Der Schmerzpatient 2020; 3(03): 128-135
DOI: 10.1055/a-1157-3163
Schwerpunkt

Befund und Therapie von Schleudertrauma-Patienten

Gabriela Ferreira Carvalho
 

Die Symptomatik von Schleudertrauma-Patienten ist facettenreich – das physiotherapeutische Clinical Reasoning dementsprechend komplex. Es hinterfragt Unfallmechanismen und biopsychosoziale Risikofaktoren, nutzt zahlreiche Questionnaires, orientiert sich an Prediction-Rules und bedient sich einer speziellen objektiven Untersuchung. Das Therapiemanagement und die Rehabilitation bleibt eine große Herausforderung.


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Patienten mit einem Schleudertrauma bzw. Whiplash associated Disorder (WAD) werden zumeist konservativ mit Physiotherapie behandelt. Ziel ist es, die durch die Verletzungen des Bewegungsapparates hervorgerufenen Schmerzen zu lindern sowie die Funktionsstörungen effektiv zu bewerten und wiederherzustellen.

Symptomatik Schätzungsweise berichten ca. 85% aller WAD-Patienten über Schmerzen in Nacken, Rücken sowie in den Extremitäten, welche häufig mit Kopfschmerzen und Schwindel verbunden sind [1]. Die Intensität der Symptomatik – und damit auch der geeignete physiotherapeutische Behandlungsansatz – hängen eindeutig mit dem Schweregrad des Schleudertraumas sowie dessen klinischem Verlauf und dem Krankheitsstadium zusammen [2]. Im Folgenden werden die Untersuchungs- und Behandlungsstrategien bei Patienten der WAD-Klassen I bis III auf Basis der bis dato vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgestellt und gegebenenfalls hinterfragt.

APTA Ein zeitgemäßes physiotherapeutisches Clinical Reasoning bei einem Schleudertrauma berücksichtigt mehrere diesbezüglich veröffentlichte Leitlinien, basiert hauptsächlich aber auf der Überarbeitung der orthopädischen Sektion der ‚American Physical Therapy Association‘ (APTA) [3]. Die APTA-Leitlinie aus dem Jahr 2017 berücksichtigt die ‚Internationale Klassifikation von Funktion, Behinderung und Gesundheit‘ (ICF). Anhand von behandlungsbasierten klinischen Prognosekriterien ist es nun möglich, Patienten mit Nackenschmerzen in Subgruppen einzuteilen. Über dieses Procedere sollen diejenigen Patienten identifiziert werden, die mit Hinblick auf die verfügbare wissenschaftliche Evidenz gut auf einen bestimmten Therapieansatz ansprechen.

Klinisches Bild Gemäß der ‚Neck Pain Guidelines‘ der APTA lässt sich das klinische Bild von WAD-Patienten am besten der Subgruppe „Nackenschmerzen mit Beeinträchtigung der Bewegungskoordination“ zuordnen. Allerdings können bei einem Schleudertrauma auch andere Symptome imponieren, so dass sich die Klassifizierung eines Patienten letzten Endes aus dem Befund sowie der Beurteilung des Therapeuten ergibt [3].

Clinical Reasoning

Rehabilitationsfähigkeit

Ein umfassendes und strukturiertes Clinical Reasoning ist elementar, um sicherzustellen, dass ein WAD-Patient für eine physiotherapeutische Behandlung überhaupt infrage kommt und um ihn dann individuell und passend behandeln zu können.

Red Flags

Ungeachtet dessen, ob ein Patient nach einem Schleudertrauma von einem Arzt eine physiotherapeutische Verordnung erhält, müssen Therapeuten die klinischen Symptome engmaschig überwachen und auftretende Kontraindikationen bzw. ‚Red Flags‘ frühzeitig erkennen [4]. Für die Identifikation schwerwiegender Pathologien werden die in nachstehender Tabelle beschriebenen Kombinationen von subjektiven Krankheitszeichen und objektiven Symptomen interpretiert ([Tab. 1]).

Tab. 1 Kontraindikationen für die physiotherapeutische Versorgung von Patienten mit Schleudertrauma [4].

Zervikale Myelopathie

Neoplastische Konditionen

Instabilität des Bandapparates der oberen HWS

Insuffizienz der A. vertebralis

Entzündliche oder systemische Erkrankungen

* Beim Hoffmann-Reflex (H-Reflex) handelt es sich um einen phasischen Eigenreflex, der durch eine transkutane elektrische Erregung eines peripheren gemischten Nerven ausgelöst wird; die Antwort wird als Muskelaktionspotential gemessen. Der H-Reflex zählt zu den spinalen Reflexen.

