Patienten mit einem Schleudertrauma bzw. Whiplash associated Disorder (WAD) werden
zumeist konservativ mit Physiotherapie behandelt. Ziel ist es, die durch die Verletzungen
des Bewegungsapparates hervorgerufenen Schmerzen zu lindern sowie die Funktionsstörungen
effektiv zu bewerten und wiederherzustellen.
Symptomatik Schätzungsweise berichten ca. 85% aller WAD-Patienten über Schmerzen in Nacken, Rücken
sowie in den Extremitäten, welche häufig mit Kopfschmerzen und Schwindel verbunden
sind [1]. Die Intensität der Symptomatik – und damit auch der geeignete physiotherapeutische
Behandlungsansatz – hängen eindeutig mit dem Schweregrad des Schleudertraumas sowie
dessen klinischem Verlauf und dem Krankheitsstadium zusammen [2]. Im Folgenden werden die Untersuchungs- und Behandlungsstrategien bei Patienten
der WAD-Klassen I bis III auf Basis der bis dato vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse
vorgestellt und gegebenenfalls hinterfragt.
APTA Ein zeitgemäßes physiotherapeutisches Clinical Reasoning bei einem Schleudertrauma
berücksichtigt mehrere diesbezüglich veröffentlichte Leitlinien, basiert hauptsächlich
aber auf der Überarbeitung der orthopädischen Sektion der ‚American Physical Therapy
Association‘ (APTA) [3]. Die APTA-Leitlinie aus dem Jahr 2017 berücksichtigt die ‚Internationale Klassifikation
von Funktion, Behinderung und Gesundheit‘ (ICF). Anhand von behandlungsbasierten klinischen
Prognosekriterien ist es nun möglich, Patienten mit Nackenschmerzen in Subgruppen
einzuteilen. Über dieses Procedere sollen diejenigen Patienten identifiziert werden,
die mit Hinblick auf die verfügbare wissenschaftliche Evidenz gut auf einen bestimmten
Therapieansatz ansprechen.
Klinisches Bild Gemäß der ‚Neck Pain Guidelines‘ der APTA lässt sich das klinische Bild von WAD-Patienten
am besten der Subgruppe „Nackenschmerzen mit Beeinträchtigung der Bewegungskoordination“
zuordnen. Allerdings können bei einem Schleudertrauma auch andere Symptome imponieren,
so dass sich die Klassifizierung eines Patienten letzten Endes aus dem Befund sowie
der Beurteilung des Therapeuten ergibt [3].
Clinical Reasoning
Rehabilitationsfähigkeit
Ein umfassendes und strukturiertes Clinical Reasoning ist elementar, um sicherzustellen,
dass ein WAD-Patient für eine physiotherapeutische Behandlung überhaupt infrage kommt
und um ihn dann individuell und passend behandeln zu können.
Red Flags
Ungeachtet dessen, ob ein Patient nach einem Schleudertrauma von einem Arzt eine physiotherapeutische
Verordnung erhält, müssen Therapeuten die klinischen Symptome engmaschig überwachen
und auftretende Kontraindikationen bzw. ‚Red Flags‘ frühzeitig erkennen [4]. Für die Identifikation schwerwiegender Pathologien werden die in nachstehender
Tabelle beschriebenen Kombinationen von subjektiven Krankheitszeichen und objektiven
Symptomen interpretiert ([Tab. 1]).
Tab. 1 Kontraindikationen für die physiotherapeutische Versorgung von Patienten mit Schleudertrauma
[4].
Zervikale Myelopathie
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Neoplastische Konditionen
|
Instabilität des Bandapparates der oberen HWS
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Insuffizienz der A. vertebralis
|
Entzündliche oder systemische Erkrankungen
|
* Beim Hoffmann-Reflex (H-Reflex) handelt es sich um einen phasischen Eigenreflex,
der durch eine transkutane elektrische Erregung eines peripheren gemischten Nerven
ausgelöst wird; die Antwort wird als Muskelaktionspotential gemessen. Der H-Reflex
zählt zu den spinalen Reflexen.
