Einleitung
Die motorische Elektroneurografie ist die Bestimmung und Auswertung der elektrischen
AntwortPotenziale stimulierter Muskeln, die durch elektrische Reizung eines
peripheren Nervs ausgelöst werden [1].
Die motorische Neurografie ist neben der sensiblen Neurografie und der
Elektromyografie eine wichtige Methode in der Abklärung von
neuromuskulären Erkrankungen.
Sie wird in der Routine meist durch Medizinisch- technische Assistentinnen oder
Assistenten durchgeführt.
Gut abgeleitete, reproduzierbare Potenziale sind die Voraussetzung für die
ärztliche Befundung und richtige Interpretation im Kontext mit dem klinisch
neurologischen Befund.
In dem Beitrag sollen häufige Fehlerquellen erläutert und die
Behebung der Ursachen erklärt werden.
Methode
Das Prinzip der motorischen Neurografie ist eine supramaximale elektrische Reizung
eines motorischen Nervs und die Ableitung eines MuskelsummenaktionsPotenzials (MSAP)
über einem von diesem Nerv innervierten Muskel.
Die elektrische Reizung erfolgt mit Oberflächenelektroden, am besten mit
Metallelektroden, da diese hygienischer als Filzelektroden sind. Die Kathode (der
Minuspol) wird in Richtung des abzuleitenden Muskels gerichtet und über dem
Nerv aufgesetzt. Die Stimulationsdauer beträgt 0,2 ms und sollte
möglichst nicht überschritten werden. Die
Stimulationsintensität wird langsam gesteigert (in 3–5 mA Schritten)
bis zur supramaximalen Stimulation. Dies bedeutet, dass 10–20%
über dem Schwellenwert des maximal großen MSAP gereizt wird.
Die Ableitung erfolgt in der Regel ebenfalls mit Oberflächenelektroden, am
besten als Klebeelektroden oder es können auch Metallelektroden mit Pflaster
fixiert werden. Die Ableitelektrode wird über der Mitte des Muskels
(Muskelbauch) geklebt. Die Referenzelektrode wird über einer elektrisch
stummen Region, wie dem Sehnenansatz oder einem Knochenvorsprung platziert.
Zur Bestimmung der motorischen Nervenleitgeschwindigkeit (motorisch NLG) ist eine
Stimulation des Nerven an 2 unterschiedlichen Punkten erforderlich, da die
neuromuskuläre Überleitungszeit an der Endplatte sowie die
Erregungsausbreitung im Muskel bei Stimulation des Nerven an einem Ort in die Latenz
mit eingeht. Diese Zeiten sind jedoch nicht bekannt bzw. messbar.
Zur Berechnung der motorischen NLG wird die Strecke zwischen beiden
Stimulationspunkten (Kathode) durch die Differenz der beiden Latenzen dividiert
(motorische NLG=Strecke/Latenzdifferenz).
Die Erdelektrode sollte zwischen Ableit- und Reizelektrode positioniert werden.
Häufige Fehler der motorischen Neurografie
Häufige Fehler der motorischen Neurografie
Häufige Fehler bei der motorischen Neurografie kommen sowohl bei der
Stimulation als auch bei der Ableitung über innervierten Muskeln vor. Auch
durch fehlenden oder fehlerhaften Einsatz der Erdelektrode oder zu geringe
Hauttemperatur kann die Ableitung verfälscht werden. Weitere Fehler
können bei der Bezeichnung und Messung der Potenziale auftreten.
Fehler bei der Stimulation
Die Stimulation mit ausreichender (supramaximaler), aber nicht zu hoher
Intensität an richtiger Stelle ist für eine gute motorische
Neurografie sehr wichtig. Folgende Fehler sind möglich:
-
Keine supramaximale Stimulation Die Stimulation muss immer
supramaximal erfolgen, da nur dann alle Nervenfasern auch die schnellsten
leitenden Nervenfasern erregt und damit auch alle Muskelfasern aktiviert
werden. Dies bedeutet, dass 10–20% über dem
Schwellenwert des maximal großen MSAP gereizt wird. Bei nicht
supramaximaler Stimulation sind die MSAP und die Latenzen nicht verwertbar
(Amplituden kleiner, Latenzen länger, NLG vermindert). Bei tiefer
liegenden Nerven ist eine supramaximale Stimulation mit der empfohlenen
Reizdauer von 0,2 ms manchmal nicht ausreichend, die Reizdauer kann dann
schrittweise bis auf 1,0 ms erhöht werden. Dabei muss auf eine
mögliche Mitstimulation benachbarter Nerven geachtet werden. Tiefer
liegende Nerven sind z. B. der N.tibialis in der Kniekehle , der
N.medianus am Oberarm oder über dem Erbʼschen Punkt
(supraclavikulär). Durch massive Wassereinlagerungen ins Gewebe an
den Extremitäten (Ödeme) können Nerven ebenfalls
schlechter stimulierbar sein und es wird eine höhere
Stromstärke benötigt.