** Unter Dysphasie versteht man eine Minderung der Sprechfähigkeit im Sinne einer leichten Form der Aphasie. Die Dysphasie ist häufig ein Symptom herdförmiger zerebraler Geschehen wie z. B. bei einem Hirninfarkt oder einer Hirnblutung.

*** Dysarthrie ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene motorische Sprechstörungen, die durch eine Schädigung des ZNS oder der Hirnnerven ausgelöst werden.

**** Als Diplopie bezeichnet man das Symptombild des Doppelsehens. Dabei treten die Doppelbilder in derselben Achse, horizontal, vertikal oder diagonal zueinander auf.

  • sensorische Störung der Hände

  • Muskelschwund der intrinsischen Handmuskulatur

  • unsicheres Gangbild

  • positiver Hoffman-Reflex*

  • Hyperreflexie

  • Darm- und Blasenstörungen

  • multisegmentale Schwäche

  • sensorische Veränderungen

  • Alter über 50 Jahre

  • Krebs in der Vorgeschichte

  • unerklärlicher Gewichtsverlust

  • ständige Schmerzen

  • keine Schmerzlinderung durch Bettruhe

  • Nachtschmerzen

  • Hinterkopfschmerzen und Taubheitsgefühle

  • starke Einschränkung im aktiven Bewegungsbereich der HWS in alle Richtungen

  • Anzeichen einer zervikalen Myelopathie

  • Fallneigung

  • Schwindel oder Benommenheit im Zusammenhang mit Nackenbewegungen

  • Dysphasie**

  • Dysarthrie***

  • Diplopie****

  • positive Hirnnerven-Zeichen

  • Temperatur > 37 °C

  • Blutdruck > 160/95 mmHg

  • Ruhepuls > 100 bpm

  • Ruheatmung > 25/min

  • Fatigue

Merke

Faustregel

Die physiotherapeutische Behandlung von WAD-Patienten gilt als „risikoarm“, wenn eine Untersuchung des Bewegungsumfangs der Halswirbelsäule möglich ist. Das Behandlungsrisiko reduziert sich, wenn bei der Testung der links- und rechtsseitigen Rotation jeweils 45 Grad erreicht werden.

Selbst wenn sämtliche Tests zur Integrität der oberen Halswirbelsäule (HWS) eine schlechte diagnostische Genauigkeit und Sensitivität aufweisen, so können sie dennoch nützlich sein, um deren Stabilität zu beurteilen. Das Auftreten oder die Verschlimmerung von Kopfschmerzen während des Valsalva-Manövers können auf intrakranielle Pathologien hinweisen [3].


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Anamnese

Im Erstgespräch mit dem Patienten ist es wesentlich, sämtliche Informationen im Zusammenhang mit dem ursächlichen Unfall bzw. Trauma zu sammeln. Hierzu gehören das Datum und der Verletzungsmechanismus des Schleudertraumas, dessen Schwere bzw. der WAD-Grad, der anschließende Krankheitsverlauf und die Verwendung einer Zervikalstütze bzw. Halskrause, augenblickliche Beschwerden und aktuell verwendete Schmerzmittel, subjektive Krankheitszeichen und Symptome sowie der Allgemeinzustand des Patienten [2], [5].

Yellow Flags

Ebenfalls zentral für das Clinical Reasoning und die sich anschließende Therapie ist das umfassende Screening der biopsychosozialen Faktoren. Gerade ‚Yellow Flags‘ stehen in direktem Zusammenhang mit einer schlechten Prognose [2], [3], [4], [6]. Folglich müssen in der Anamnese die mit dem Trauma zusammenhängen Erwartungen und Überzeugungen des Patienten erfasst werden. Desgleichen erfragt werden dessen Strategien zur Krankheitsbewältigung, seine Ängste und sein Bewegungsvermeidungsverhalten, katastrophisierende Tendenzen, Aussagen über unverhältnismäßige Schmerzintensitäten, ein vermindertes Aktivitätsniveau oder eine passive Einstellung zur Rehabilitation, eine gestörte Schlafqualität oder einen erhöhten Konsum von Alkohol und Nikotin [2], [4], [6], [7].


