Schlüsselwörter
Fibromyalgiesyndrom - Klassifikation - Diagnose - Therapie
Key words
Fibromyalgia syndrome - Classification - Diagnosis - Therapy
Einleitung
Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) bleibt ein kontroverses Krankheitsbild. Es gibt unterschiedliche Vorschläge zur Klassifikation und diagnostischen Kriterien und divergierende Vorstellungen zu pathophysiologischen Mechanismen. Der vorliegende Beitrag will einige der aktuellen Kontroversen um das FMS aufzeigen. Der Autor vertritt in einigen der dargestellten Diskussionen eine dezidierte Position. Diese ist in den Referenzen, in denen er als Autor aufgeführt ist, zu erkennen.
Praxisrelevante Themen des Beitrages sind die Schweregradeinteilung des FMS, die Bedeutung eines komorbiden FMS in der Behandlung von Patienten mit Arthrose und entzündlich rheumatischen Erkrankungen sowie neue psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsoptionen.
Die Referenzen des Beitrages beruhen auf einer selektiven Literaturrecherche in PubMed mit dem Suchwort „Fibromyalgia“.
Klassifikation und Diagnose
Klassifikation und Diagnose
Neue Klassifikation des FMS im ICD-11
Die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly) hat am 25. Mai 2019 die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet. Die ICD -11 soll am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Nach einer flexiblen Übergangszeit von 5 Jahren sollen Todesursachen ausschließlich mit der ICD -11 kodiert werden [1]. Einer Arbeitsgruppe der International Association of the Study of Pain (IASP) ist es gelungen, dass chronischer Schmerz im ICD-11 ein eigenes Kapitel mit eigenen Kodes erhalten hat [2]. Nach Ansicht der IASP konnten chronische Schmerzen im ICD-10 bisher nicht ausreichend kodiert werden. Daher sei epidemiologische Forschung zu chronischen Schmerzen als auch der Zugang zu multimodalen Therapieporgrammen erschwert [2]. Der Vorschlag der IASP wurde nicht mit anderen internationalen Fachgesellschaften abgesprochen. Dabei werden unterschieden:
MG30.0 Chronischer primärer Schmerz
MG30.1 Chronischer Tumorschmerz
MG30.2 Chronischer postoperativer oder posttraumatischer Schmerz
MG30.3 Chronischer sekundärer muskuloskelettaler Schmerz
MG30.4 Chronischer sekundärer viszeraler Schmerz
MG30.5 Chronischer neuropathischer Schmerz
MG30.6 Chronischer sekundärer Kopfschmerz oder orofazialer Schmerz
MG30.Y Anderer spezifizierter chronischer Schmerz
MG30.Z Chronischer Schmerz, nicht spezifiziert
Chronischer primärer Schmerz wird als eigenständiges Krankheitsbild („disease of its own right“) konzipiert ([Tab. 1]) [3]. Schmerz bei chronischen sekundären Schmerzsyndromen wird zumindest initial als Symptom einer anderen Erkrankung angesehen werden (z. B: chronische Schmerzen bei rheumatoider Arthritis).
Tab. 1 Definition des chronischen primären Schmerzes [3].]
Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, der
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(1) länger als 3 Monate anhält bzw. wiederkehrt
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(2) mit signifikantem emotionalem Leiden (engl. distress) (z. B. Angst, Ärger, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit) und /oder signifikanter funktionaler Beeinträchtigung (Einschränkungen in Aktivitäten des täglichen Lebens und Teilhabe in sozialen Rollen) einhergeht
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(3) Die Symptome können nicht besser durch eine andere Diagnose erklärt werden
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Chronische primäre Schmerzsyndrome werden in einzelne Kategorien unterteilt ([Tab. 2]). Die Definition des FMS im ICD-11 findet sich in [Tab. 3].
Tab. 2 Unterteilung chronischer primärer Schmerzsyndrome [3]
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Tab. 3 Definition des Fibromyalgiesyndrom im ICD-11 [3]
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Eine „mehrfache Elternschaft“ („multiple parenting“) ist bei einigen Erkrankungen möglich. Eine Krankheit „Kind“ kann zu mehreren Eltern gehören. So kann das Reizdarmsyndrom zu dem „Elternteil“ Erkrankungen des Verdauungstraktes (DD91 Irritable bowel syndrome or certain specified functional bowel disorders) oder zu dem „Elternteil“ chronischer primärer Schmerz (MG30.00) gehören, d. h. es steht dem kodierenden Arzt frei, welcher der beiden Kodes er wählt. Ein multiple parenting ( chronischr primärer Schmerz; Erkrankungen des muskuloskelettalen System und des Bindegewebes) ist für das FMS nicht möglich.