** Unter Dysphasie versteht man eine Minderung der Sprechfähigkeit im Sinne einer
leichten Form der Aphasie. Die Dysphasie ist häufig ein Symptom herdförmiger zerebraler
Geschehen wie z. B. bei einem Hirninfarkt oder einer Hirnblutung.
*** Dysarthrie ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene motorische Sprechstörungen,
die durch eine Schädigung des ZNS oder der Hirnnerven ausgelöst werden.
**** Als Diplopie bezeichnet man das Symptombild des Doppelsehens. Dabei treten die
Doppelbilder in derselben Achse, horizontal, vertikal oder diagonal zueinander auf.
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-
sensorische Störung der Hände
-
Muskelschwund der intrinsischen Handmuskulatur
-
unsicheres Gangbild
-
positiver Hoffman-Reflex*
-
Hyperreflexie
-
Darm- und Blasenstörungen
-
multisegmentale Schwäche
-
sensorische Veränderungen
|
-
Alter über 50 Jahre
-
Krebs in der Vorgeschichte
-
unerklärlicher Gewichtsverlust
-
ständige Schmerzen
-
keine Schmerzlinderung durch Bettruhe
-
Nachtschmerzen
|
-
Hinterkopfschmerzen und Taubheitsgefühle
-
starke Einschränkung im aktiven Bewegungsbereich der HWS in alle Richtungen
-
Anzeichen einer zervikalen Myelopathie
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-
Temperatur > 37 °C
-
Blutdruck > 160/95 mmHg
-
Ruhepuls > 100 bpm
-
Ruheatmung > 25/min
-
Fatigue
|
Merke
Faustregel
Die physiotherapeutische Behandlung von WAD-Patienten gilt als „risikoarm“, wenn eine
Untersuchung des Bewegungsumfangs der Halswirbelsäule möglich ist. Das Behandlungsrisiko
reduziert sich, wenn bei der Testung der links- und rechtsseitigen Rotation jeweils
45 Grad erreicht werden.
Selbst wenn sämtliche Tests zur Integrität der oberen Halswirbelsäule (HWS) eine schlechte
diagnostische Genauigkeit und Sensitivität aufweisen, so können sie dennoch nützlich
sein, um deren Stabilität zu beurteilen. Das Auftreten oder die Verschlimmerung von
Kopfschmerzen während des Valsalva-Manövers können auf intrakranielle Pathologien
hinweisen [3].
Anamnese
Im Erstgespräch mit dem Patienten ist es wesentlich, sämtliche Informationen im Zusammenhang
mit dem ursächlichen Unfall bzw. Trauma zu sammeln. Hierzu gehören das Datum und der
Verletzungsmechanismus des Schleudertraumas, dessen Schwere bzw. der WAD-Grad, der
anschließende Krankheitsverlauf und die Verwendung einer Zervikalstütze bzw. Halskrause,
augenblickliche Beschwerden und aktuell verwendete Schmerzmittel, subjektive Krankheitszeichen
und Symptome sowie der Allgemeinzustand des Patienten [2], [5].
Yellow Flags
Ebenfalls zentral für das Clinical Reasoning und die sich anschließende Therapie ist
das umfassende Screening der biopsychosozialen Faktoren. Gerade ‚Yellow Flags‘ stehen
in direktem Zusammenhang mit einer schlechten Prognose [2], [3], [4], [6]. Folglich müssen in der Anamnese die mit dem Trauma zusammenhängen Erwartungen und
Überzeugungen des Patienten erfasst werden. Desgleichen erfragt werden dessen Strategien
zur Krankheitsbewältigung, seine Ängste und sein Bewegungsvermeidungsverhalten, katastrophisierende
Tendenzen, Aussagen über unverhältnismäßige Schmerzintensitäten, ein vermindertes
Aktivitätsniveau oder eine passive Einstellung zur Rehabilitation, eine gestörte Schlafqualität
oder einen erhöhten Konsum von Alkohol und Nikotin [2], [4], [6], [7].
