Schlüsselwörter
interdisziplinäre Rehabilitation - Medizinische Rehabilitation - Physikalische Medizin - Rehabilitation
Key words
interdisciplinary rehabilitation - Medical rehabilitation - physical medicine - rehabilitation
Auch in Deutschland haben die Reaktionen auf die Pandemie mit dem SARS-Coronavirus-2
zu erheblichen Einschnitten in fast allen gesellschaftlichen Bereichen
geführt und die Prioritäten der Gesundheits- und Sozialpolitik
dramatisch verschoben. Dies betrifft auch die rehabilitative Versorgung in praktisch
allen ihren Dimensionen. Das folgende Statement der Deutschen Gesellschaft
für Physikalische und Rehabilitative Medizin (DGPRM) möchte
einige Aspekte dieser Entwicklungen aufzeigen und Empfehlungen ableiten. Da die
Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in Deutschland erst seit
wenigen Wochen durchgeführt werden, können die folgenden Aussagen
noch nicht wissenschaftlich, d. h. auf objektiven Daten beruhen, sondern
stellen eine erste Annäherung an das Problem aus Expertensicht dar.
Die Prioritäten der Gesundheitsversorgung wurden in Deutschland seit Anfang
März 2020 auf die folgenden Ziele fokussiert:
-
Die Vermeidung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2 und die
Verlangsamung der Ausbreitungsgeschwindigkeit von CoVID-19
-
Der Sicherstellung einer ausreichenden Akutversorgung
einschließlich Bereitstellung von einer großen Zahl an
Intensivbetten
Dies geschah ganz bewusst zu Lasten sogenannter elektiver medizinischer
Maßnahmen (wie z. B. elektive operative Eingriffe) sowie auch
von Maßnahmen der Rehabilitation (z. B. durch Behandlungs- und
Betretungsverbote). Hinzu kam ein offensichtlicher Mangel an hygienischen
Schutzausrüstungen wie Mund-Nasen-Schutzmasken, Einmalkitteln, Handschuhen,
Desifektionsmitteln und Augenschutz und eine auf die Kliniken konzentrierte
Verteilung dieser knappen Ressourcen. Hiervon waren nicht nur der
primärärztliche Bereich sondern auch die therapeutischen Praxen und
ambulanten Rehabilitationszentren massiv betroffen. Besonders drastisch hat sich
dieser Mangel auch in Alten- und Pflegeinrichtungen ausgewirkt, wo es mehrfach zu
lokalen Ausbrüchen der Pandemie mit zahlreichen (vermeidbaren)
Todesfällen gekommen ist.
Im Folgenden sollen 3 Themenbereiche diskutiert werden:
-
Welchen Bedarf an Rehabilitation haben Patientinnen und Patienten mit
schweren Verläufen der CoVID-19-Erkrankung?
-
Welche Auswirkungen hat der weitgehende Lock-down der Rehabilitation auf
Menschen mit langfristigem Rehabilitationsbedarf (einschließlich
Menschen mit Behinderungen)?
-
Welche (auch langfristigen) Folgen kann die
„Corona-Krise“ auf das Rehabilitationssystem in Deutschland
haben?
-
Welchen Bedarf an Rehabilitation haben Patientinnen und Patienten mit
schweren und kritischen Verläufen der CoVID-19-Erkrankung?
Nach allem was bisher bekannt ist, haben Patientinnen und Patienten mit
schweren Verläufen der CoVID-19-Erkrankung einen hohen Bedarf an
rehabilitativen Interventionen [1].
