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DOI: 10.1055/a-1209-0614
Brauchen wir noch Kongresse und Konferenzen mit persönlichem Kontakt? – Kontra
Do we still Need Congresses and Conferences with Personal Contact? – Contra- Die feinen Unterschiede
- All you can eat
- Klimaethik bislang Fehlanzeige
- Neue Formate denken
- Vom CCC lernen
Die unmittelbare Zusammenkunft (lat. congressus) von Menschen ist für die psychiatrische Wissenschaft und Praxis von immensem Wert: Sie ermöglicht einen direkten, offenen Dialog und eine argumentative Auseinandersetzung über unser Fach, wie sie bei der Lektüre von Fachartikeln, beim Anhören von Podcasts und selbst bei virtuellen Web-Meetings nicht stattfinden kann. Und doch bietet die aktuelle Coronakrise mit ihren Einschränkungen der Öffentlichkeit eine Gelegenheit, den bisherigen modus operandi psychiatrischer Kongresse kritisch zu überdenken. Denn bei näherer Betrachtung sind diese gar nicht so offen und für alle zugänglich, wie sie es vielleicht mit Titeln wie „Der Mensch im Mittelpunkt“ (DGPPN Kongress 2015) beanspruchen mögen.
Die feinen Unterschiede
Selbst im Falle erschwinglicher Kongressgebühren für Nicht-Ärzt*innen finden sich doch zahlreiche Hürden für eine egalitäre Teilnahme aller. Ebenso subtil wie wirkungsvoll sind hier die „feinen Unterschiede“ der Dress- und Sprech-Codes, die auf psychiatrischen Kongressen zur Geltung kommen und die indirekt die Stellung der Anwesenden innerhalb des psychiatrischen Betriebs markieren. Damit sind psychiatrische Kongresse immer auch ritualisierte Inszenierungen von Macht und Prestige: Wer ist Key-Note-Speaker? Wessen Themen kommen zur Sprache? Wer steht auf dem Podium und wer sitzt (wo) im Publikum? Welche Gruppe nimmt an Diskussionen teil, wer erhält dabei wie viel Redezeit? Wer kennt und grüßt wen, steht mit wem vor und nach Veranstaltungen zusammen? Wer wird zum Vorstand einer Gesellschaft oder Arbeitsgruppe gewählt?
Die Wahl des Ortes für den Zugang zum wissenschaftlichen Austausch ist ebenso entscheidend. So trifft sich etwa die deutschsprachige Forschungsgemeinschaft der Sozialpsychiatrie, die sich ja eigentlich als hierachiekritisch und inklusiv versteht, alljährlich in einem Fünf-Sterne-Hotel auf Mallorca – an einem Austragungsort, wie er elitärer und exklusiver kaum sein könnte.
Orte, an denen sich einflussreiche Menschen versammeln, ziehen wiederum auch Lobbygruppen an, die diese Menschen ihrerseits beeinflussen wollen. Im Falle der Psychiatrie ist dies zuvorderst die Pharmaindustrie, deren grelles und vermeintlich gönnerhaftes Auftreten hier auf die Hybris vieler Kolleg*innen trifft, sich durch einen kostenlosen Café Latte, schicke Kugelschreiber oder einen kurzen Schwatz mit der freundlichen Pharmavertreterin doch niemals in ihrem Verschreibungsverhalten beeinflussen zu lassen.
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All you can eat
Einen weiteren bedenkenswerten Aspekt stellt die Größe von Kongressen und das Format ihrer Inhalte dar: So imposant etwa das Veranstaltungsprogramm eines DGPPN- oder WPA-Kongresses auch sein mag, überkommt einen doch immer wieder das Gefühl, sich wie vor einem all-you-can-eat-Büffet zu befinden. Entsprechend „heruntergeschlungen“ wirken mitunter die Veranstaltungen selbst, mit Vorträgen im staccato-Rhythmus und abgewürgten Diskussionen. Nach vier Tagen DGPPN Kongress lohnt es sich, einmal die Augenringe der vom Symposien-binge-watching gezeichneten Kongressbesucher*innen mit jenen von Berliner Club- und Partygästen am Samstagmittag zu vergleichen – wobei letztere deutlich glücklicher wirken.