Risikofaktoren
Weitere Risikofaktoren für eine schlechte Prognose sind:
-
fehlende postsekundäre Bildung
-
weibliches Geschlecht
-
Nackenschmerzen in der Vorgeschichte
-
Grundintensität der Nackenschmerzen > 55/100 auf der visuellen Analogskala (VAS)
-
Kopfschmerzen
-
WAD-Grad II oder III [8]
-
Bewegungseinschränkungen durch Nackenschmerzen
-
posttraumatischer Stress
-
Hyperalgesie bei Kältereizen [3], [5]
Jüngst konnten Oostendorp et al. zeigen, dass eine aktive Schmerzbewältigungsstrategie
sowie ein wenig ausgeprägtes Angstvermeidungsverhalten moderat mit einer geringeren
Schmerzintensität sowie einer besseren Funktionalität assoziiert sind [2].
Questionnaires
In einer kürzlich von Chen et al. durchgeführten Experten-Konsensstudie wird empfohlen,
dass die Beurteilung des Outcomes von WAD-Patienten hauptsächlich die sechs Bereiche
‚Körperliche Funktionen‘, ‚Wahrgenommene Genesung‘, ‚Arbeits- und Sozialfunktionen‘,
‚Psychologische Funktionen‘, ‚Lebensqualität‘ sowie ‚Schmerzen‘ umfassen sollte [9]. Die zur Beurteilung dieser sechs Kernbereiche geeigneten Questionnaires berücksichtigen
mehrere Richtlinien zur Bestimmung des Gesundheitsprofils und zur Prognose eines Patienten
[3], [5], [10], [11], [12], [13] ([Tab. 2]).
Tab. 2 Fragebogen für eine umfassende Beurteilung von WAD-Patienten.
Fragebogen
|
Bewertung
|
Neck Disability Index (NDI) [14]
|
wahrgenommene Nackenbehinderung im Zusammenhang mit Aktivitäten des täglichen Lebens
|
Patient-Specific Functional Scale (PSFS) [15]
|
funktionale Fähigkeit, bestimmte Aktivitäten abzuschließen
|
Whiplash Disability Questionnaire (WDQ) [16]
|
Behinderung aufgrund des Schleudertraumas
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Impact of Event Scale (IES) [17]
|
subjektive Belastung durch traumatische Ereignisse
|
Short-Form 36 (SF-36) [18]
|
allgemeine Lebensqualität
|
Coping Strategies Questionnaire (CSQ) [19]
oder
Pain Coping Inventory (PCI) [20]
|
Verhaltens- und kognitive Schmerzbewältigungsstrategien
|
Fear Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ) [21]
|
Überzeugungen zur Vermeidung von Angst in Bezug auf körperliche Aktivitäten und arbeitsbezogene
Aktivitäten
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Pain Catastrophizing Scale (PCS) [22]
|
übertriebene und sich wiederholende negative Erkenntnisse und Emotionen aufgrund von
Schmerzen
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Patient Health Questionnaire (PHQ-9) [23]
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Screening und Messung der Schwere von Depressionen
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Global Rating of Change Scale (GROC) [24]
|
selbst wahrgenommene Veränderung des Gesundheitszustands
|
Schmerzanamnese
Neben der obligaten Messung der Schmerzintensität durch die Verwendung einer VAS ist
es wichtig, den Schmerzcharakter, die Schmerzverteilung sowie zeitliche Merkmale der
Beschwerden zu erfassen und zu bewerten [3], [5]. Hierzu gehören bspw. mögliche Schwankungen der Schmerzintensität bei Aktivität
und Ruhe ebenso wie Schmerzveränderungen im Verlauf eines Tages, einer Woche oder
eines Monats.
Körperliche Untersuchung
Schleudertrauma-Patienten mit anhaltenden Schmerzen und Funktionseinschränkungen imponieren
im Rahmen der körperlichen Untersuchung mit motorischen und sensorischen Störungen.
Diese Störungen können mit einem Fettinfiltrat in den zervikalen Streckmuskeln assoziiert
sein [25].