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Risikofaktoren

Weitere Risikofaktoren für eine schlechte Prognose sind:

  • fehlende postsekundäre Bildung

  • weibliches Geschlecht

  • Nackenschmerzen in der Vorgeschichte

  • Grundintensität der Nackenschmerzen > 55/100 auf der visuellen Analogskala (VAS)

  • Kopfschmerzen

  • WAD-Grad II oder III [8]

  • Bewegungseinschränkungen durch Nackenschmerzen

  • posttraumatischer Stress

  • Hyperalgesie bei Kältereizen [3], [5]

Jüngst konnten Oostendorp et al. zeigen, dass eine aktive Schmerzbewältigungsstrategie sowie ein wenig ausgeprägtes Angstvermeidungsverhalten moderat mit einer geringeren Schmerzintensität sowie einer besseren Funktionalität assoziiert sind [2].


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Questionnaires

In einer kürzlich von Chen et al. durchgeführten Experten-Konsensstudie wird empfohlen, dass die Beurteilung des Outcomes von WAD-Patienten hauptsächlich die sechs Bereiche ‚Körperliche Funktionen‘, ‚Wahrgenommene Genesung‘, ‚Arbeits- und Sozialfunktionen‘, ‚Psychologische Funktionen‘, ‚Lebensqualität‘ sowie ‚Schmerzen‘ umfassen sollte [9]. Die zur Beurteilung dieser sechs Kernbereiche geeigneten Questionnaires berücksichtigen mehrere Richtlinien zur Bestimmung des Gesundheitsprofils und zur Prognose eines Patienten [3], [5], [10], [11], [12], [13] ([Tab. 2]).

Tab. 2 Fragebogen für eine umfassende Beurteilung von WAD-Patienten.

Fragebogen

Bewertung

Neck Disability Index (NDI) [14]

wahrgenommene Nackenbehinderung im Zusammenhang mit Aktivitäten des täglichen Lebens

Patient-Specific Functional Scale (PSFS) [15]

funktionale Fähigkeit, bestimmte Aktivitäten abzuschließen

Whiplash Disability Questionnaire (WDQ) [16]

Behinderung aufgrund des Schleudertraumas

Impact of Event Scale (IES) [17]

subjektive Belastung durch traumatische Ereignisse

Short-Form 36 (SF-36) [18]

allgemeine Lebensqualität

Coping Strategies Questionnaire (CSQ) [19]

oder

Pain Coping Inventory (PCI) [20]

Verhaltens- und kognitive Schmerzbewältigungsstrategien

Fear Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ) [21]

Überzeugungen zur Vermeidung von Angst in Bezug auf körperliche Aktivitäten und arbeitsbezogene Aktivitäten

Pain Catastrophizing Scale (PCS) [22]

übertriebene und sich wiederholende negative Erkenntnisse und Emotionen aufgrund von Schmerzen

Patient Health Questionnaire (PHQ-9) [23]

Screening und Messung der Schwere von Depressionen

Global Rating of Change Scale (GROC) [24]

selbst wahrgenommene Veränderung des Gesundheitszustands


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Schmerzanamnese

Neben der obligaten Messung der Schmerzintensität durch die Verwendung einer VAS ist es wichtig, den Schmerzcharakter, die Schmerzverteilung sowie zeitliche Merkmale der Beschwerden zu erfassen und zu bewerten [3], [5]. Hierzu gehören bspw. mögliche Schwankungen der Schmerzintensität bei Aktivität und Ruhe ebenso wie Schmerzveränderungen im Verlauf eines Tages, einer Woche oder eines Monats.


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Körperliche Untersuchung

Schleudertrauma-Patienten mit anhaltenden Schmerzen und Funktionseinschränkungen imponieren im Rahmen der körperlichen Untersuchung mit motorischen und sensorischen Störungen. Diese Störungen können mit einem Fettinfiltrat in den zervikalen Streckmuskeln assoziiert sein [25].