-
Vertauschen von Kathode und Anode Die Kathode zeigt bei der
motorischen Neurografie immer in Richtung des ableitenden Muskels. Werden
Kathode und Anode vertauscht dann verlängert sich die Latenz (um
0,2–0,5 ms)
-
Die Kathode wird nicht direkt über dem zu stimulierenden Nerv
aufgesetzt, sondern etwas verschoben Dadurch werden höhere
Stromstärken zur supramaximalen Reizung benötigt mit daraus
resultierender Schmerzhaftigkeit beim Patienten. Daher sollte man die
anatomische Lage der Nerven sehr gut kennen und die Kathode nah am Nerv
platzieren. Durch nicht korrektes Aufsetzen der Kathode können auch
benachbarte Nerven mit stimuliert werden und damit gemischte Potenziale von
verschiedenen motorischen Nerven aufgezeichnet werden. Zum Beispiel ist eine
Mitstimulation des N.ulnaris bei eigentlich gewollter Stimulation des
N.medianus am Handgelenk und Ableitung über dem Thenar
möglich, da sich am Thenar (Daumenballen) sowohl Medianus- als auch
Ulnaris-innervierte Muskeln befinden.
-
Zu hohe Stimulationsintensität Eine zu hohe
Stimulationsintensität kann zu einem großen
Stimulationsartefakt führen. Dadurch kann der Abgang des MSAP
schlecht abgrenzbar sein. Eine zu hohe Stimulationsintensität kann
auch zu einer Mitinnervation benachbarter Nerven und einer
Veränderung der MSAP führen.
Fehler bei der Ableitung
Bei richtiger Position der Ableitelektrode über dem Muskelbauch kommt es
zu einem scharf negativen Abgang des MSAP (Definitionsgemäß wird
der Abgang nach oben als negativ bezeichnet). Ein nicht negativer Abgang,
Veränderungen von Amplitude und Form der MSAP, kann verschiedene
Ursachen haben.
Bei initial positivem Abgang des MSAP (also nach unten) können folgende
Fehler vorliegen:
-
Falsche Position der Ableitelektrode Die Ableitelektrode ist nicht
über dem Muskelbauch und damit nicht über der
Endplattenregion platziert. Dies muss durch Umkleben der Ableitelektrode
behoben werden bis ein scharf negativer Abgang des MSAP aufgezeichnet
wird.
-
Ableit- und Referenzelektrode sind vertauscht Beim Vertauschen von
Ableit- und Referenzelektrode ist das MSAP gespiegelt mit initial
positivem Abgang. Dies muss durch Korrektur und Tauschen der Elektroden
behoben werden.
Bei veränderter Form und Amplitude des MSAP können folgende
Fehler/Ursachen zu Grunde liegen:
-
Beide Ableitelektroden liegen zu nah beieinander und damit beide
über aktivem Muskelgewebe Die Folge wären zu
kleine und deformierte MSAP, da beide Elektroden dann über
aktivem Muskelgewebe sitzen und es damit zu einer Auslöschung
einzelner Potenzialanteile kommt. Die Referenzelektrode soll jedoch
über einer elektrisch nicht aktiven Region (also kein Muskel)
platziert werden. Ableitelektroden mit festem Abstand (z. B.
Blockelektroden) sind daher für die Ableitung eines MSAP nicht
geeignet. Ableit- und Referenzelektrode sollten daher immer variabel
platzierbar sein.
-
Simultane Stimulation benachbarter Nerven Das MSAP zeigt mehrere
Potenzialanteile (Phasen), ist z. B. doppelgipflig bei der
Mitstimulation des N.ulnaris bei Stimulation des N.medianus am
Handgelenk und Ableitung über dem Thenar. Die
Stimulationsintensität sollte verringert werden und die Kathode
direkt auf dem zu stimulierenden Nerven aufgesetzt werden.
-
Keine supramaximale Stimulation Die MSAP sind bei proximaler und
distaler Stimulation vergleichbar. Bei nicht supramaximaler Stimulation
kann das distale MSAP kleiner sein als das proximale oder auch umgekehrt
(proximales MSAP kleiner als distales MSAP).