Merke
Prediction Rules
Entsprechend der klinischen Wahrscheinlichkeitsbewertung bzw. der klinischen Vorhersageregeln
(Prediction Rules) zeigen WAD-Patienten häufig folgende Symptome:
-
ausstrahlende Schmerzen in den Schultergürtel oder die Arme
-
Schwindel/Übelkeit
-
Kopfschmerzen
-
Konzentrations- oder Gedächtnisschwierigkeiten bzw. Verwirrtheit
-
Überempfindlichkeit gegenüber mechanischen, thermischen, akustischen, olfaktorischen
oder visuellen Reizen
-
erhöhte affektive Belastung
-
unspezifische Anzeichen und Symptome
Angesichts der breit gefächerten WAD-Symptomatik sollten Physiotherapeuten das mit
dem Schleudertrauma assoziierte Muskel-, Binde- und Nervengewebe beurteilen und hierbei
die Ergebnisse von Bildgebung, körperlicher Untersuchung sowie die Aussagen des Patienten
berücksichtigen [3]. Die körperliche Befundung umfasst standardmäßig die Inspektion und Palpation, die
Untersuchung des Bewegungsausmaßes, neurologische Tests sowie die Beurteilung von
Muskelfunktion, motorischer Kontrolle, Sensomotorik und Propriozeption.
Inspektion
Selbst wenn keine eindeutige Korrelation zwischen der posturalen Haltung eines Patienten
und seiner Schmerzen besteht, kann die Inspektion der Haltung des Kopfes gerade bei
jenen Patienten aufschlussreich sein, die eine bestimmte Kopfposition als erschwerend
oder als entlastend reklamieren [27]. Eine für die Beschwerden relevante Haltungskomponente liegt aller Wahrscheinlichkeit
dann vor, wenn ein Patient bei einer erschwerenden Aktivität seine gewohnheitsmäßig
schlechte zervikothorakale Haltung einnimmt, oder wenn – im Umkehrschluss – seine
Symptome durch die Korrektur seiner Fehlhaltung abnehmen [3], [26].
Palpation
Bei der manuellen Palpation myofaszialer Triggerpunkte im zervikokranialen Bereich
werden die meisten WAD-Patienten mit Muskelverspannungen imponieren und über Nackenschmerzen
und ausstrahlende Schmerzen berichten [3], [26].
PAIVM Darüber hinaus werden die passiven akzessorischen intervertebralen Mobilitätstests
(PAIVM) für die obere (C0–C3) und untere HWS (C4–C7) sowie die thorakalen Segmente
empfohlen. Die PAIVMs dienen als Provokationsmanöver und sollen Schmerzen in den betroffenen
Segmenten reproduzieren. Gleichzeitig helfen sie bei der Identifikation potentieller
Hypomobilitäten, abnormaler Endgefühle oder arthrokinematischer Widerstände der Gelenke.
Die Reliabilität sowie die Validität der PAIVMs ist wahrscheinlich aber nur gering
[27].
Druckalgometer Zusätzlich zur manuellen Palpation eignet sich die Verwendung eines Druckalgometers
zur Bestimmung der Druckschmerzschwelle in der Nackenregion [3], [27]. Eine niedrigere Druckschmerzschwelle über dem Pars descendens des M. trapezius
deutet auf eine lokale mechanische Hypersensitivität hin. Eine niedrigere Druckschmerzschwelle
in Kombination mit weit ausstrahlenden Schmerzen kann dagegen auf eine zentrale nozizeptive
Verarbeitungsstörung hinweisen [3], [28].
Bewegungsausmaß
Um das aktive Bewegungsausmaß (ROM) der HWS für Flexion, Extension, Rotation und Lateralflexion
zu untersuchen, werden zumeist ein Cervical-Range-of-Motion-Gerät (CROM) oder ein
Neigungsmesser bzw. Inklinometer verwendet.
CFRT Der zervikale Flexionsrotationstest (CFRT) überprüft die passive Rotation der oberen
HWS (C1–C2). Weil die Bewegungsamplitude nach einem Schleudertrauma häufig reduziert
ist, berichten WAD-Patienten bei Bewegungen im mittleren Bereich über Nackenschmerzen,
die sich mit zunehmend endgradiger Flexionsrotation intensivieren [3], [5], [27].
Neurologische Tests
Um die Integrität des peripheren Nervensystems zu testen, wird eine umfassende neurologische
Untersuchung einschließlich der Beurteilung von Sehnenreflexen, muskulären Schwächen
und sensorischen Defiziten durchgeführt [5].