Diese beinhalten in der Akutphase und der frühen Rehabilitation
im Krankenhaus v. a. atemtherapeutische und
Lagerungsmaßnahmen [2]. Sie
sind wegen der einzuhaltenden Hygienevorschriften für die
Therapeutinnen und Therapeuten besonders aufwändig und
müssen so ausgelegt sein, dass Therapien mit einem hohen
Infektionsrisiko durch andere Maßnahmen kompensiert werden. In
dieser Phase geht es einerseits um die Unterstützung der
Atemfunktion (v. a. auch in der Weaningphase), andererseits um die
Prävention von Komplikationen, wie Thrombosen, Kontrakturen und den
Folgen der immobilisationsbedingten Dekonditionierung [3]. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist
die Verkürzung von Liegezeiten auf der Intensiv- und Normalstation,
um in der pandemischen Lage Behandlungskapazitäten so effektiv wie
möglich einsetzen zu können. Somit ist es essenziell,
dass in allen Krankenhäusern ausreichende Kapazitäten an
qualifizierten Therapeutinnen und Therapeuten zur Verfügung
stehen
[4]
[5]
und dass diese mit den notwendigen Schutzausrüstungen versorgt
werden.
Die Notwendigkeit einer frühestmöglichen Entlassung von
Patientinnen und Patienten mit CoVID-19 eröffnet die Frage nach der
poststationären rehabilitativen Weiterbehandlung. Dies betrifft
nicht nur die gesetzlich verankerte Anschlussrehabilitation sondern in
erheblichem Umfang auch die ambulante oder tagesklinische rehabilitative
Therapie (zu Lasten der Krankenversicherung). Die Verlegung von
CoVID-19 Patientinnen und Patienten in die Kurzzeitpflege ist
medizinisch nicht zu verantworten. Daher müssen in der
ambulanten und stationären Rehabilitation sowohl personelle
Kapazitäten, als auch räumliche Strukturen und
adäquate Prozesse geschaffen werden. Diese müssen
eine sachgerechte Behandlung auch für weiterhin positiv getestete
Patientinnen und Patienten, bei denen ggf. noch eine
Infektiösität besteht, ermöglichen. Hier besteht
dringender und akuter Handlungsbedarf. Klinisch geht es in dieser Phase um
die weitere Verbesserung der Atemfunktion und die Wiederherstellung der
körperlichen Leistungsfähigkeit auf allen Funktionsebenen
(Herz-Kreislaufsystem, Nervensystem, muskuloskelettales System)
[6]. Darüber hinaus sind
die psychischen Folgen der CoVID-19-Erkrankung nach den bisherigen
Erfahrungen als erheblich einzuschätzen [7]], sodass in der frühen
postakuten Phase bereits mit einer psychotherapeutischen Begleitung begonnen
werden muss. Der hier zugrunde liegende Symptomkomplex wird in der
internationalen Literatur als Post-Intensive Care Syndrome (PICS)
bezeichnet [8]
[9].
Wenngleich bisher kaum klinische Erfahrungen oder wissenschaftliche Studien
zur Frage des längerfristigen Rehabilitationsbedarfs bei
Patientinnen und Patienten mit CoVID-19 vorliegen, muss man nach Kenntnis
des Krankheitsbildes mit den oben schon erwähnten pulmonalen und
extrapulmonalen Manifestationen von einem erheblich
längerfristigen Rehabilitationsbedarf ausgehen. Dieser
bezieht sich v. a. auf pulmonale, kardiovaskuläre und neurologische
Schädigungen, muskulo-skelettale Symptome und die psychosozialen
Folgen. Nach bisherigen Erfahrungen zeichnet sich ab, dass v. a.
nach schwereren Erkrankungsverläufen auch bleibende
Schädigungen der Lungenstrukturen, und womöglich von
weiteren Organen verbleiben können. Aufgrund der Erfahrungen um die
Bedeutung frühfunktioneller, rehabilitativer Strategien für
die Genesung von funktionellen und auch strukturellen Erkrankungen sollte in
diesen Fällen das umfassende Poteztial multiprofessioneller
rehabilitativer Therapien genutzt werden. Ob und welchen Einfluss diese auf
den weiteren Genesungsverlauf tatsächlich haben, werden erst
spätere Untersuchungen beweisen müssen.
Bei älteren Patientinnen und Patienten wird zudem eine hohe
geriatrische Expertise und bei Patientinnen und Patienten im
arbeitsfähigen Alter neben der pulmonologisch-internistischen
Expertise auch neurologisches, orthopädisches und
psychosomatisch/psychiatrisches Fachwissen notwendig sein.