Beim Kapitel „Chronischer Schmerz“ sind folgende Punkte kritisch zu diskutieren [4]
[5]:
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Die Vorschläge der IASP wurden nicht mit anderen internationalen Fachgesellschaften (z. B. Rheumatologie, Gastroenterologie) abgesprochen.
-
Einige Klassifikationen sind wissenschaftlich umstritten, z. B. wird das CRPS von manchen Autoren als neuropathischer Schmerz und das FMS als chronischer (primärer) muskuloskelettaler Schmerz konzipiert.
-
Der diagnostische Kode eines chronischen Schmerzes in mehreren Körperregionen war im ICD-10 nicht enthalten. Er wurde aufgenommen, da einige Vertreter in den Arbeitsgruppen der WHO Bedenken gegen die Einführung eines Kodes für das FMS hatten (Treede, persönliche Mitteilung).
-
Das FMS wurde aus dem Kapitel „Erkrankungen des muskuloskelettalen System und des Bindegewebes“ entfernt. Alle anderen sogenannten primären Schmerzsyndrome (siehe [Tab. 2]) können auch in den jeweiligen „Organkapiteln“ kodiert werden. Die Eliminierung des FMS als Erkrankung des muskuloskelettalen System und des Bindegewebes kam auf Betreiben eines türkischen Psychiaters der WHO-Arbeitsgruppe zu Stande (Treede, persönliche Mitteilung).
ICD-11 Klassifikationen von Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Psychosomatischer Medizin
ICD-11 Klassifikationen von Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Psychosomatischer Medizin
Es gibt weiterhin Vorbehalte von einigen Vertretern der Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Psychosomatischer Medizin, das diagnostische Etikett „FMS“ zu benutzen. Im ICD-10 erfüllen viele FMS-Patienten die Kriterien einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung [6]. Diese diagnostische Kategorie wird im ICD-11 im Kapitel „Mental, behavioural or neurodevelopmental disorders“ durch die körperliche Belastungsstörung (somatic symptom disorder) ersetzt ([Tab. 4]) [7]. Die klinische Erfassung der B-Kriterien (unangemessene Kognitionen, Emotionen und Verhalten in Bezug auf die körperlichen Symptome) ist problematisch [8]. Einige FMS-Patienten erfüllen die Kriterien einer körperlichen Belastungsstörung [9]
[10].
Tab. 4 Diagnostische Kriterien der körperlichen Belastungsstörung [7]
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Neue diagnostische Kriterien des FMS
Neue diagnostische Kriterien des FMS
Die immer noch zur Diagnose des FMS verwendeten Klassifikationskriterien des American College of Rheumatology (ACR) (Wolfe 1990) [11] wurden 2010 durch die vorläufigen diagnostischen ACR Kriterien ersetzt. Die 1990 Kriterien eines CWP wurden modifiziert: Es müssen mindestens 7 von 19 Schmerzorte im Widespread Pain Index (WPI) vorliegen. Weiterhin wurde das Kriterium der mindestens 11 von 18 druckschmerzhaften Tenderpoints durch vom Arzt zu erhebenden körperliche und psychische Symptome ersetzt [12]. In der Folge wurden diese diagnostischen Kriterien von der Arbeitsgruppe zweimal revidiert. Da das ACR beschloss, keine diagnostischen Kriterien mehr zu unterstützen, haben die sogenannten 2011 und 2016 Kriterien nicht mehr den ACR-Zusatz. Die 2011-Kriterien ersetzten die (aufwendige) Erfassung weiterer Symptome durch die Selbstauskunft von Patienten in einem Fragebogen, der Poylsymptomatic Distress Scale (PDS) (auch Fibromyalgiesymptomfragebogen genannt) [13]
[14] ([Tab. 5]). Die Kriterien eines FMS sind erfüllt, wenn mindestens 5 Punkte in der Somatic Severity Scale und mindestens 7 Schmerzorte in der RPS bzw. mindestens 7 Punkte in der Somatic Severity Scale und mindestens 5 Schmerzorte in der RPS positiv sind [13].