Neurodynamik Der neurodynamische Test für den Medianusnerv ist klinisch nützlich, um eine zervikale
Radikulopathie auszuschließen oder zu verifizieren. Für die Beurteilung des Nervengewebes
sind ergänzend der Spurling-Test, der HWS-Distraktionstest sowie der Schulterabduktionstest
relevant [3].
Muskelfunktion und motorische Kontrolle
CCFT Die Performance der Halsmuskulatur hinsichtlich der motorischen Kontrolle und Orientierung
während der Bewegungen von Hals und Kopf wird durch das Beobachten funktioneller Aktivitäten
beurteilt [26]. Änderungen der Muskelfunktion umfassen eine stärkere Aktivität der oberflächlichen
Nackenflexoren als Kompensation für die veränderte Aktivierung der tiefen Flexoren.
Um die Leistung der tiefen Nackenflexoren zu bewerten, besitzt der kraniozervikale
Flexionstest (CCFT) bis dato die höchste Validität.
Kraft und Ausdauer Für die Testung von Muskelfunktion und motorischer Kontrolle wird außerdem die Beurteilung
der Muskelkraft und -ausdauer empfohlen. Die Maximalkraft der Nackenflexoren und -extensoren
wird mittels eines Dynamometrie-Geräts festgestellt. Die Ausdauerleistung wird dadurch
bestimmt, wie lange ein Patient eine kraniozervikale Flexion bzw. Extension gegen
die Schwerkraft halten kann [3], [26]. Beim Test der extensorischen Ausdauerleistung wird am Kopf ein Gewicht von zwei
kg bei Frauen bzw. vier kg bei Männern angebracht [29].
Sensomotorik und Propriozeption
JPSE-Test Periphere Mechanorezeptoren sind elementar für die Funktionalität und Stabilität
der HWS. Sie spielen eine wesentliche Rolle für die Bewegungssteuerung von Kopf und
Augen. Nach einem Schleudertrauma ist die Funktionalität der Mechanorezeptoren häufig
beeinträchtigt. Mit dem ‚Cervical Joint Position Sense Error Test‘ (JPSE-Test) lässt
sich die Propriozeption der HWS beurteilen.
Gleichgewicht Die Kontrolle des Körpergleichgewichts kann am besten im klinischen Setting überprüft
werden. Hierfür wird mittels Videoaufzeichnung das Schwanken des Patienten während
des Stehens aus der Vogelperspektive sowie von hinten erfasst und im Anschluss mit
der Software ‚Cvmob 2D‘ analysiert [30], [31], [32].
Merke
Typische Untersuchungsbefunde
Gemäß den Prediction Rules ergeben sich bei der körperlichen Untersuchung von WAD-Patienten
erwartungsgemäß folgende Befunde [3]:
-
positiver kraniozervikaler Flexionstest
-
positiver Ausdauertest der Nackenflexoren
-
niedrigere Druckschmerzschwelle in der Nackenregion
-
Kraft- und Ausdauerdefizite der Nackenmuskulatur
-
Nackenschmerzen im mittleren Bewegungsbereich, die sich bei endgradigen Bewegungen
verschlimmern
-
Tenderpoints und myofasziale Triggerpunkte
-
sensomotorische Beeinträchtigung mit:
-
Reproduktion der Nackenschmerzen und der ausstrahlenden Schmerzen durch Provokation
der betroffenen HWS-Segmente
Rehabilitationsstrategien
Angesichts der umfangreichen Symptomatik ist die Behandlung und Rehabilitation von
WAD-Patienten für jeden Therapeuten eine große Herausforderung. Die besten Behandlungsergebnisse
werden zumeist bei einem die individuellen Untersuchungsergebnisse berücksichtigenden
multimodalen Ansatz im Rahmen eines multidisziplinären Programms erreicht [3], [10], [11].