Hinzukommen dürften bei einer Reihe von Patientinnen und Patienten
erhebliche soziale Probleme wie Arbeitsplatzverluste, familiäre
Konflikte und finanzielle Probleme die durch die wirtschaftlichen und
sozialen Umwälzungen der Krise ausgelöst werden
können. Dringend notwendig sind also Studien zum
Rehabilitationsbedarf nach überstandener CoVID-19-Erkrankungen
sowie zur Entwicklung und Erprobung von spezifischen
multidisziplinären Rehabilitationsprogrammen (für
die einzelnen Altersgruppen). Diese müssen auch die
extrapulmonalen Manifestationen und die Wiedereingliederung in das
Erwerbsleben und bestehende psychosomatische Folgen mit
einschließen. Hierfür bedarf es einer kurzfristig zur
Verfügung gestellten Finanzierung, was bspw. von der DRV Bund
bereits angestoßen wurde.
Längerfristiger Rehabilitationsbedarf besteht allerdings auch bei
nicht hospitalisierten Patientinnen und Patienten nach mittelschwerem
COVID-19-Verläufen mit pulmonaler Beteiligung, wobei
verlässliche Prozentzahlen über die Häufigkeit
fortbestehenden Rehabilitationsbedarfs noch nicht vorliegen. Für
diese Patientengruppe sollten Versorgungsangebote der
physikalisch-rehabilitationsmedizinischen Langzeitrehabilitation [[10] geschaffen werden.
-
Welche Auswirkungen hat der weitgehende Lock-down der Rehabilitation auf
Menschen mit langfristigem Rehabilitationsbedarf (
einschließlich Menschen mit Behinderungen
)?
Durch den Lock-down standen Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen
kaum noch rehabilitative Behandlungsangebote zur Verfügung. Dies lag
einerseits an der Schließung der meisten Rehabilitationskliniken für
stationäre Heilverfahren, aber auch an der reduzierten Kapazität in
den Praxen für Physio- und Ergotherapie sowie für Logopädie.
Wenngleich diese vom Lock-down nicht unmittelbar betroffen waren, hat der Mangel an
Schutzausrüstungen sowie der enorme Aufwand der notwendigen
Hygienemaßnahmen zu einer drastischen Verringerung der therapeutischen
Kapazitäten geführt (einschließlich einer de-facto
Schließung der Ambulanzen in den Kliniken). Hieraus können
sehr unterschiedliche, teilweise auch bedrohliche Folgen entstehen:
-
Menschen mit schweren Behinderungen erhalten nicht oder nicht in
ausreichendem Maße Therapien, die sie zur Aufrechterhaltung Ihres
Funktionszustandes benötigen. Besonders betroffen und
gefährdet sind Menschen mit Schädigungen, die die
Lungenfunktion primär oder zumindest mit betreffen (z. B.
Querschnittläsionen, Z.n. Lungentransplantationen).
-
Menschen nach akuten und schweren Erkrankungen, wie z. B.
Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall oder Krebserkrankungen haben nach
der Beendigung einer Anschlussheilbehandlung/Anschlussrehabilitation
in den meisten Fällen einen Bedarf an Weiterbehandlung zum Erhalt
und weiteren Verbesserung von Körperfunktionen, zur psychischen
Stabilisierung und zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben.
-
Bei Menschen mit muskuloskelettalen Beschwerden und den bekannten
Risikofaktoren der Schmerzchronifizierung ist zu befürchten, dass
der Aufschub rehabilitativer Interventionen der Chronifizierung Vorschub
leistet mit u.U. gravierenden Folgen für die Betroffenen sowie
für das Sozialsystem
-
Menschen mit Lähmungen, Spastik, drohenden Kontrakturen, welche
eine kontinuierliche Therapie benötigen, droht eine erhebliche
Verschlechterung ihres funktionellen Zustandes.
