Phlebologie 2021; 50(01): e1-e2
DOI: 10.1055/a-1217-0973
Leserbrief

Leserbrief zu: Zetzmann K, Ludolph I, Horch R, et al. Bildgebende Diagnostik zur Therapieplanung bei Lip- und Lymphödem. Phlebologie 2020; 2(49): 72–78

Tobias Hirsch
1   Praxis für Innere Medizin und Gefäßkrankheiten, Venen Kompetenz-Zentrum Halle (Saale)
,
Tobias Bertsch
2   Europäisches Zentrum für Lymphologie im Schwarzwald, Földiklinik Hinterzarten
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Leser dieser Zeitschrift mögen überrascht sein, mehr als 2 Jahre nach Erscheinen des ersten Teils der Artikelserie über die Mythen und Fakten des Lipödems und wenige Wochen nach Publikation eines Europäischen Consensus zum Lipödem nun einen Artikel zu lesen, der weiter am alten Narrativ dieser Erkrankung festhält.

Sowohl der Titel des Artikels „Bildgebende Diagnostik zur Therapieplanung bei Lip- und Lymphödem“ als auch der im Text selbst vielfach verwendete Begriff „Lip-Lymphödem“ suggerieren, dass es sich bei einem Lipödem und einem Lymphödem um ähnliche Krankheitsbilder handelt.

Tatsächlich sind beides gänzlich unterschiedliche Erkrankungen – mit unterschiedlicher Pathogenese, unterschiedlicher Klinik, unterschiedlichen Komplikationsoptionen und vor allem unterschiedlicher Therapie.

Das Zusammenfügen beider Krankheitsentitäten ist irreführend.

Der Begriff „Lip-Lymphödem“ ist ebenso sinnvoll wie beispielsweise ein Terminus „Variko-Hallux“. Zwar werden sowohl die Varikosis als auch der Hallux valgux in der Regel im Bereich der unteren Extremitäten gefunden – viel mehr Gemeinsamkeiten existieren allerdings nicht.

Der traditionell häufig verwendete Terminus „Lip-Lymphödem“ muss den Ergebnissen der modernen Forschung folgend als obsolet betrachtet werden. Er beruht auf fehlendem Verständnis der unterschiedlichen Pathogenese dieser beiden Erkrankungen. Die Einordnung der Krankheiten in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in unterschiedlichen Klassen, nämlich E (Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten: Lipödem) und I (Krankheiten des Kreislaufsystems: Lymphödem), berücksichtigt dies und kann als Beleg dafür gesehen werden.

Dieses Fehlverständnis der Autoren wird vor allem bei der Beschreibung der Krankheit Lipödem deutlich.

In der Einleitung wird das Lipödem als eine Erkrankung beschrieben, „die bei zunehmender Progredienz zur Ödementwicklung führen kann“. Wie Leser dieser Zeitschrift wissen, gibt es für die häufig wiederholte These, das Lipödem sei progredient, keine wissenschaftliche Evidenz. Adipositas dagegen ist häufig progredient und hat damit das Potenzial, ein Lipödem zu verschlechtern [1]. Auch gibt es keinerlei wissenschaftlichen Nachweis darüber, dass ein Lipödem zu einem Ödem führt. Bereits 2013 schrieben Reich-Schupke et al. in einer viel beachteten Publikation: „Der Begriff ‚Lipödem‘ ist eigentlich irreführend, da es sich nicht um ein Ödem, also eine Flüssigkeitseinlagerung im Gewebe handelt“ [2]. Die „traditionelle“ Sichtweise, dass ein Lipödem eine Ödemerkrankung ist bzw. zu einem Ödem führen kann, ist inzwischen daher auch verlassen worden [3]. Vielmehr ist eine oft progrediente Adipositas Ursache einer Ödembildung [4]. Die dafür entsprechende Pathophysiologie wurde u. a. auch in diesem Heft ausführlich dargestellt [5].

Die Autoren beschreiben im weiteren Verlauf ausführlich die Stadien des Lipödems. Diese Stadieneinteilung liegt zwar auch der S1-Leitlinie Lipödem zugrunde, war aber weder in der Vergangenheit hilfreich, noch ist sie es jetzt. Wie aus dem Text der Erlanger Kollegen deutlich wird, handelt es sich bei dieser Stadieneinteilung um eine rein morphologische Beschreibung des Weichteilgewebes – ohne auf die eigentliche Beschwerdesymptomatik, die Schmerzen der Patientin, einzugehen. Wir alle kennen Frauen (die deshalb nicht gleich zu Patientinnen werden), die deutlich disproportionale Beine präsentieren, allerdings ohne jegliche Beschwerden. Gleichzeitig sehen wir Patientinnen mit der Diagnose Lipödem mit nur diskreter Disproportion, die eine deutliche Schmerzsymptomatik des Weichteilgewebes angeben.

Welchen Sinn machen unter diesem Aspekt „Lipödemstadien?