Tab. 5 Der Fibromyalgiesymptomfragebogen [14]
Beschwerdefragebogen
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I. Bitte geben Sie an, wie ausgeprägt die folgenden Beschwerden in der letzten Woche bei Ihnen waren, in dem Sie das entsprechende Kästchen ankreuzen.
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0: Nicht vorhanden
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1: Geringfügige oder mild ausgeprägt; im Allgemeinen gering und/oder gelegentlich auftretend
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2: Mäßige oder deutlich ausgeprägt; oft vorhanden und/oder mäßige Intensität
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3: Stark ausgeprägt: ständig vorhandene, lebensbeeinträchtigende Beschwerden
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Tagesmüdigkeit
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□ 0
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□ 1
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□ 2
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□ 3
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Probleme beim Denken oder Gedächtnis
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□ 0
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□ 1
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□ 2
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□ 3
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Morgenmüdigkeit müde (nicht erholsamer Schlaf)
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□ 0
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□ 1
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□ 2
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□ 3
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II. Wurden Sie in den letzten 6 Monaten durch eines der folgenden Symptome geplagt?
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Schmerzen oder Krämpfe im Unterbauch:
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□Ja (1)
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□Nein (0)
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Depression:
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□Ja (1)
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□Nein (0)
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Kopfschmerz:
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□Ja (1)
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□Nein (0)
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III. Bitte geben Sie an, ob Sie in den letzten 7 Tagen Schmerzen oder Berührungsempfindlichkeit in den unten aufgeführten Körperregionen hatten.
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Bitte kreuzen Sie das jeweilige Kästchen an, wenn diese Körperregion schmerzhaft oder druckempfindlich ist. Bitte bewerten Sie die rechte und linke Seite getrennt.
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□ Schulter, links □ Schulter, rechts
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□ Oberschenkel, links □ Oberschenkel, rechts
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□ Kreuz □ Oberer Rücken (Brustwirbelsäule) □ Nacken
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□ Hüfte, links □ Hüfte, rechts
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□ Unterschenkel, links □ Unterschenkel, rechts
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□ Oberam, links. □ Oberarm, rechts
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□ Kiefer, links □ Kiefer, rechts
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□ In keiner der genannten Körperregionen Schmerzen
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□ Unterarm, links □ Unterarm, rechts
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□ Brustkorb □ Bauch
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IV. Waren die Beschwerden, die in den Fragen I-III aufgeführt sind, in der Regel in den letzten 3 Monaten vorhanden?
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□Ja
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□Nein
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Studien zeigten, dass mit dem 2011 Kriterium von mindestens 5 Schmerzorten und mindestens 7 Punkten in der somatischen Symptomskala auch Patienten mit regionalen Schmerzsyndromen die Kriterien eines FMS erfüllten [15]. Die 2016 Kriterien fordern daher zusätzlich, dass in mindestens 4 von 5 Körperregionen (Ausnahme Kopf, Gesicht, Bauch) Schmerzen angegeben werden müssen [16].
Die vorläufigen diagnostischen ACR 2010 Kriterien forderten, dass andere Erkrankungen, welche die Symptome besser erklären, ausgeschlossen werden müssen [12]. Die 2011 und 2016 Kriterien stellen fest, dass die Diagnose eines FMS gültig ist, wenn die diagnostischen Kriterien erfüllt sind, unabhängig ob eine andere Erkrankung vorliegt oder nicht [13]
[16]. Als Kompromiss langer Diskussionen in der Autorengruppe, wurde auf Initiative des Verfassers dieses Beitrages ergänzt, dass es bei Vorliegen einer Erkrankung, welche die Symptome auch erklären kann, im Ermessen des Arztes liegt, die Diagnose eines FMS zu stellen [16].
In 2019 publizierte Analgesic, Anesthetic, and Addiction Clinical Trial Translations Innovations Opportunities and Networks (ACTTION), eine gemeinsame Arbeitsgruppe der U.S. Food and Drug Administration (FDA) und der American Pain Society (APS) eigene diagnostische Kriterien ([Tab. 6]) [17]. Die Autoren betonen, dass die Diagnose einer anderen Schmerzstörung die Diagnose eines FMS nicht ausschließt. Eine klinische Untersuchung auf andere Erkrankungen, welche die Beschwerden vollständig erklären oder zur Schwere der Beschwerden beitragen, soll vor der Diagnose eines FMS erfolgen. Diese Empfehlung berücksichtigt aus Sicht des Autors die klinische Realität von Mischbildern von Arthrose und/oder entzündlich rheumatischen Erkrankungen und /oder myofaszialen Schmerzsyndromen mit dem FMS.
