Schlüsselwörter
Covid-19 - Public-Health-Ethik - SARS-CoV-2
Key words
Covid-19 - Public health ethics - SARS-CoV-2
Einleitung
Die aktuelle Covid-19-Pandemie stellt alle Beteiligten vor enorme Herausforderungen
und verschiedene Institutionen vor sehr schwierige Entscheidungen. Als in Bayern
erste Kontakteinschränkungen zur Einschränkung der Pandemie
ausgesprochen wurden, stellte das in besonderer Verantwortung stehende
Landesinstitut für Gesundheit am Bayerischen Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit am 19. März 2020 vier dringliche
Fragen zu ethischen Aspekten von anstehenden Schutzmaßnahmen der
öffentlichen Gesundheit an die Erstautorin. Den Fragestellern war bewusst,
dass die Letztverantwortung bei den legitimierten und mit einem Mandat versehenen
Entscheidungsträgern und den zuständigen Exekutivorganen für
die bevölkerungsbezogenen Infektionsschutzmaßnahmen liegt. In dieser
Ausnahmesituation mit zeitlich engen Entscheidungszeiträume und den nicht
standardisierten Abläufen einer Pandemiebekämpfung wurden jedoch
bewusst auch ethische Kriterien angefragt, um die Handlungsoptionen in Blick auf
mögliche Risiken und Ansatzpunkte einer bestmöglichen Ausgestaltung
orientierend bewerten und ggf. im Verlauf gezielt und den Umständen und
Zielen angemessen weiter ausgestalten zu können. Sowohl die Fragen als auch
die Antworten wurden unter größtem Zeitdruck erstellt in einem durch
die Erstautorin koordinierten Prozess, an dem eine Gruppe nationaler und
internationaler Expert/innen für Public-Health-Ethik beteiligt war.
Eine gründlichere Ausarbeitung der gemachten Public-Health-ethischen
Empfehlungen steht noch aus. Das vorliegende Papier deckt daher nur einen kleinen
Bereich ab und kann bspw. nicht auf die wichtigen Zusammenhänge der
Strukturen des Gesundheitssystems und der Gesellschaft insgesamt oder auf die
globalen Zusammenhänge eingehen.
Trotz der notwendigen inhaltlichen Beschränkungen möchten wir
Einblick in den Prozess und Inhalt unseres ad hoc Ethikkonsils geben. Wir
möchten hiermit ermöglichen, in den Austausch mit anderen zu treten,
die derzeit in ähnlichen Prozessen komplexe ethische Abwägungen
vornehmen. Wir sind daran interessiert, zu hören, wie in anderen Bereichen
vorgegangen wird und welche Erfahrungen gemacht werden. Gleichzeitig möchten
wir auf die Notwendigkeit Public-Health-ethischer Expertise hinweisen. Alle
Autor/innen dieser Stellungnahme haben seit Jahren in Deutschland, in der
Schweiz oder im englischsprachigen Raum in diesem Bereich gearbeitet und kennen die
bereits sehr ausdifferenzierte Literatur u. a. zu Ethik bei Pandemien [1]
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[12] sowie die aktuell
entstehenden Beiträge [13]
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[16]
[17]. Insgesamt ist der Bereich der
Public-Health-Ethik in Deutschland jedoch nach wie vor nicht institutionell
etabliert. Wir möchten diese Gelegenheit daher nutzen, um auf dieses Vakuum
hinzuweisen. Während die gegenwärtige Beratung ad hoc und unter
erschwerten Bedingungen erfolgte, empfehlen wir, dass Public-Health-ethische
Beratung weiter institutionalisiert und auch durch ausreichend Ressourcen etabliert
werden kann.
Die Erstautorin übersetzte die Fragen des Bayerischen Landesamtes für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit am 20. März 2020 ins Englische und
versandte diese in einem Google-Dokument an eine Gruppe ausgewiesener
Public-Health-Ethik-Expert/innen (auch im Bereich Forschungsethik) mit der
Bitte um schnelle Beantwortung. Die Funktion des Google-Dokumentes erlaubte es den
Autor/innen, das Dokument simultan zu bearbeiten und auch innerhalb des
Dokumentes Fragen an die anderen zu stellen und Diskussionen zu führen. So
konnten in einem gemeinsamen Prozess binnen zweier Tage Antworten auf die Fragen des
Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit formuliert
werden, auch wenn allen Beteiligten äußerst wenig Zeit zur
Verfügung stand. Der Text wurde einerseits auf Deutsch ausformuliert an das
Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
übermittelt. Andererseits wurde er als Blogbeitrag des Journal of Medical
Ethics auf Englisch zur Diskussion gestellt [18].