Einschätzen der Prognose
Vor der eigentlichen Planung eines patientenspezifischen Rehabilitationsprogramms
steht die Einschätzung für eine gute, mäßige oder schlechte Prognose. Entsprechend
der Anzahl der in der Anamnese evaluierten Risikofaktoren lassen sich WAD-Patienten
in eine der drei Kategorien einteilen:
-
schnelle und frühe Rekonvaleszenz
-
mäßige bis langsame Rekonvaleszenz mit anhaltenden Beeinträchtigungen
-
schlechte Rekonvaleszenz mit schwerer Behinderung
Schnelle Rekonvaleszenz
Patienten mit schneller Rekonvaleszenz erholen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit
innerhalb der ersten zwei bis drei Monate signifikant. Geeignete therapeutische Interventionen
sind das frühzeitige Anraten und Ermuntern zum Fortführen von Aktivitäten sowie das
aktive Üben in der physiotherapeutischen Praxis oder auch zuhause. Auf diesem Weg
soll die Beweglichkeit und Funktionalität der HWS erhalten und verbessert werden.
Mäßige Rekonvaleszenz
Patienten mit prognostizierter mäßiger bis langsamer Rekonvaleszenz müssen wiederholt
befundet werden, um darauf basierend eine Entscheidung für das weitere Therapiemanagement
zu treffen. Eine Behandlung, welche auf die Beeinträchtigungen und Funktionsdefizite
fokussiert, orientiert sich selbstverständlich an den Untersuchungsergebnissen. Obwohl
WAD-Patienten mit einer mäßigen Rekonvaleszenz-Prognose grundsätzlich für ein intensiveres
konservatives Therapieprogramm geeignet sind, ist der Zeitpunkt für deren Genesung
nicht vorhersehbar.
Schlechte Rekonvaleszenz
Patienten mit hohem Risiko für eine schlechte funktionelle Erholung und eine Chronifizierung
müssen definitiv engmaschig medizinisch und auch psychologisch begleitet und unterstützt
werden. Hierbei sollten mögliche Strategien zum Fördern der Therapieadhärenz – bspw.
das Durch- und Weiterführen von Heimübungen – integriert werden, um so den klinischen
Nutzen langfristig zu maximieren [3].
Klassifikation des Stadiums
Nach der Prognosestellung gilt es, den WAD-Patienten in eines der drei zeitbasierten
Krankheitsstadien ‚akut‘, ‚subakut‘ und ‚chronisch‘ einzuteilen. Diese Klassifikation
ist ausschlaggebend für die Auswahl der geeigneten therapeutischen Maßnahmen und deren
Dosierung [3], [5], [33]. Klinisch lässt sich dies damit begründen, dass das Niveau der Irritier- bzw. Reizbarkeit
in Analogie zum Krankheitsstadium von „sehr hoch“ in der akuten bis zu „niedrig“ in
der chronischen Phase reicht.
Sollten die Faktoren Irritierbarkeit und Symptomdauer nicht miteinander korrelieren,
sind eine erneute klinische Beurteilung sowie eine nochmalige Interpretation der Befunde
und Untersuchungsergebnisse erforderlich [3].
Akutes Stadium
Die physiotherapeutischen Strategien in der Akutphase beinhalten hauptsächlich den
Ratschlag an den Patienten, aktiv zu bleiben, seinen alltäglichen Beschäftigungen
weiter nachzugehen, den Gebrauch der Halskrause zu minimieren sowie auf akzeptable
Fortschritte zu achten. Empfohlen werden soll den Betroffenen zudem, routinemäßig
Heimübungen zur Verbesserung von Haltung und Mobilität durchzuführen, um dadurch die
Schmerzen zu lindern und das Bewegungsausmaß der HWS zu erhöhen [3], [33].
Kraft und Ausdauer Im akuten WAD-Stadium können Therapeuten also bereits wertvolle Tipps geben, geeignete
Übungen instruieren sowie edukativ tätig werden. Die Übungen sollten umfassend sein
und auf die Faktoren Kraft und Ausdauer – dies evtl. in Verbindung mit Koordinationsübungen
– fokussieren [33]. Auch die Applikation von TENS kann bei der Behandlung von Schmerzen und Hypersensitivitäten
helfen [5], [10].