Tab. 6 Analgesic, Anesthetic, and Addiction Clinical Trial Translations Innovations Opportunities and Networks (ACTTION) diagnostische Kriterien der Fibromyalgie [16]
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Problematisch an den AAPT Kriterien ist der Einschluss von Kopf,- Gesichts, - und Bauchschmerzen in die Anzahl der geforderten Schmerzorte. Diese Schmerzorte werden von den 2016 Kriterien explizit ausgeschlossen, damit andere definierte chronische Schmerzsyndrome wie Spannungskopfschmerzen, temporomandibuläre Störungen und funktionelle Bauchschmerzsyndrome nicht in die diagnostischen Kriterien des FMS einfließen. Die 2016 Kriterien sind daher strikter als die AAPT Kriterien. In einer Befragung einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe mit validierten Fragebögen im Jahr 2019 erfüllten 3,4% der Teilnehmer die 2016 und 5,7% die AAPT Kriterien. Kappa (Grad der Übereinstimmung) war 0.65. 2016 – „Fälle“ wiesen eine höhere Symptomlast auf als AAPT Fälle [18]. In einer Studie mit italienischen Patienten mit unterschiedlichen chronischen Schmerzsyndromen, war die korrekte Klassifikation (bezogen auf die klinische Diagnose eines FMS) 85% für die 2011 Kriterien, 84% für die 2016 Kriterien und 82% für die AAPT Kriterien [19].
Die 2016 und AAPT Kriterien eliminieren die Frauenlastigkeit der FMS-Diagnose nach den ACR 1990 Klassifikationskriterien, da auch in der allgemeinen Bevölkerung Frauen mehr durchschmerzhafte Tenderpoints als Männer haben.
Aus Sicht des Autors ist es bei Arztbriefen empfehlenswert, die für die FMS-Diagnose verwendeten diagnostischen Kriterien zu nennen [Abb. 1].
Abb. 1 Die 9 Schmerzregionen der Analgesic, Anesthetic, and Addiction Clinical Trial Translations Innovations Opportunities and Networks (ACTTION) diagnostischen Kriterien des Fibromyalgiesyndroms.
Pathophysiologie
Es besteht weitgehender Konsens in der Grundlagenforschung, dass ein wesentlicher pathophysiologischer Mechanismus des FMS eine veränderte zentrale Reizverarbeitung ist. Komponenten der zentralen Sensitivierung sind unzureichende deszendierende Schmerzhemmung, Veränderungen der Konnektivität von Hirnarealen, neuroplastische Größenänderungen von Hirnarealen, neuroinflammatorische Prozesse und Gliazellaktivierung [20].
Kontroversen bestehen über die Bedeutung von pathologischen Befunden an den C-Nervenfasern (small fiber pathology), diagnostiziert mittels intraepidermaler Nervenfaserdichte oder Hornhautmikroskopie. Einige Autoren behaupteten, dass das FMS eine Fehldiagnose bei Patienten mit Small Fiber Neuropathie ist [21]. Eine systematische Übersichtsarbeit mit Einschluss von 8 Studien mit 222 Patienten fand eine Prävalenz von pathologischen small fiber Befunden bei 40% (95% CI 39–60%) der FMS-Patienten [22]. Diese Befunde haben dazu geführt, dass in den USA FMS-Patienten mit pathologischen Befunden bei intraepidermaler Nervenfaserdichte oder Hornhautmikroskopie mit Immunglobulinen oder Immunsuppressiva behandelt werden (Clauw, persönliche Mitteilung).
Folgende Argumente sprechen gegen die Annahme, dass Untergruppen des FMS eine Small Fiber Polyneuropathie zu Grunde liegt:
Die klinischen Symptome einer Small Fiber Neuropathie unterscheiden sich von denen des FMS [23].
Pathologische Befunde an den kleinen Nervenfasern werden auch bei Patienten mit schmerzlosen neurologischen Erkrankungen gefunden [24]
[25].
Tierstudien weisen darauf hin, dass sich die intraepidermale Faserdichte durch vermehrte zentralnervöse Aktivität reduziert [25]
[26].