Merke

Prediction Rules

Entsprechend der klinischen Wahrscheinlichkeitsbewertung bzw. der klinischen Vorhersageregeln (Prediction Rules) zeigen WAD-Patienten häufig folgende Symptome:

  • ausstrahlende Schmerzen in den Schultergürtel oder die Arme

  • Schwindel/Übelkeit

  • Kopfschmerzen

  • Konzentrations- oder Gedächtnisschwierigkeiten bzw. Verwirrtheit

  • Überempfindlichkeit gegenüber mechanischen, thermischen, akustischen, olfaktorischen oder visuellen Reizen

  • erhöhte affektive Belastung

  • unspezifische Anzeichen und Symptome

Angesichts der breit gefächerten WAD-Symptomatik sollten Physiotherapeuten das mit dem Schleudertrauma assoziierte Muskel-, Binde- und Nervengewebe beurteilen und hierbei die Ergebnisse von Bildgebung, körperlicher Untersuchung sowie die Aussagen des Patienten berücksichtigen [3]. Die körperliche Befundung umfasst standardmäßig die Inspektion und Palpation, die Untersuchung des Bewegungsausmaßes, neurologische Tests sowie die Beurteilung von Muskelfunktion, motorischer Kontrolle, Sensomotorik und Propriozeption.

Inspektion

Selbst wenn keine eindeutige Korrelation zwischen der posturalen Haltung eines Patienten und seiner Schmerzen besteht, kann die Inspektion der Haltung des Kopfes gerade bei jenen Patienten aufschlussreich sein, die eine bestimmte Kopfposition als erschwerend oder als entlastend reklamieren [27]. Eine für die Beschwerden relevante Haltungskomponente liegt aller Wahrscheinlichkeit dann vor, wenn ein Patient bei einer erschwerenden Aktivität seine gewohnheitsmäßig schlechte zervikothorakale Haltung einnimmt, oder wenn – im Umkehrschluss – seine Symptome durch die Korrektur seiner Fehlhaltung abnehmen [3], [26].


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Palpation

Bei der manuellen Palpation myofaszialer Triggerpunkte im zervikokranialen Bereich werden die meisten WAD-Patienten mit Muskelverspannungen imponieren und über Nackenschmerzen und ausstrahlende Schmerzen berichten [3], [26].

PAIVM Darüber hinaus werden die passiven akzessorischen intervertebralen Mobilitätstests (PAIVM) für die obere (C0–C3) und untere HWS (C4–C7) sowie die thorakalen Segmente empfohlen. Die PAIVMs dienen als Provokationsmanöver und sollen Schmerzen in den betroffenen Segmenten reproduzieren. Gleichzeitig helfen sie bei der Identifikation potentieller Hypomobilitäten, abnormaler Endgefühle oder arthrokinematischer Widerstände der Gelenke. Die Reliabilität sowie die Validität der PAIVMs ist wahrscheinlich aber nur gering [27].

Druckalgometer Zusätzlich zur manuellen Palpation eignet sich die Verwendung eines Druckalgometers zur Bestimmung der Druckschmerzschwelle in der Nackenregion [3], [27]. Eine niedrigere Druckschmerzschwelle über dem Pars descendens des M. trapezius deutet auf eine lokale mechanische Hypersensitivität hin. Eine niedrigere Druckschmerzschwelle in Kombination mit weit ausstrahlenden Schmerzen kann dagegen auf eine zentrale nozizeptive Verarbeitungsstörung hinweisen [3], [28].


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Bewegungsausmaß

Um das aktive Bewegungsausmaß (ROM) der HWS für Flexion, Extension, Rotation und Lateralflexion zu untersuchen, werden zumeist ein Cervical-Range-of-Motion-Gerät (CROM) oder ein Neigungsmesser bzw. Inklinometer verwendet.

CFRT Der zervikale Flexionsrotationstest (CFRT) überprüft die passive Rotation der oberen HWS (C1–C2). Weil die Bewegungsamplitude nach einem Schleudertrauma häufig reduziert ist, berichten WAD-Patienten bei Bewegungen im mittleren Bereich über Nackenschmerzen, die sich mit zunehmend endgradiger Flexionsrotation intensivieren [3], [5], [27].


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Neurologische Tests

Um die Integrität des peripheren Nervensystems zu testen, wird eine umfassende neurologische Untersuchung einschließlich der Beurteilung von Sehnenreflexen, muskulären Schwächen und sensorischen Defiziten durchgeführt [5].

Neurodynamik Der neurodynamische Test für den Medianusnerv ist klinisch nützlich, um eine zervikale Radikulopathie auszuschließen oder zu verifizieren. Für die Beurteilung des Nervengewebes sind ergänzend der Spurling-Test, der HWS-Distraktionstest sowie der Schulterabduktionstest relevant [3].