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Klimaethik bislang Fehlanzeige
Und dann ist da noch die ökologische Frage: In Zeiten der sich vor unser aller Augen ereignenden Klimakatastrophe muss darüber debattiert werden, ob der CO2-Abdruck von Großkonferenzen überhaupt noch vertretbar ist. Dementgegen stieß ich bei Einladungen zu Vorträgen mit der Frage, ob in der Übernahme von Reisekosten auch CO2-Emissionen kompensiert würden, bisher immer auf Unverständnis: Dies sei nicht Teil der Kostenkalkulation und könne ja aus eigener Tasche bezahlt werden. Klimaneutralität wird im Wissenschaftsbetrieb immer noch als das Privatvergnügen einer an sich kleinbürgerlichen Moral belächelt – so als wäre die Wissenschaft über derlei klimaethische Fragen erhaben und für Höheres bestimmt. Zugleich ist es unter Forschenden nach meinem Eindruck ein Zeichen von Prestige, jährlich auf internationalen Konferenzen eingeladen zu sein und dabei um die Welt zu jetten – ohne Rücksicht auf die ökologischen Folgen dieses rast- und ortlos anmutenden Forscherdaseins.
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Neue Formate denken
Mit diesen Kritikpunkten soll freilich nicht der Abschaffung von Psychiatrie-Kongressen das Wort geredet werden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie sich diese heute anders durchführen ließen. Ich möchte dabei für kleine, regionale, entzerrte und digital erweiterte Workshop-Formate plädieren: Der Anspruch wissenschaftlicher Konferenzen, aber auch entsprechender Forbildungsveranstaltungen, sollte sein, einen offenen, möglichst hierarchiefreien Raum für den Austausch von Wissen und für Begegnungen zu schaffen, die sich ja meist eher zwischen den offiziellen Progammteilen ereignen. In diesen Begegnungen können neue Ideen und Projekte entstehen. Für die Umsetzung dieses Anspruchs braucht es keine großen Orte, d. h. weder große Veranstaltungshallen, noch Hauptstadt- oder Mallorca-Kongresse mit hohem CO2-Abdruck, ja es braucht nicht einmal große Namen, die von weit her anreisen. Denn die Qualität einer Konferenz und eines Vortrags sollte sich nicht am Renomee der vortragenden Person bemessen, sondern an dem Maß, mit dem sie die Teilnehmenden zur Diskussion einlädt. Dafür wiederum sollten Veranstaltungen mit weniger Vortragszeit und mehr Diskussionszeit organisiert werden, die vor allem themenfokussierter sind – gerade auch, um ein pädagogisch nicht nachhaltiges Themen-Zapping der Besucher*innen zu vermeiden.
Zu klären wäre außerdem, wie die Themenbesetzung offener gestaltet werden kann -- denkbar wäre etwa, Gremien für die Themenauswahl von Konferenzen trialogisch und möglichst divers zu besetzen, was sicherlich auch zu mehr öffentlichem Interesse an psychiatrischen Veranstaltungen führen würde. Aber auch die Veranstaltungsdichte sollte reduziert werden, um mehr Zeit für inoffizielle Treffen zu schaffen.
Zu guter Letzt ermöglichen es digitale Medien, durch Streaming von Vorträgen und Diskussionen auch kleinere Formate öffentlich zugänglich zu machen und überregionale organisatorische Aufgaben (etwa Organisation vor Arbeitsgruppen, Vorstandswahlen etc.) abzuwickeln. Die Coronakrise führt hier eindrücklich vor Augen, dass sich rein organisatorische Fragen des gesellschaftlichen Lebens selbst auf höchster politischer Ebene auch über Videokonferenzen regeln lassen.
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Vom CCC lernen
Falls aber der Psychiatrie doch der Abschied von großen Kongressen schwer fallen sollte, bietet der Besuch des jährlich in Leipzig stattfindenden Kongresses des Chaos Computer Clubs (CCC) Inspiration dafür, wie sich diese Formate anders gestalten ließen: Den Organisator*innen gelingt es, auch ohne die Werbebeteiligung großer Techfirmen (als Pendant zu Pharmafirmen in der Psychiatrie) allein durch das Sponsoring von NGOs, ein breites, mehrtägiges Angebot an Vorträgen und Workshops sowie interaktiven Kunstausstellungen auf die Beine zu stellen – und dies zu erschwinglichen Eintrittspreisen. Entlasung der Gäste wird durch einen ausgedehnten Erholungsbreich mit Hängematten und Entspannungsmusik ermöglicht, ebenso wie durch eine eindrucksvolle Kinderbetreuung. Außerdem schafft es der Kongress, auch viele Nicht-Computer-Expert*innen anzuziehen, wobei hinzukommt, dass alle Vorträge kostenlos im Internet abrufbar sind.
Man mag einwenden, dass die Durchführung dieses Kongresses vor allem von Ehrenamtlichen getragen wird. Dies macht aber lediglich deutlich, dass es im Bereich des Programmierens und der IT-Sicherheit weitaus mehr Menschen gibt, die für diese Sache derart brennen, dass sie auch kostenlos auf einem entsprechenden Kongress arbeiten – Menschen vor allem der jüngeren Generation, die die heutige Psychiatrie offenbar nicht anzuziehen vermag.
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Article published online:
02 November 2020
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