Klinische Praxis
Das FMS ist eine Kontinuumerkrankung
Eine diskrete Krankheit liegt vor oder nicht, z. B. Myokardinfarkt. Bei vielen Erkrankungen sind die Symptome kontinuierlich ausgeprägt, z. B. Ausmaß der Koronarstenose, Höhe des Blutzuckers oder systolischen Blutdrucks, Anzahl der Schmerzorte, Ausmaß der Niedergeschlagenheit. Auf der Basis von klinischen Studien und Expertenkonsens werden Grenzwerte festgelegt, welche das Krankheitsbild definieren. Durch Änderung der Grenzwerte kann sich die Prävalenz der Erkrankung ändern, so geschehen mit der Erniedrigung der Grenzwerte für eine arterielle Hypertonie von 140/80 mmHg auf 130/90 mmHg durch das American College of Cardiology (ACC) und die American Heart Association (AHA) [27].
Wiederholte Befragungen von Patienten der US National Data Bank of Rheumatic Diseases haben gezeigt, dass einige Patienten im Laufe der Zeit um den Grenzwert eines FMS oszillieren. Bei einem Gesamtscore des PDS von 10 oder 11 sind die Kriterien eines FMS nicht mehr erfüllt, die /der Betroffene ist jedoch nicht beschwerdefrei / in Remission [28]. Die PDS bietet die Möglichkeit, den Kontinuumcharakter des FMS und damit partielle oder vollständige Remissionen zu erfassen. Es gibt noch kein international anerkanntes Kriterium einer Remission des FMS. Zusammen mit Fred Wolfe hat der Autor einen PDS Score von < 5 vorgeschlagen [29].
Schweregradeinteilungen des FMS
Sowohl für körperliche Erkrankungen (z. B. Leberzirrhose, Herzinsuffizienz), funktionelle Störungen (z. B. Reizdarmsyndrom) und seelische Störungen (z. B. depressive Störungen) liegen Schweregradeinteilungen vor, welche Art und Umfang der Therapien bestimmen. Es gibt keine international akzeptierte Schweregradeinteilung des FMS. Aus klinischer Sicht lassen sich aufgrund der anamnestisch erhobenen Einschränkungen in Alltagsfunktionen (Beruf, Hausarbeit, Familie, Sexualität, Freizeit) folgende Schweregrade bestimmen:
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Leicht: Keine oder geringe Beeinträchtigungen
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Mittelschwer: Mäßige Beeinträchtigungen
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Schwer: Ausgeprägte Beeinträchtigungen
Für Studien kann eine Schweregradeinteilung an Hand der Scores der PDS [29), des Gesundheitsfragebogens für Patienten, Modul körperliche Beschwerden PHQ 15 [30] und der Fibromyalgia Impact Scale [31] vorgenommen werden.
Der Schweregrad des FMS (Ausmaß der Beschwerden und Beeinträchtigungen) wird v. a. durch psychische Komorbiditäten bestimmt [32].
Eine Schweregradeinteilung ist wichtig für eine abgestufte Versorgung des FMS. Leichte Fälle bedürfen keiner spezifischen Therapie außer der Ermutigung bzw. Verstärkung eines gesunden Lebensstils (körperliche, geistige und soziale Aktivität). Bei schweren Fällen des FMS ist eine multimodale Therapie (Bewegungstherapie, Psychotherapie, Physiotherapie), gegebenenfalls auch in Kombination mit Medikamenten indiziert [33].
Komorbides FMS
Die Prävalenz eines FMS bei Patienten mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen beträgt zwischen 15% und 20%. Prospektive Studien haben gezeigt, dass eine rheumatoide Arthritis ein Risikofaktor für die Entwicklung eines FMS ist [34]. 10% der Arthrosepatienten und bis zu 25% der Patienten mit chronischen unspezifischen Rückenschmerzen erfüllen die Kriterien eines FMS. Patienten mit komorbidem FMS berichten über stärkere Schmerzen und Beeinträchtigungserleben [35].
Da die subjektive Schmerzintensität in einige Aktivitätsscores der Rheumatologie wie dem DAS-28 oder dem BASDAI eingeht, kann ein komorbides FMS eine unzureichend behandelte entzündliche Aktivität vortäuschen. Patienten mit klinisch geringer oder fehlender entzündlicher Aktivität, jedoch mit Klagen über starke Schmerzen, Müdigkeit und Beeinträchtigungen finden sich in allen rheumatologischen Praxen. Diese Patienten sollen nicht mit einer Eskalation der antiinflammatorischen Therapie, sondern mit leitlinienempfohlenen Therapieverfahren des FMS (Psychologische Therapien, zentralwirksame Schmerzmodulatoren) behandelt werden [33].