In den Antworten aus der Gruppe wurde dezidiert eine Public-Health-ethische
Perspektive eingenommen, die andere Schwerpunkte setzt als Medizinische oder
Klinische Ethik. Letztere diskutieren eher Fragen zu Triage und Entscheidungen im
Krankenhaus oder in der medizinischen und pflegerischen Praxis [19]. Die Public-Health-ethische Perspektive
bedeutet, dass prinzipiell alle Themenfelder der multidisziplinären
Gesundheitswissenschaften als relevant erachtet werden (von Mortalität
über psychische Gesundheit bis hin zu gesundheitssystemrelevanten und
gesundheitsökonomischen Gesichtspunkten). Im Fokus stehen darüber
hinaus aber auch gesamtgesellschaftlich relevante normative Aspekte, die die
Bedingungen eines guten und erfüllten Leben betreffen. Dazu gehören
auch Standpunkte der sozialen Gerechtigkeit sowie Anerkennung und Reflexion von
sozialen Vulnerabilitäten.
Abschließend möchten wir betonen, dass es nicht unser Anliegen ist,
Public-Health-Ethik künstlich von Klinischer bzw. Medizinischer Ethik
abzugrenzen. Individuelles Krankheitserleben und krankheits- oder
gesundheitsbezogenes Handeln findet immer in einem gesamtgesellschaftlichen (und
globalen) Rahmen statt. Gerade die Auseinandersetzung zwischen individueller
und systemisch orientierter Sichtweise ist nötig und fruchtbar. Allerdings
bedarf es für die fundierte Public-Health-ethische Beratung ein besonderes
Verständnis für ethische Fragen auf der Bevölkerungsebene,
wie sie z. B. in der politischen Philosophie verhandelt werden, und Vertrautheit mit
der Komplexität von Gesundheitssystemen. Dies sollte durch die Ausbildung
und Förderung Public-Health-ethischer Expertise anerkannt werden.
Frage 1
Das Imperial College COVID-19 Response Team beschreibt in seinem Beitrag zwei
wichtige Strategien zur Infektionskontrolle: Die
„Suppressions-Strategie“, bei der die Ausbreitung des Virus
verhindert werden soll und die „Mitigations-Strategie“, bei der die
Verlangsamung der Ausbreitung angestrebt wird [20]. Sollte die Zahl der Toten (bzw. verlorene Lebensjahre oder
dergleichen) bei den beiden Strategien das ethisch dominierende Kriterium sein?
(Wie) kann man andere ethische Aspekte, z. B. den höheren Grad der
Freiheitseinschränkungen bei der Suppressions-Strategie oder ungleiche
Aufopferungsansprüche bei der Mitigations-Strategie, ethisch a)
operationalisieren und b) mit der Anzahl der Toten in Beziehung setzen, oder ist
außer der Anzahl der Toten alles andere nur in individuellen deliberativen
Prozessen zu diskutieren?
Soziale Vulnerabilitäten/Soziale Gerechtigkeit
-
Die weitreichenden Konsequenzen von Covid-19-bezogenen Maßnahmen
müssen professionell und sektorübergreifend herausgearbeitet
werden. Vulnerabilitäten lediglich medizinisch zu definieren
(z. B. Alter, Komorbiditäten) reicht für eine
umfassende Public-Health-Strategie nicht aus. Weitere Bereiche wie
Einkommen, Arbeitsplätze, sozio-ökonomischer Status, Wohnen,
Bildung, (Arbeitsplatz-)Sicherheit, Behinderungen,
Staatsangehörigkeit/Aufenthaltsstatus/Migrationsstatus,
Geschlechterrollen, Möglichkeiten der aktiven sozialen
Kommunikation, psychische Gesundheit usw. sind in der Identifikation von
Vulnerabilitäten mit zu berücksichtigen.
-
Es ist davon auszugehen, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen
stärker sowohl durch das Virus als auch durch restriktive
Maßnahmen belastet werden. Soziale Vulnerabilitäten
können in Pandemien reproduziert und verstärkt werden.
Pandemieplanung muss besondere Vorkehrungen hinsichtlich der Erhaltung und
Stabilisierung sozialer Gerechtigkeit treffen.