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Muskelfunktion und motorische Kontrolle

CCFT Die Performance der Halsmuskulatur hinsichtlich der motorischen Kontrolle und Orientierung während der Bewegungen von Hals und Kopf wird durch das Beobachten funktioneller Aktivitäten beurteilt [26]. Änderungen der Muskelfunktion umfassen eine stärkere Aktivität der oberflächlichen Nackenflexoren als Kompensation für die veränderte Aktivierung der tiefen Flexoren. Um die Leistung der tiefen Nackenflexoren zu bewerten, besitzt der kraniozervikale Flexionstest (CCFT) bis dato die höchste Validität.

Kraft und Ausdauer Für die Testung von Muskelfunktion und motorischer Kontrolle wird außerdem die Beurteilung der Muskelkraft und -ausdauer empfohlen. Die Maximalkraft der Nackenflexoren und -extensoren wird mittels eines Dynamometrie-Geräts festgestellt. Die Ausdauerleistung wird dadurch bestimmt, wie lange ein Patient eine kraniozervikale Flexion bzw. Extension gegen die Schwerkraft halten kann [3], [26]. Beim Test der extensorischen Ausdauerleistung wird am Kopf ein Gewicht von zwei kg bei Frauen bzw. vier kg bei Männern angebracht [29].


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Sensomotorik und Propriozeption

JPSE-Test Periphere Mechanorezeptoren sind elementar für die Funktionalität und Stabilität der HWS. Sie spielen eine wesentliche Rolle für die Bewegungssteuerung von Kopf und Augen. Nach einem Schleudertrauma ist die Funktionalität der Mechanorezeptoren häufig beeinträchtigt. Mit dem ‚Cervical Joint Position Sense Error Test‘ (JPSE-Test) lässt sich die Propriozeption der HWS beurteilen.

Gleichgewicht Die Kontrolle des Körpergleichgewichts kann am besten im klinischen Setting überprüft werden. Hierfür wird mittels Videoaufzeichnung das Schwanken des Patienten während des Stehens aus der Vogelperspektive sowie von hinten erfasst und im Anschluss mit der Software ‚Cvmob 2D‘ analysiert [30], [31], [32].

Merke

Typische Untersuchungsbefunde

Gemäß den Prediction Rules ergeben sich bei der körperlichen Untersuchung von WAD-Patienten erwartungsgemäß folgende Befunde [3]:

  • positiver kraniozervikaler Flexionstest

  • positiver Ausdauertest der Nackenflexoren

  • niedrigere Druckschmerzschwelle in der Nackenregion

  • Kraft- und Ausdauerdefizite der Nackenmuskulatur

  • Nackenschmerzen im mittleren Bewegungsbereich, die sich bei endgradigen Bewegungen verschlimmern

  • Tenderpoints und myofasziale Triggerpunkte

  • sensomotorische Beeinträchtigung mit:

    • veränderten Muskelaktivierungsmustern

    • propriozeptivem Defizit

    • Störungen von posturaler Kontrolle oder Gleichgewicht

  • Reproduktion der Nackenschmerzen und der ausstrahlenden Schmerzen durch Provokation der betroffenen HWS-Segmente


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Rehabilitationsstrategien

Angesichts der umfangreichen Symptomatik ist die Behandlung und Rehabilitation von WAD-Patienten für jeden Therapeuten eine große Herausforderung. Die besten Behandlungsergebnisse werden zumeist bei einem die individuellen Untersuchungsergebnisse berücksichtigenden multimodalen Ansatz im Rahmen eines multidisziplinären Programms erreicht [3], [10], [11].

Einschätzen der Prognose

Vor der eigentlichen Planung eines patientenspezifischen Rehabilitationsprogramms steht die Einschätzung für eine gute, mäßige oder schlechte Prognose. Entsprechend der Anzahl der in der Anamnese evaluierten Risikofaktoren lassen sich WAD-Patienten in eine der drei Kategorien einteilen:

  1. schnelle und frühe Rekonvaleszenz

  2. mäßige bis langsame Rekonvaleszenz mit anhaltenden Beeinträchtigungen

  3. schlechte Rekonvaleszenz mit schwerer Behinderung

Schnelle Rekonvaleszenz

Patienten mit schneller Rekonvaleszenz erholen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit innerhalb der ersten zwei bis drei Monate signifikant. Geeignete therapeutische Interventionen sind das frühzeitige Anraten und Ermuntern zum Fortführen von Aktivitäten sowie das aktive Üben in der physiotherapeutischen Praxis oder auch zuhause. Auf diesem Weg soll die Beweglichkeit und Funktionalität der HWS erhalten und verbessert werden.