Ein Großteil der notwendigen langfristigen rehabilitativen Therapien wird von
niedergelassenen PRM Fachätzten/innen und Therapeuten/innen,
ambulanten Rehabilitations- oder Medizinischen Versorgungszentren oder in
Polikliniken geleistet. Der derzeitige Mangel an rehabilitativer
Langzeitversorgung muss dringend behoben werden, in dem die geeigneten
hygienischen, organisatorischen und finanziellen Maßnahmen geschaffen
werden.
Während die beiden vorstehenden Themenbereiche durch
medizinisch-rehabilitatives Wissen und klinische Erfahrung gut untermauert sind,
sind die Folgen der „Corona-Krise“ auf das Rehabilitationssystem in
Deutschland nur schwer abschätzbar. Aus heutiger Sicht sind –
abgesehen von der unwahrscheinlichen Annahme, dass sich langfristig nichts an
unserem Gesundheits- und Rehabilitationssystem ändern wird – 2
wesentliche Szenarien zu diskutieren:
-
Es ist damit zu rechnen, dass der in den vergangenen Jahren
vernachlässigte Infektionsschutz und die Seuchenbekämpfung
auch längerfristig eine stärkere Bedeutung bekommen werden.
Zusammen mit den auch insgesamt begrenzten Ressourcen im Gesundheits- und
Sozialsystem kann dies zu Schwerpunktverschiebungen im
Gesundheitssystem führen, die z. B. mit einer
Bettenreduktion in Rehabilitationskliniken und geringeren Behandlungszahlen
in ärztlichen und Therapiepraxen einhergehen können. Auch im
internationalen Kontext stellt sich die Frage, ob die Prävention zu
Lasten der Rehabilitation ausgebaut wird, oder ob es gelingt, gleichzeitig
zur Verbesserung des Infektionsschutzes auch die für die
Bewältigung von Gesundheitsproblemen Ressourcen zu schaffen,
(auch denjenigen, die durch die COVID-19 Pandemie entstehen) zur
Verfügung stehen.
-
Es ist auch denkbar, dass die in der Krise evident gewordenen Probleme in
unserem Rehabilitationssystem zu einem Nachdenken über eine
Verbesserung der rehabilitativen Versorgung führt. Dabei
geht es z. B. um rehabilitative Strategien im Akutkrankenhaus und
die Schließung von Versorgungslücken zwischen
Krankenhausbehandlung, Kurzzeitpflege, und Anschlussrehabilitation sowie um
die rehabilitativen Langzeitversorgung im ambulanten Bereich. Hier sind die
Probleme einer mangelnden Koordination an den Schnittstellen zur
Rehabilitation und der Zersplitterung von rehabilitativen Leistungen
zwischen verschiedenen Versicherungssystemen bzw. Kostenträgern im
gegliederten System der Versorgung offensichtlich. Es ist zu hoffen, dass es
zu einer stärkeren Berücksichtigung der Bedarfe von Menschen
mit chronischen Krankheiten und Behinderungen sowie nach schweren
Krankheiten oder Operationen und gegebenenfalls auch zur Schaffung neuer
Versorgungsstrukturen kommen wird.
Weiterhin ist sicherzustellen, dass der notwendige Mehraufwand bei der Rehabilitation
von Patientinnen und Patienten nach COVID-19 Erkrankung (z. B.
Quarantänemaßnahmen, SARS-CoV-2 Tests) nicht zu Lasten des
Rehabilitationsbudgets verrechnet werden.
Die Autorinnen und Autoren wünschen sich, dass die angesprochenen Problem der
durch die „Corona-Krise“ evident gewordenen Probleme für die
rehabilitative Versorgung sowohl in der Fachwelt aber auch in der Politik und von
Seiten der Betroffenen konstruktiv diskutiert werden und das kurz- und langfristige
Lösungen entwickelt werden. Die Deutsche Gesellschaft für
Physikalische und Rehabilitative Medizin ist gerne bereit, an solchen Diskussionen
teilzunehmen und aus ihrer Expertise zur Entwicklung von Lösungen
beizutragen.