Kompensation
-
Gegenwärtig werden in Deutschland
Gesamtbevölkerungsstrategien den Hochrisikostrategien vorgezogen:
Das heißt, die gesamte Bevölkerung – auch bspw.
Kinder mit niedrigen Gesundheitsrisiken durch Covid-19 und nicht nur
Hochrisikogruppen wie ältere und vorerkrankte Menschen – ist
in restriktive Public-Health-Maßnahmen eingeschlossen, und
vielerorts werden Verstöße gegen diese Maßnahmen z.
B. finanziell sanktioniert. Gleichwohl arbeiten einige Teile der
Bevölkerung weiterhin in „systemerhaltenden Berufen“
(im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Supermarkt, bei der Polizei, bei den
Stadtwerken und anderswo). Teilweise geht dieser Teil der
Bevölkerung ein großes Risiko für sich und ihre
Angehörigen ein. Sie müssen bestmöglich
geschützt und im Krankheitsfall versorgt werden. Eine langfristige
Anerkennung ihrer Wichtigkeit und ihrer Leistung ist geboten.
-
Es besteht eine Pflicht, die potentiell schädlichen Auswirkungen von
restriktiven Public-Health-Maßnahmen so stark wie möglich zu
begrenzen. So geht mit Freiheitseinschränkungen bspw. eine Pflicht
einher, die entstandenen und zukünftig entstehenden Verluste zu
kompensieren. Diese können, gerade in wohlhabenden Staaten,
weitreichend sein. Dazu gehören z. B. Verbesserung der
Arbeitslosenrechte, Erleichterungen bei Schulden (wie Aussetzen von
Fristen), Schutz vor Kündigungen von Mietverhältnissen,
Erlass von Gebühren bei Kreditkartenzahlung z. B. beim Kauf
von Nahrungsmitteln, staatliche Unterstützungszahlungen oder
günstige Kredite für Selbständige usw.
-
Diese Kompensationspflicht besteht nicht nur, um Schaden für Einzelne
abzuwenden, sondern sie ermöglicht auch die erfolgreiche Umsetzung
von Public-Health-Maßnahmen. Regeln der Isolation und
Quarantäne sind nicht für alle gleich gut umsetzbar und
häufig für Privilegierte leichter zu befolgen. Die
Nicht-Umsetzung solcher Regeln bedroht aber alle gemeinsam. Daher ist der
soziale Ausgleich für alle von großer Bedeutung.
Vertrauen und Kommunikation
-
Gerade bei der Durchsetzung restriktiver Public-Health-Maßnahmen sind
Vertrauen der Bevölkerung in die politischen und
öffentlichen Akteure sowie gelungene Kommunikation durch diese
Akteure zentral. Es ist wichtig, Maßnahmen transparent zu
kommunizieren und als ethisch, gerechtfertigt und am Gemeinwohl orientiert
zu begründen ([Tab. 1]). Hier
ist insbesondere die Anerkennung von Vulnerabilitäten
(s. o.) zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass auch zeitnah
kreative Vorschläge und Lösungen für die Minimierung
der Vulnerabilitäten erarbeitet und vorgestellt werden sollten.
-
In der Planung von Public-Health-Maßnahmen sowie in der Kommunikation
sollten Entscheidungen auf der Grundlage der bestmöglichen Evidenz
getroffen werden, wobei die derzeit bestehenden erheblichen empirischen und
epistemischen Unsicherheiten anerkannt werden sollten. In diesem
Zusammenhang ist es geboten, in der öffentlichen Kommunikation
mitzuteilen, was bekannt und evidenzbasiert ist, aber auch was nicht bekannt
ist, andernfalls kann das öffentliche Vertrauen unterminiert werden.
Auch der ethische Abwägungsprozess muss transparent und klar
kommuniziert werden ([Tab. 1]).
Umsetzung
-
Bei der Umsetzung restriktiver Public-Health-Maßnahmen in einem
freiheitlich orientierten Rechts- und Sozialstaat muss
berücksichtigt werden, dass einzelne Personen ihre Werte anders
abwägen können als das von politischer Seite
erwünscht ist. Dies kann die Zustimmung zu und Einhaltung von
Maßnahmen beeinflussen und die Durchsetzung und Effektivität
dieser Maßnahmen erschweren.