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Mäßige Rekonvaleszenz

Patienten mit prognostizierter mäßiger bis langsamer Rekonvaleszenz müssen wiederholt befundet werden, um darauf basierend eine Entscheidung für das weitere Therapiemanagement zu treffen. Eine Behandlung, welche auf die Beeinträchtigungen und Funktionsdefizite fokussiert, orientiert sich selbstverständlich an den Untersuchungsergebnissen. Obwohl WAD-Patienten mit einer mäßigen Rekonvaleszenz-Prognose grundsätzlich für ein intensiveres konservatives Therapieprogramm geeignet sind, ist der Zeitpunkt für deren Genesung nicht vorhersehbar.


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Schlechte Rekonvaleszenz

Patienten mit hohem Risiko für eine schlechte funktionelle Erholung und eine Chronifizierung müssen definitiv engmaschig medizinisch und auch psychologisch begleitet und unterstützt werden. Hierbei sollten mögliche Strategien zum Fördern der Therapieadhärenz – bspw. das Durch- und Weiterführen von Heimübungen – integriert werden, um so den klinischen Nutzen langfristig zu maximieren [3].


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Klassifikation des Stadiums

Nach der Prognosestellung gilt es, den WAD-Patienten in eines der drei zeitbasierten Krankheitsstadien ‚akut‘, ‚subakut‘ und ‚chronisch‘ einzuteilen. Diese Klassifikation ist ausschlaggebend für die Auswahl der geeigneten therapeutischen Maßnahmen und deren Dosierung [3], [5], [33]. Klinisch lässt sich dies damit begründen, dass das Niveau der Irritier- bzw. Reizbarkeit in Analogie zum Krankheitsstadium von „sehr hoch“ in der akuten bis zu „niedrig“ in der chronischen Phase reicht.

Sollten die Faktoren Irritierbarkeit und Symptomdauer nicht miteinander korrelieren, sind eine erneute klinische Beurteilung sowie eine nochmalige Interpretation der Befunde und Untersuchungsergebnisse erforderlich [3].

Akutes Stadium

Die physiotherapeutischen Strategien in der Akutphase beinhalten hauptsächlich den Ratschlag an den Patienten, aktiv zu bleiben, seinen alltäglichen Beschäftigungen weiter nachzugehen, den Gebrauch der Halskrause zu minimieren sowie auf akzeptable Fortschritte zu achten. Empfohlen werden soll den Betroffenen zudem, routinemäßig Heimübungen zur Verbesserung von Haltung und Mobilität durchzuführen, um dadurch die Schmerzen zu lindern und das Bewegungsausmaß der HWS zu erhöhen [3], [33].

Kraft und Ausdauer Im akuten WAD-Stadium können Therapeuten also bereits wertvolle Tipps geben, geeignete Übungen instruieren sowie edukativ tätig werden. Die Übungen sollten umfassend sein und auf die Faktoren Kraft und Ausdauer – dies evtl. in Verbindung mit Koordinationsübungen – fokussieren [33]. Auch die Applikation von TENS kann bei der Behandlung von Schmerzen und Hypersensitivitäten helfen [5], [10].

Gleichzeitig gilt es, im Akutstadium stets den Genesungsstatus von Schleudertrauma-Patienten zu beobachten, um so frühzeitig diejenigen zu identifizieren, bei denen eine verspätete Rekonvaleszenz auftritt und die evtl. eine intensivere Rehabilitation benötigen [3].


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Subakutes Stadium

Wenn die Irritierbarkeit von HWS und Nackenregion abnimmt, kann eine multimodale Behandlung durchgeführt werden. Diese sollte neben manuellen Mobilisierungstechniken auch Übungen zur Dehnung sowie zur Verbesserung von Kraft und Ausdauer sowie zur Funktionalität umfassen. Das Implementieren neuromuskulärer Übungen, welche die Koordination, Haltung und Stabilisierung der HWS fördern, ist von wesentlicher Bedeutung [3], [5], [10], [34].

Korrekturstrategien Die Haltungsübungen können Korrekturstrategien im zervikalen, thorakalen und lumbalen Bereich während statischer und dynamischer Haltungsaufgaben mit aktiven Bewegungen von HWS und Schultergürtel verbinden [26]. Die Verbesserung des Postural Sets kann vor einem Spiegel durchgeführt werden, so dass der Patient ein zusätzliches visuelles Feedback erhält.