Weiterhin weisen Studien darauf hin, dass die Erfolgsaussichten von Biologicals bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen [37]
[38] sowie operativer Eingriffe wie Gelenkersatz bei Arthrose [39] oder Spondylodesen bei chronischen Rückenschmerzen [40] bei Patienten mit komorbidem FMS geringer als bei Patienten ohne komorbides FMS sind.
Leitlinien zur Behandlung des FMS
Leitlinien zur Behandlung des FMS
Die aktualisierten Empfehlungen der European League Against Rheumatism und der deutschen S3-Leitlinie empfehlen als Erstlinientherapien nicht-medikamentöse Therapien wie aerobes Training mit niedriger Intensität und psychologische Verfahren wie Schmerzbewältigungstraining. Beide Leitlinien empfehlen die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung psychischer Komorbiditäten [33]
[41].
Stellenwert psychotherapeutischer Verfahren
Stellenwert psychotherapeutischer Verfahren
Bezüglich verschiedener psychologischer Verfahren liegen inzwischen systematische Übersichtsarbeiten von randomisierten kontrollierten Studien zu achtsamkeitsbasierter Stressreduktion [42], Biofeedback [43], Hypnotherapie [44] und kognitiven Verhaltenstherapien (live, internetbasiert) [45]
[46] vor. Die systematischen Übersichtsarbeiten belegen eine Wirksamkeit der Verfahren auf mehrere Kernsymptome des FMS (Schmerz. Müdigkeit, depressive Stimmungslage, Beeinträchtigungserleben) – im Vergleich zu den üblichen Kontrollgruppen psychologischer Therapien wie übliche Behandlung oder Wartegruppe. Ein Vergleich zu diesen Kontrollgruppen ist jedoch nicht „fair“, weil die Kontrollgruppen weniger intensiv (Anzahl der Sitzungen Erfahrung der Behandler) behandelt werden. Kognitive Verhaltenstherapien unterschieden sich nicht von anderen aktiven Therapieverfahren (z. B. aerobes Training, Physiotherapie), wenn diese dieselbe Therapieintensität erhielten [45]. Jeweils eine methodisch hochwertige randomisierte kontrollierte Studie mit psychodynamischer Therapie und achtsamkeitsbasierter Stressreduktion zeigte keine Überlegenheit gegenüber einem „fairen“ psychologischen Placebo [47].
Im Gegensatz zu medikamentösen Therapien sind bei kognitiven Verhaltenstherapien – im Vergleich zu den üblichen Kontrollgruppen- anhaltende positive Effekte auf die Kernsymptome des FMS bei Untersuchungen 6 und 12 Monate nach Therapieende nachweisbar [45].
Aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten zur Behandlung chronischer Schmerzen, ist der Wirksamkeitsnachweis von internetbasierten psychologische Verfahren von Interesse [46]. Diese Behandlungen stehen in Deutschland noch nicht in der Routineversorgung zur Verfügung.
Neue psychotherapeutische Verfahren
Neue psychotherapeutische Verfahren
Bei FMS-Patienten lassen sich im Vergleich zu gesunden und zu Patienten mit entzündlich-rheumatische Erkrankungen mehr körperliche (inkl. sexueller) und emotionale Missbrauchserfahrungen und ungelöste emotionale Konflikte nachweisen. Im Sinne einer Differenzialindikation psychotherapeutischer Verfahren ist eine methodisch hochwertige RCT mit Emotional Awareness and Expression Therapy (EAET) von Interesse, die eine Überlegenheit in der Reduktion von FMS- Symptomen im Vergleich zu einer Wartegruppe, aber für einige Variablen auch zu einer „fairen“ Kontrollgruppe (kognitive Verhaltenstherapie) zeigte [48]. Ein deutschsprachiges Manual der EAET liegt vor (Beutel, persönliche Mitteilung). Das Verfahren, das Elemente der Tiefenpsychologie und Psychodrama verbindet, ist noch nicht in der Routineversorgung verfügbar.