-
Innervationsanomalien Bei Innervationsanomalien kann das MSAP bei
distaler Stimulation von der Amplitude niedriger als bei proximaler
Stimulation sein. z. B. Martin-Gruber – Anastomose
(Abgabe von Fasern des N.medianus an Fasern des N.ulnaris am Unterarm)
bei distaler Stimulation des N.medianus MSAP niedriger als bei
proximaler Stimulation [2]. Ein
weiteres Beispiel ist das Vorhandensein eines N.peronaeus accessorius,
bei distaler Stimulation des N.peroneus ist das MSAP niedriger als bei
proximaler Stimulation [3]
Fehler bei der Anwendung der Erdelektrode
Alle Untersuchungen sollten mit einer Erdelektrode durchgeführt werden,
da dadurch Artefakte (z. B. 50- Hz- Artefakte) reduziert werden.
Folgende Fehler können auftreten:
-
Die Erdelektrode ist zu locker Die Erdelektrode sollte immer guten
Kontakt mit der Haut haben.
-
Erdelektrode aus Stoff ist zu trocken Es sollte immer auf eine
gewisse Feuchtigkeit der Erdelektrode geachtet werden.
-
Falsche Position der Erdelektrode Bei fehlender oder falscher
Position der Erdelektrode kann ein großer Stimulationsartefakt
mit Schwierigkeiten der Abgrenzung des Potenzialbeginns auftreten. Die
Erdelektrode sollte deshalb immer zwischen Ableit- und Reizelektrode
(Kathode) positioniert werden.
-
Kabelbruch Insbesondere bei fehlenden MSAP sollten alle Kabel auf
Brüche überprüft werden.
-
Umliegende elektrische Geräte Bei weiter bestehendem 50-
Hz-Artefakt andere elektrische Geräte (z. B. Lampe,
Handy…) ausschalten.
Fehler beim Setzen der Parameter und bei der Parameterberechnung
-
Latenz Die Latenz ist die Zeit vom Reizbeginn bis zum Beginn des
MSAP, also dem negativen Abgang von der Grundlinie. Darin enthalten sind
die Depolarisation des Nerven, die Zeit der Nervenleitung vom
Stimulationsort bis zur Endplatte, die neuromuskuläre
Übertragungszeit und die Zeit bis zur Muskelerregung. Fehler
treten bei der Bestimmung der Latenz bei unterschiedlichen
Verstärkungen oder unterschiedlichen Zeitachsen auf. Die Latenz
wird mit höherer Verstärkung kürzer gesetzt. Die
Latenz verlängert sich, je stärker die Zeitachse
auseinandergezogen ist. Daher sollte die Messung der Latenz immer bei
gleicher Verstärkung (z. B. 0,2mV/Div) und
gleicher Zeitachse (5ms/Div) durchgeführt werden.
-
Distal motorische Latenz (DML) Sie bezeichnet die Zeit bis zum
Beginn des MSAP bei distaler Stimulation. Diese ist abhängig von
der Strecke zwischen Reiz- und Ableitelektrode und der Temperatur (bei
niedrigen Temperaturen, langsamere Leitung). Daher ist für die
Messung der distal motorischen Latenz zu beachten, dass sie immer bei
gleicher Entfernung (z. B. 7 cm bei Stimulation des
N.medianus am Handgelenk) und warmen Extremitäten erfolgt.
-
Amplitude Die Amplitude wird zwischen Grundlinie und negativer
Spitze (negative Amplitude, base -to-peak ) oder von der negativen zur
positiven Spitze (peak-to-peak Amplitude) gemessen. Die Amplitude ist
nur bei supramaximaler Stimulation zu verwerten und gilt als Maß
für die Zahl der erregten Nerven- und Muskelfasern. Zu beachten
ist, dass die Amplituden mit zunehmendem Abstand zwischen Stimulations-
und Ableitort kleiner werden (bis zu 20%). Grund dafür
ist eine physiologisch unterschiedliche Leitung verschiedener
Nervenfasern (temporale Dispersion) und der damit verbundenen
gegenseitigen Auslöschung einiger Potenzialanteile.
-
Motorische NLG Zur Bestimmung der motorischen
Nervenleitgeschwindigkeit (motorische NLG) ist eine Stimulation des
Nervens an 2 unterschiedlichen Punkten erforderlich. Man berechnet die
Geschwindigkeit durch Division der Strecke zwischen 2 Stimulationsorten
(Kathodenpunkten) durch die Leitungszeit zwischen beiden
Stimulationsorten. Die NLG ist immer die Leitgeschwindigkeit der am
schnellsten leitenden Nervenfasern. Die Strecke zwischen 2
Stimulationsorten sollte wegen der Zunahme des Messfehlers bei kurzen
Distanzen nicht weniger als 10 cm betragen. (z. B.