Gleichzeitig gilt es, im Akutstadium stets den Genesungsstatus von Schleudertrauma-Patienten
zu beobachten, um so frühzeitig diejenigen zu identifizieren, bei denen eine verspätete
Rekonvaleszenz auftritt und die evtl. eine intensivere Rehabilitation benötigen [3].
Subakutes Stadium
Wenn die Irritierbarkeit von HWS und Nackenregion abnimmt, kann eine multimodale Behandlung
durchgeführt werden. Diese sollte neben manuellen Mobilisierungstechniken auch Übungen
zur Dehnung sowie zur Verbesserung von Kraft und Ausdauer sowie zur Funktionalität
umfassen. Das Implementieren neuromuskulärer Übungen, welche die Koordination, Haltung
und Stabilisierung der HWS fördern, ist von wesentlicher Bedeutung [3], [5], [10], [34].
Korrekturstrategien Die Haltungsübungen können Korrekturstrategien im zervikalen, thorakalen und lumbalen
Bereich während statischer und dynamischer Haltungsaufgaben mit aktiven Bewegungen
von HWS und Schultergürtel verbinden [26]. Die Verbesserung des Postural Sets kann vor einem Spiegel durchgeführt werden,
so dass der Patient ein zusätzliches visuelles Feedback erhält.
Manuelle Therapie Zudem können WAD-Patienten von Manueller Therapie zur Mobilisation oder Manipulation
der HWS profitieren, wenn diese mit aktiven Übungen zur Verbesserung der zervikalen
Beweglichkeit und einer isometrischen Stärkung bei geringer Belastung kombiniert wird
[3], [5], [10], [34]. Auch Eis, Wärme oder TENS können im subakuten WAD-Stadium appliziert werden; ihre
Wirksamkeit bleibt aber umstritten [3], [34].
Falls die Nackenschmerzen nach drei Monaten persistieren, ist es ratsam, neben Manipulationstechniken
auch eine Weichteiltherapie sowie sehr kräftige Massagen in die Behandlung zu integrieren.
Außerdem empfohlen werden angeleitete Gruppenübungen, Yoga und die Intensivierung
und Steigerung der Kräftigungs- und Heimübungen [10], [35].
Chronisches Stadium
Das therapeutische Management eines Schleudertraumas im chronischen Stadium kann –
neben den bereits beschriebenen Rehabilitationsstrategien – die HWS-Mobilisation in
Kombination mit einem individualisierten, progressiven submaximalen Trainingsprogramm
zur Verbesserung von zervikothorakaler Kraft, Ausdauer, Flexibilität und Koordination
umfassen und hierfür auch Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie nutzen [3], [10], [33].
Zusätzliche Programme wie etwa die vestibuläre Rehabilitation, das Fördern der Augen-Kopf-Hals-Koordination
sowie neuromuskuläre Koordinationselemente zielen darauf ab, den sensorischen Input
zu verbessern und die Schwindelsymptomatik zu lindern [3], [31], [33].
Ultima Ratio Chronische WAD-Patienten, welche auf eine konventionelle Behandlung nicht ansprechen,
können von einer Hochfrequenzneurotomie profitieren [33]. Dementgegen zeigte die Akupunktur keinerlei positive Wirkung bei der Versorgung
der Betroffenen [3], [5], [34].
Merke
Edukation
Während aller Rehabilitationsphasen nach einem Schleudertrauma ist die Patientenedukation
von zentraler Bedeutung. Eine klare und verständliche Kommunikation ist der Schlüssel
für die positive Beziehung zwischen Patient und Behandler, und sie fördert die Therapieadhärenz.
Chronische WAD-Patienten benötigen Ratschläge zu deren Beruhigung, Aufmunterung sowie
zum Schmerzmanagement.
In erster Linie dienen edukative Elemente dazu, einen Betroffenen zur Beibehaltung
seiner Aktivitäten zu ermutigen, ihm geeignete Tipps für das Management und die Bewältigung
seiner Schmerzen und Funktionseinschränkungen zu geben, seine mitunter ängstlichen
Bedenken und katastrophalen Überzeugungen hinsichtlich der Prognose auszuräumen sowie
seine Funktionalität zu verbessern [3].