Auch die systolische Extinktionstherapie (Kombination von Barorezeptorentraining mit operanter Verhaltenstherapie) bei FMS-Patienten mit arterieller Hypertonie unter Stress ist aktuell eine experimentelle Methode [49].
Neue Medikamente?
Leitlinienempfohlene Medikamente sind Amitriptylin, Duloxetin und Pregabalin [50]. Aufgrund der differenten Wirkung auf nicht-schmerzhafte Symptome des FMS setzt der Autor Amitriptylin und Pregabalin bevorzugt bei ausgeprägten Schlafstörungen, Duloxetin bei depressiven Störungen und Duloxetin und Pregabalin bei generalisierter Angststörung ein. Sowohl systematische Übersichtsarbeiten als auch die klinische Erfahrung zeigt, das nur ca. 30% der Patienten auf die Therapie ansprechen im Sinne einer relevanten Symptomreduktion und akzeptablen Verträglichkeit. Die Mehrzahl der Patienten bricht einen Behandlungsversuch wegen Wirkungslosigkeit und/ oder Nebenwirkungen ab. Häufige Gründe für Therapieabbruch unter Amitriptylin und Pregabalin sind Benommenheit und Gewichtszunahme, Sehstörungen unter Pregabalin und gastrointestinale Nebenwirkungen unter Duloxetin. Sogenannte Absetzphänomene sind insbesondere unter Duloxetin zu beachten. Sie machen ein mehrwöchiges Ausschleichen der Medikation notwendig.
Es besteht daher ein Bedarf an Medikamenten mit einem anderen Wirkungsprofil als Antidepressiva und Antikovulsiva. Die Liste der Medikamente, welche in RCTs keine Überlegenheit gegenüber Placebo zeigten bzw. in keinen weiteren Studien getestet wurden, ist lang [51]. Nach Ansicht des Autors sind cannabisbasierte Arzneimittel eine Behandlungsoption. Die beiden am besten charakterisierten Cannabinoide der Hanfpflanze sind Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Beide haben analgetische und schlafanstoßende und evtl. antiinflammatorische Wirkung. Zwei kleine RCTs mit Nabilon, einem synthetischen THC-Analogon, waren nach den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin nicht überzeugend [52]. Fallserien belegen bei einzelnen Patienten belegen eine relevante Reduktion von Schmerzen, innerer Anspannung und Schlafstörungen [53]. Wie bei den etablierten Medikamenten liegen aktuell keine Variablen vor, die ein Ansprechen auf die Therapie vorhersagen. Die medizinischen Dienste der meisten Bundesländer sind bei den Anträgen auf Kostenübernahme einer Therapie mit cannabisbasierten Arzneimittel sehr restriktiv. RCTs mit cannabisbasierten Arzneimittel sind in Planung.
Ausblick
In Italien wurde mit Unterstützung des italienischen Gesundheitsministeriums ein internetbasiertes FMS-Register erstellt. Daten können von allen Ärzten, die Mitglieder der Italienischen Gesellschaft für Rheumatologie sind und ein spezielles Interesse am FMS haben, eingegeben werden. Das Register dient sowohl der Dokumentation des Krankheits- und Therapieverlaufs, der Rekrutierung von Patienten für klinische Studien und der Erfassung von „Real world data“. Weiterhin sollen die Daten dem italienischen Gesundheitsministerium bei der Erreichung seiner Ziele der Prävention chronischer Schmerzen und der Entwicklung einer Präzisionsmedizin helfen [54]. Ein solches Register wäre auch für Deutschland wünschenswert.
Resumé
Das FMS bleibt ein kontroverses und daher wissenschaftlich und klinisch spannendes Krankheitsbild. Neue psychologische und medikamentöse Behandlungsoptionen sind verfügbar. Rheumatologen haben eine wichtige Rolle in der Diagnose (Ausschluss entzündlich rheumatischer Erkrankungen) und in der Langzeitbetreuung von Patienten mit sekundärem (komorbiden) FMS bei entzündlich rheumatischen Erkrankungen. Der für die meisten Patienten mit FMS zur Behandlung komorbider funktioneller Schmerzsyndrome (z. B. Reizdarmsyndrom, temporomandibuläre Dysfunktion) und psychischer Störungen notwendige Zeitaufwand kann eher in schmerzmedizinischen und ärztlich-psychotherapeutischen als in rheumatologischen Settings aufgebracht werden.