-
Die Umsetzung restriktiver Public-Health-Maßnahmen muss von Anfang an
durch Begleitforschung evaluiert werden. Die Datenerhebung ist sowohl in
epidemiologischer Hinsicht als auch in breiterer gesellschaftlicher Hinsicht
notwendig, da die Krisenbewältigung – bspw. durch die
Schließung von Schulen, wirtschaftliche Effekte, usw. –
weitreichende soziale Folgen haben kann. Die Frage ist hier nicht nur,
welche Wirksamkeit die Maßnahmen haben/hatten, sondern auch,
welche positiven und negativen Auswirkungen darüber hinaus zu
bemerken sind, und welchen Effekt sie langfristig haben. Hier sind neben
wirtschaftlichen Faktoren auch die Folgen für psychische Gesundheit,
soziale Vulnerabilitäten und soziale Gerechtigkeit mit zu
berücksichtigen.
-
Verhältnismäßigkeit bei der Umsetzung von
restriktiven Maßnahmen ist ein leitendes Prinzip. Die Bedrohungslage
– gegen die eine rechtfertigbare Strategie und Intervention gefunden
werden muss – erschöpft sich dabei nicht allein in den
unmittelbaren gesundheitlichen Auswirkungen von Covid-19. Auch andere
mögliche negative soziale Auswirkungen, wie oben beschrieben,
sollten bei der Wahl der Mittel berücksichtigt werden. Bedrohung und
Maßnahme sollten in einem rechtfertigbaren Verhältnis
stehen. Wissenschaftliche Evidenz muss – wo sie noch nicht besteht
– generiert werden, um dieses Verhältnis auszuloten und
informierte Entscheidungen treffen zu können.
Planung in Hinblick auf Zukunft
-
Eine langfristig angelegte Planung für die Covid-19 Pandemie ist
notwendig, die nachhaltig Gesundheit und weitere gesellschaftliche Bereiche
sichert. Idealerweise sollten diese langfristigen Aspekte jetzt bereits
antizipiert und bestmöglich beachtet werden.
-
Es ist wichtig, frühzeitig einen Diskurs darüber zu
führen, wie verfügbare – und anfangs noch knappe
– Impfstoffe in unserer Gesellschaft verteilt werden.
-
Die Pandemie-Planung ist darüber hinaus in Gesundheitspolitik und
öffentlicher Verwaltung auf globaler, europäischer,
nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu priorisieren. Perspektiven von
„One health“, die u. a. die Verbindungen von Tier-
und Menschengesundheit in den Blick nehmen, sind dabei relevant. Der
internationale Austausch zu Beispielen guter Praxis und wissenschaftlicher
Evidenz sowie zu globaler Gesundheit ist wichtig. Die nachhaltige und
stabile Ausgestaltung des nationalen und globalen Gesundheits- und
Versorgungssystems, einschließlich der Arbeitsfähigkeit der
Weltgesundheitsorganisation, muss vor dem Hintergrund der Dringlichkeit
einer verbesserten Pandemieplanung ebenfalls berücksichtigt werden.
Hierzu gehören u. a. Fragen nach ausreichenden Ressourcen,
Ausstattungen und Personalkapazitäten, aber auch Fragen nach
Gesundheitsgerechtigkeit.
Frage 2
Es bestehen noch keine zuverlässigen Daten zur wirklichen
Effektivität der Maßnahmen, die momentan ergriffen werden. Ein
Zeithorizont für die Erkenntnis der Effektivität betreffend
beträgt 2–3 Wochen. Die Effektivität der Maßnahmen
als Entscheidungskriterium erscheint damit eher begrenzt zu sein. Welche weiteren,
ethischen Kriterien sollten wir beachten, besonders wenn es um weitere physische
Distanzierungsmaßnahmen geht (bspw. einer Ausgangssperre)?
Frage 3
Gegenwärtig werden Testkapazitäten massiv erhöht.
Routinemäßige Surveillance wird nun, nach Infektionsschutzgesetz
(IfSG), vorrangig Testungsaktivitäten statt Infektionsinzidenz messen.
Würden Begleitforschung und -studien zur Leistung der Tests (z. B.
Sensitivität/Spezifizität, positiver/negativer
Vorhersagewert) auch ethisch ratsam sein?
Frage 4
Welche ethischen Herausforderungen könnten von einer repräsentativen
Kohortenstudie ausgehen, die im Längsschnitt serologische
Aktivitäten und Schwere der Erkrankungen, ggf. in Untergruppen, erforscht?
Welche Untergruppen sollten speziell untersucht werden?