Manuelle Therapie Zudem können WAD-Patienten von Manueller Therapie zur Mobilisation oder Manipulation der HWS profitieren, wenn diese mit aktiven Übungen zur Verbesserung der zervikalen Beweglichkeit und einer isometrischen Stärkung bei geringer Belastung kombiniert wird [3], [5], [10], [34]. Auch Eis, Wärme oder TENS können im subakuten WAD-Stadium appliziert werden; ihre Wirksamkeit bleibt aber umstritten [3], [34].

Falls die Nackenschmerzen nach drei Monaten persistieren, ist es ratsam, neben Manipulationstechniken auch eine Weichteiltherapie sowie sehr kräftige Massagen in die Behandlung zu integrieren. Außerdem empfohlen werden angeleitete Gruppenübungen, Yoga und die Intensivierung und Steigerung der Kräftigungs- und Heimübungen [10], [35].


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Chronisches Stadium

Das therapeutische Management eines Schleudertraumas im chronischen Stadium kann – neben den bereits beschriebenen Rehabilitationsstrategien – die HWS-Mobilisation in Kombination mit einem individualisierten, progressiven submaximalen Trainingsprogramm zur Verbesserung von zervikothorakaler Kraft, Ausdauer, Flexibilität und Koordination umfassen und hierfür auch Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie nutzen [3], [10], [33].

Zusätzliche Programme wie etwa die vestibuläre Rehabilitation, das Fördern der Augen-Kopf-Hals-Koordination sowie neuromuskuläre Koordinationselemente zielen darauf ab, den sensorischen Input zu verbessern und die Schwindelsymptomatik zu lindern [3], [31], [33].

Ultima Ratio Chronische WAD-Patienten, welche auf eine konventionelle Behandlung nicht ansprechen, können von einer Hochfrequenzneurotomie profitieren [33]. Dementgegen zeigte die Akupunktur keinerlei positive Wirkung bei der Versorgung der Betroffenen [3], [5], [34].

Merke

Edukation

Während aller Rehabilitationsphasen nach einem Schleudertrauma ist die Patientenedukation von zentraler Bedeutung. Eine klare und verständliche Kommunikation ist der Schlüssel für die positive Beziehung zwischen Patient und Behandler, und sie fördert die Therapieadhärenz.

Chronische WAD-Patienten benötigen Ratschläge zu deren Beruhigung, Aufmunterung sowie zum Schmerzmanagement.

In erster Linie dienen edukative Elemente dazu, einen Betroffenen zur Beibehaltung seiner Aktivitäten zu ermutigen, ihm geeignete Tipps für das Management und die Bewältigung seiner Schmerzen und Funktionseinschränkungen zu geben, seine mitunter ängstlichen Bedenken und katastrophalen Überzeugungen hinsichtlich der Prognose auszuräumen sowie seine Funktionalität zu verbessern [3].


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Fazit

Der physiotherapeutische Behandlungsansatz von Patienten mit einem Schleudertrauma basiert auf einer detaillierten Befunderhebung. Eine solche umfasst neben einer gründlichen Anamnese samt Screening der Kontraindikationen sowie der beitragenden biopsychoszialen Faktoren eine fundierte WAD-spezifische körperliche Untersuchung.

Entsprechend der behandlungsbasierten klinischen Prediction Rules der ‚Neck Pain Guidelines‘ der APTA wird für WAD-Patienten ein maßgeschneidertes Rehabilitationsprogramm empfohlen. Hierfür eignen sich insbesondere multimodale Interventionen. Die Auswahl der physiotherapeutischen Maßnahmen sowie deren Dosierung hängen vom Prognoserisiko und dem Krankheitsstadium ab.


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Autorinnen/Autoren

Dr. Gabriela Ferreira Carvalho

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arbeitete nach ihrer Promotion in „Rehabilitation und Funktioneller Performance“ an der Ribeirão Preto Medical School als Postdoktorandin an der Universität von São Paulo in Brasilien. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Lübeck und im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.


Korrespondenzadresse

Dr. Gabriela Ferreira Carvalho
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Systemische Neurowissenschaften, W34
Martinistraße 52
20246 Hamburg

Publication History

Article published online:
10 July 2020

Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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