In diesem Zusammenhang muss auch der populären Behauptung widersprochen werden, dass das Lipödem im sog. Stadium 3 in ein sog. „sekundäres Lipo-Lymphödem“ übergehen kann. Auch für dieses Statement gibt es kein unterstützendes pathophysiologisches Konzept. Wie oben bereits skizziert, ist auch dabei die progrediente Adipositas für die Entwicklung eines Lymphödems verantwortlich. Mit anderen Worten: wenn die 80 kg schwere Patientin mit Lipödem weitere 30 oder 40 kg Gewicht zunimmt, kann sich natürlich ein Lymphödem entwickeln. Dies ist jedoch kein „sekundäres Lipo-Lymphödem“, sondern vielmehr ein adipositasassoziiertes Lymphödem. Das Lipödem führt nicht zu einem Lymphödem, der Terminus „Lipo-Lymphödem“ ist somit obsolet!

Der Paradigmenwechsel beim Lipödem wurde von den Erlanger Kollegen offensichtlich noch nicht wahrgenommen. Das European Lipedema Forum, ein Expertengremium aus 25 Experten aus 7 europäischen Ländern, hat diesen Paradigmenwechsel im Rahmen eines Konsensusdokuments in dieser Zeitschrift publiziert. Zahlreiche Meinungsführer und Entscheidungsträger aus inzwischen 10 Ländern unterstützen diesen Konsensus [10]. Vorstandsmitglieder aus der DPG, der DGL sowie der GDL brachten sich aktiv in diesem Konsensus mit ein [6]. Im gleichen Heft wie der Artikel von Zetzmann et al. beschreibt die Generalsekretärin der DPG in einer sehr mutigen und auch persönlichen Stellungnahme diesen Wandel beim Lipödem [7].

Deutliche Unschärfen im Artikel der Erlanger Autoren finden sich auch bei der Beschreibung des Lymphödems. Im Gegensatz zur Meinung der Autoren ist das primäre Lymphödem ganz sicher nicht „oft mit kongenitalen Syndromen assoziiert“. Tatsächlich ist diese Assoziation eher eine Seltenheit. Im Patientengut des Europäischen Zentrums für Lymphologie, der Földiklinik in Hinterzarten (jährlich werden dort ca. 7000 Patienten mit Lymphödem und Lipödem behandelt), liegt die Zahl der Patienten mit primärem Lymphödem und assoziierten kongenitalen Syndromen unter 5 %.

Bei der „Basisdiagnostik eines Lipödems“ sind neben den von den Autoren erwähnten Punkten vor allem auch Fragen zur Gewichtsentwicklung sowie zur gegenwärtigen wie auch zur vergangenen psychosozialen Situation essenziell. Eine Standardfrage in der Fachklinik für Lymphologie lautet: „Leiden Sie mehr unter dem optischen Erscheinungsbild der Beine oder mehr unter der Schmerzsymptomatik des Weichteilgewebes?“ (Nur am Rande vermerkt: Die Mehrheit unserer Patientinnen, die mit der Diagnose Lipödem – ambulant wie auch stationär – zu uns kommen, leidet genauso oder oft mehr unter dem nicht zeitgemäßen optischen Erscheinungsbild).

Die Erlanger Kollegen schreiben weiter: „Eine Ultraschalluntersuchung gehört zur Basisdiagnostik eines Lip- oder Lymphödems. Hier kann der Grad der eingelagerten Flüssigkeit bestimmt werden“.

Auch da muss den Autoren widersprochen werden. Beide Erkrankungen lassen sich in aller Regel rein klinisch diagnostizieren, wohingegen die ätiologische Diagnostik des Ödems mittels Ultraschalls nicht möglich ist [8]. Darüber hinaus ergab eine multizentrische Registerstudie, dass bei Patientinnen mit der Diagnose Lipödem ohnehin keine Flüssigkeitseinlagerung (Ödem) im Weichteilgewebe der Beine nachweisbar ist.

Obwohl wir (die Leserbriefautoren) über große Ultraschallerfahrung bei diesem Patientengut verfügen, nutzen wir die Sonografie bei Patienten mit Lymphödem und Lipödem allenfalls bei besonderen Fragestellungen oder im Rahmen von Studien.

Die weiteren dargestellten Diagnostika (Lymphszintigrafie, Spect/CT, MRT, CT-Angio/Lymphografie sowie Fluoreszenzlymphografie) sind beim Lipödem sicher nicht indiziert und spielen beim Lymphödem im klinischen Alltag keine Rolle. Lediglich im Rahmen von lymphchirurgischen Eingriffen haben die hier beschriebenen bildgebenden Verfahren einen Stellenwert. Aufgrund fehlender – und vor allem überzeugender – Langzeitdaten spielt die Lymphchirurgie (zumindest zum jetzigen Zeitpunkt) eine nur marginale Rolle im gesamttherapeutischen Konzept von Lymphödemen.

Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Kollegen aus Erlangen weiter am alten und wissenschaftlich nicht evidenten Narrativ des Lipödems festhalten. Darüber wurde eine klare Abgrenzung der beiden ganz unterschiedlichen Krankheitsbilder Lymphödem und Lipödem unterlassen.

Publikationshinweis

Leserbriefe stellen nicht unbedingt die Meinung von Herausgebern oder Verlag dar. Herausgeber und Verlag behalten sich vor, Leserbriefe nicht, gekürzt oder in Auszügen zu veröffentlichen.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Tobias Hirsch
Praxis für Innere Medizin und Gefäßkrankheiten
Venen Kompetenz-Zentrum
Leipziger Straße 5
06108 Halle (Saale)
Deutschland   

Publication History

Article published online:
30 November 2020

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