese Verpflichtung ist nicht nur aus pflegeprofessioneller Sicht geboten, sondern
auch aus moralischer Pflicht gegenüber jedem Einzelnen in der Gesellschaft, wenn klar
ist, dass Pflegenotstand gleich auch schlechte pflegerische Versorgung eines hilfebedürftigen
Menschen bedeutet. Spätestens zu Krisenzeiten wird auch dem Letzten klar, Pflege ist
innerhalb einer modernen Gesellschaft systemrelevant.
Maßnahmen zur Entlastung des Pflege- und Versorgungssystems
Maßnahmen zur Entlastung des Pflege- und Versorgungssystems
Erste Maßnahmen wurden bereits vor der Pandemie ergriffen in Form von Gesetzesreformen
wie etwa dem Pflegeberufegesetz oder der Pflegepersonaluntergrenzenverordnung sowie
auch in Form der sogenannten „Konzertierten Aktionen in der Pflege“ zur Verbesserung
der Bedingungen im Pflegesektor. Das ist ein Maßnahmenkatalog, der insbesondere den
Arbeitsalltag und die Arbeitsbedingungen von professionell Pflegenden optimieren,
die Ausbildung der Pflegefachpersonen stärken sowie die Wertschätzung und Bezahlung
verbessern soll [2]. Welche Erfolge diese Maßnahmen im Einzelnen zur Verbesserung eines Pflegenotstands
bringen werden, muss sich in Zukunft noch zeigen. Angesichts der aktuellen Krisensituation
im deutschen Gesundheitssystem sind aktuell systemische Bestrebungen seitens der Politik
zu Entlastung des Gesundheitssystems zu verzeichnen, wie beispielsweise der Erlass
eines Gesetzes zum „Ausgleich COVID-19 bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser und weiterer
Gesundheitseinrichtungen“. An dieser Stelle ein kurzer Hinweis: Die Pflegepersonaluntergrenzenverordnung für
die pflegesensitiven Versorgungsbereiche, in denen besonders vulnerable Patientenkreise
versorgt werden, sind aufgrund der Krisensituation derzeit ausgesetzt. Es ist sehr
zu empfehlen, die PpUGV nach der Krise wieder zu reaktivieren.
Weiterer Anstrengungen bedarf es aber auch auf anderen Ebenen: beispielsweise bei
der ausreichenden Versorgung mit notwendiger und geeigneter persönlicher Schutzausrüstung
des pflegerischen und medizinischen Personals sowie mit Desinfektionsmitteln, bei
Trainingsmaßnahmen für den Umgang mit Corona-Infizierten etc. Keine Frage, zu Krisenzeiten
zählen andere Gesetzmäßigkeiten, wenn es darum geht, die pflegerische und medizinische
Grundversorgung zu gewährleisten und somit auch das Wohl der Gesellschaft sicherzustellen.
Dennoch ist es auch zielführend, wenn man die Ablösung, Pausen- und Ruhezeiten sowie
genügend Erholungszeit zwischen den Schichten sicherstellen könnte, um die Arbeitsbelastung
der Pflegefachpersonen auch in Krisenzeiten so gut es geht niedrig zu halten, damit
das Versorgungssystem lange genug leistungsfähig bleibt. Hierzu wird sowohl von zentraler,
aber auch dezentraler Stelle versucht, die Reserve der Pflegefachpersonen zu aktivieren,
die die formelle Qualifikation vorweisen, aber aus dem aktiven Dienst (aus unterschiedlichsten
Gründen) im Pflegesystem ausgeschieden sind. In Vorbereitung auf die womöglich bevorstehende
Krisensituation können sich bereits aus dem Pflegesystem Ausgestiegene mit einem entsprechenden
Hintergrund einer formellen Pflegequalifikation freiwillig auf www.pflegereserve.de/#/login registrieren lassen. Analoge Aktivitäten gibt es für Mediziner und Medizinstudenten,
entweder dezentral auf regionaler Ebene in den einzelnen Einrichtungen oder zentral
gesteuert über beispielsweise Matching-Plattformen wie www.match4healthcare.de, die freiwillige Helfer und hilfesuchende Einrichtungen im Gesundheitswesen vernetzen.
Soziales Engagement im ambulanten Sektor
Soziales Engagement im ambulanten Sektor
Die größten Pflegedienste der Nation sind immer noch im ambulanten Sektor die Familiensysteme,
und komplementär zu diesem Bereich hat sich in den letzten Jahren eine weitere Versorgungsalternative
entwickelt. Und zwar wird die Laienpflege durch Familiensysteme komplementär unterstützt
oder teilweise kompensiert durch Laienpflege in Form von osteuropäischer Haushaltshilfen,
die Pflegebedürftige in ihrem Alltag unterstützen. Aktuell stellt sich in diesem Bereich
ein pandemiebedingtes Problem dar, da die Gefahr besteht, dass die osteuropäischen
Pflegehelfer zu Krisenzeiten hierzulande fehlen werden und dadurch das Versorgungssystem
der Pflegebedürftigen im ambulanten Sektor destabilisiert wird. Dieser Problematik
muss kurzfristig entgegengewirkt werden. Regional sind Maßnahmen zu verzeichnen, wie
sie die Stadt Bochum in Kooperation mit der hsg Bochum (Hochschule für Gesundheit)
derzeit plant und durchführt, um den Pflegebedürftigen insbesondere im ambulanten
und häuslichen Sektor zu helfen. Es werden strukturierte Fortbildungsangebote vorbereitet,
in denen Freiwillige durch wissenschaftliche Mitarbeiter des Departments für Pflegewissenschaft
Bochum niedrigschwellig geschult werden sollen, um ein Mindestmaß an Fremdpflegekompetenz
zu erlangen, um im Worst-Case-Szenario Pflegebedürftigen helfen zu können. Man kann
das geplante Schulungsformat ein Stück weit mit den Pflegekursen nach § 45 SGB XI
vergleichen, die in normalen Zeiten eine Leistung der Pflegeversicherungen darstellen.