Abstand zweier Stimulationspunkte unterhalb und oberhalb des Sulcus
ulnaris bei V.a. Sulcus ulnaris Syndrom). Außerdem sollte
während der Längenmessung die Stellung der
Extremität wie bei der Stimulation beibehalten werden
(z. B. bei Messung über einem Gelenk wie dem
Ellenbogengelenk, Stimulation und Messung der Strecke in gleicher
Gelenkposition). Bei nicht Beachtung werden fehlerhafte NLG
berechnet.
Temperatur als wichtiger Einflussfaktor auf die motorische Neurografie
Temperatur als wichtiger Einflussfaktor auf die motorische Neurografie
Die motorische Neurografie sollte bei ausreichend warmen Extremitäten
durchgeführt werden (an den Handflächen
> 33° C, am Innenknöchel 30° C). Bei zu
kalter Hauttemperatur kommt es zu einer Verlängerung der Latenz und Abnahme
der NLG. Dabei wird pro ° C Temperaturabnahme mit einer Zunahme der Latenz
um 0,2 ms und einer Abnahme der NLG um 1,5–2,5 m/s gerechnet. Da
insbesondere die Akren kälter als die proximalen Extremitäten sind
und die Nerven im distalen Abschnitt meist oberflächlich verlaufen, ist
besonders bei der distalen Stimulation auf ausreichende Temperatur zu achten. Die
Hauttemperatur sollte mit einem Thermometer gemessen werden. Ist diese zu niedrig,
dann muss die Haut aufgewärmt werden. Dies kann durch Waschung
(z. B. der Hände) unter warmem Wasser oder eine Wärmelampe
erfolgen.
Beispiele
In der folgenden Abbildung ([Abb. 1]) werden
Kurven des MSAP bei Ableitung über dem Thenar (M.abd.poll.brev.) bei
distaler Stimulation des N.medianus am Handgelenk mit konstanter Strecke von 7 cm
dargestellt. Die erste Kurve zeigt eine regelrechte Ableitung. Bei den folgenden
Ableitungen (Spur 2–4) sind typische Fehler dargestellt. In [Tab. 1] sind die entsprechenden
Stimulationsintensitäten und Messparameter abgebildet.
Abb. 1 Ableitung eines MSAP über dem M.abductor poll breves
(APB) am Thenar mit unterschiedlicher Stimulation des N.medianus. 1. Spur:
normal. supramaximale Stimulation, scharfer negativer Abgang des MSAP,
normale distal motorische Latenz (DML) 2. Spur: Fehler, zu geringe
Stimulationsintensität. längere DML, niedrige Amplitude des
MSAP 3. Spur: Fehler, zu hohe Stimulationsintensität und Kathode
ulnar verrutscht. Positiver Abgang durch Mitstimulation des N.ulnaris 4.
Spur: Fehler, Kathode und Anode vertauscht. Längere DML
Tab. 1 Stimulationsintensitäten (letzte Spalte) und
Messparameter (DML, Amplitude) bei unterschiedlichen Fehlern
entsprechend Spur 1 bis Spur 2 in [Abb.
1.]
|
Links Motorisch Medianus
|
|
Gebiete
|
Lat [ms]
|
Amp [mV]
|
Dauer [ms]
|
Fläche [ms*mV]
|
Stim [mA]
|
|
Supramax
|
3,22
|
11,4
|
6,7
|
40,3
|
9,4
|
|
Submaximal
|
3,81
|
6,3
|
6,6
|
22,4
|
5,4
|
|
Mitstimulation N.ulnaris
|
2,94
|
11,2
|
7,4
|
40,8
|
50,8
|
|
Kathode/Anode vertausch
|
3,94
|
10,2
|
7,0
|
39,7
|
13,4
|
Häufige Fehler bei der motorischen Neurografie kommen sowohl bei der
Stimulation als auch bei der Ableitung über innervierten Muskeln und
durch fehlenden oder fehlerhaften Einsatz der Erdelektrode vor. Weitere Fehler
können bei Nichtbeachtung der Hauttemperatur und bei der Bezeichnung und
Messung der Potenziale auftreten. Im Rahmen der routinemäßigen
Messung der motorischen Neurografie sollten mögliche Fehler erkannt und
vermieden werden. Eine exakte, fehlerfreie motorische Neurografie ist
Voraussetzung für eine richtige Befundung und Interpretation dieser im
Kontext mit dem klinisch neurologischen Befund.