In diesen Pflegekursen sollen auch Angehörige und sonstige an einer ehrenamtlichen
Pflegetätigkeit interessierte Personen vergleichsweise geschult werden, „um soziales Engagement im Bereich der Pflege zu fördern und zu stärken, Pflege und
Betreuung zu erleichtern und zu verbessern“. Ziel dieser Kurse als auch des Fortbildungsangebots der hsg für Laienpflegende ist
es, Fertigkeiten zur Unterstützung von Pflegebedürftigen zu vermitteln.
Konsequenzen aus der Krise ziehen: das Pflegesystem verbessern!
Konsequenzen aus der Krise ziehen: das Pflegesystem verbessern!
Bereits vor der Pandemie-Krise mussten in der stationären Krankenbehandlung Intensivbetten
stillgelegt und geplante Operationen verschoben werden, weil selbst im gewohnten Klinikbetrieb
die professionell Pflegenden fehlten. Die Ergebnisse der Hans-Böckler-Stiftungsstudie
aus dem Jahr 2019 besagen, dass in Deutschland eine Pflegefachperson durchschnittlich
13 Patienten pro Schicht versorgt. In der benachbarten Schweiz liegt die Betreuungsrelationszahl
Pflegefachperson zu Patient bei acht, in den Niederlanden liegt sie bei rund sieben.
Fakt ist auch, dass das Personal nicht nur überlastet ist aufgrund der hohen Arbeitsdichte,
sondern auch schlecht bezahlt wird (insbesondere im Langzeitpflegesektor). Laut Zahlen
der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) liegt die Zahl der unbesetzten Pflegestellen
bei rund 17.000. Der Arbeitsmarkt für Pflegekräfte sei leer gefegt, heißt es [3].
„Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)
empfiehlt für die Intensivstationen für zwei Behandlungsplätze pro Schicht eine Pflegekraft
(DIVI 2010). Die DGF hat in ihrer Berliner Erklärung aus dem Jahr 2007 eine Fachkraftquote
(Zusatzqualifikation in der Anästhesie- und Intensivpflege) von 70 Prozent gefordert.
Darüber hinaus werden Begrenzungen der Behandlungsquoten von zwei Patienten pro Pflegekraft
für nicht beatmete und eine Eins-zu-eins-Betreuung für beatmete Patienten gefordert
(Notz 2007).“ [5]
Es war schon vor der Pandemie-Krise allerhöchste Eisenbahn, spätestens nach der Pandemie-Krise
muss gesundheitspolitisch die Chance stoisch, aber auch elementar für eine Verbesserung
des Pflegesystems genutzt werden. Im ambulanten und stationären Langzeitpflegesektor
gibt es vergleichbare Probleme, die es zu lösen gilt, um die Attraktivität des Pflegeberufs
zu steigern.
Es ist zu empfehlen, dass die Pflegepersonaluntergrenzen nicht nur wiedereingeführt
werden, um eine Pflegepersonalquote über die festgelegten Betreuungsrelationen und
somit Versorgungsqualität sicherzustellen, sondern sie müssen auch für die Fachbereiche
ausgeweitet werden, für die die Pflegepersonaluntergrenzen derzeit nicht gelten, da
es sonst nur zu einem Verschiebebahnhof des Personals innerhalb der Einrichtungen
führt. Mit der PpUGV setzt man Erwartungsstrukturen innerhalb der Einrichtungen, aber
löst nicht das Problem des Fachkräftemangels auf dem Pflegemarkt. Um quantitativ die
Zahl der verfügbaren Pflegefachpersonen im deutschen Pflegesystem zu erhöhen, gilt
es, die Pflegeberufe attraktiver zu gestalten durch
Neben dem quantitativen Aspekt gilt es auch, die Qualität im Pflegesystem innerhalb
der Gesellschaft weiterzuentwickeln. Es ist empfehlenswert, die Akademisierung innerhalb
des Pflegesystems seitens der Politik weiter zu forcieren, um die qualitative Ausdifferenzierung
der pflegefachlichen Versorgung über einen entsprechenden Skill- und Grademix im Pflegesystem
bedarfsorientiert an der heutigen und auch künftigen demografischen Herausforderung
auszurichten. Diese Empfehlungen haben nicht nur Gültigkeit für die stationäre Akutpflege,
sondern selbstredend auch für die ambulante und stationäre Langzeitpflege.
Spätestens zu Krisenzeiten wird auch dem Letzten klar: Pflege ist innerhalb einer
modernen Gesellschaft systemrelevant. Das Gesellschaftssystem generiert dieses Faktum
in Zeiten von Unsicherheiten und im Rahmen seiner Informationsverarbeitungsprozesse
als relevante Information im System. Zielführend im Sinne der Anschlussfähigkeit an
diese im System erkannte Information ist es, wenn die entsprechenden Funktionssysteme
wie Politik und Gesundheitssystem Entscheidungsprogramme etablieren, die die Systemstrukturen
entsprechend auf Verbesserung der pflegerischen Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen
ausrichten.