Leser dieser Zeitschrift mögen überrascht sein, mehr als 2 Jahre nach Erscheinen des
ersten Teils der Artikelserie über die Mythen und Fakten des Lipödems und wenige Wochen
nach Publikation eines Europäischen Consensus zum Lipödem nun einen Artikel zu lesen,
der weiter am alten Narrativ dieser Erkrankung festhält.
Sowohl der Titel des Artikels „Bildgebende Diagnostik zur Therapieplanung bei Lip-
und Lymphödem“ als auch der im Text selbst vielfach verwendete Begriff „Lip-Lymphödem“
suggerieren, dass es sich bei einem Lipödem und einem Lymphödem um ähnliche Krankheitsbilder
handelt.
Tatsächlich sind beides gänzlich unterschiedliche Erkrankungen – mit unterschiedlicher
Pathogenese, unterschiedlicher Klinik, unterschiedlichen Komplikationsoptionen und
vor allem unterschiedlicher Therapie.
Das Zusammenfügen beider Krankheitsentitäten ist irreführend.
Der Begriff „Lip-Lymphödem“ ist ebenso sinnvoll wie beispielsweise ein Terminus „Variko-Hallux“.
Zwar werden sowohl die Varikosis als auch der Hallux valgux in der Regel im Bereich
der unteren Extremitäten gefunden – viel mehr Gemeinsamkeiten existieren allerdings
nicht.
Der traditionell häufig verwendete Terminus „Lip-Lymphödem“ muss den Ergebnissen der
modernen Forschung folgend als obsolet betrachtet werden. Er beruht auf fehlendem
Verständnis der unterschiedlichen Pathogenese dieser beiden Erkrankungen. Die Einordnung
der Krankheiten in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in
unterschiedlichen Klassen, nämlich E (Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten:
Lipödem) und I (Krankheiten des Kreislaufsystems: Lymphödem), berücksichtigt dies
und kann als Beleg dafür gesehen werden.
Dieses Fehlverständnis der Autoren wird vor allem bei der Beschreibung der Krankheit
Lipödem deutlich.
In der Einleitung wird das Lipödem als eine Erkrankung beschrieben, „die bei zunehmender
Progredienz zur Ödementwicklung führen kann“. Wie Leser dieser Zeitschrift wissen,
gibt es für die häufig wiederholte These, das Lipödem sei progredient, keine wissenschaftliche
Evidenz. Adipositas dagegen ist häufig progredient und hat damit das Potenzial, ein
Lipödem zu verschlechtern [1]. Auch gibt es keinerlei wissenschaftlichen Nachweis darüber, dass ein Lipödem zu
einem Ödem führt. Bereits 2013 schrieben Reich-Schupke et al. in einer viel beachteten
Publikation: „Der Begriff ‚Lipödem‘ ist eigentlich irreführend, da es sich nicht um
ein Ödem, also eine Flüssigkeitseinlagerung im Gewebe handelt“ [2]. Die „traditionelle“ Sichtweise, dass ein Lipödem eine Ödemerkrankung ist bzw. zu
einem Ödem führen kann, ist inzwischen daher auch verlassen worden [3]. Vielmehr ist eine oft progrediente Adipositas Ursache einer Ödembildung [4]. Die dafür entsprechende Pathophysiologie wurde u. a. auch in diesem Heft ausführlich
dargestellt [5].
Die Autoren beschreiben im weiteren Verlauf ausführlich die Stadien des Lipödems.
Diese Stadieneinteilung liegt zwar auch der S1-Leitlinie Lipödem zugrunde, war aber
weder in der Vergangenheit hilfreich, noch ist sie es jetzt. Wie aus dem Text der
Erlanger Kollegen deutlich wird, handelt es sich bei dieser Stadieneinteilung um eine
rein morphologische Beschreibung des Weichteilgewebes – ohne auf die eigentliche Beschwerdesymptomatik,
die Schmerzen der Patientin, einzugehen. Wir alle kennen Frauen (die deshalb nicht
gleich zu Patientinnen werden), die deutlich disproportionale Beine präsentieren,
allerdings ohne jegliche Beschwerden. Gleichzeitig sehen wir Patientinnen mit der
Diagnose Lipödem mit nur diskreter Disproportion, die eine deutliche Schmerzsymptomatik
des Weichteilgewebes angeben.
Welchen Sinn machen unter diesem Aspekt „Lipödemstadien?
In diesem Zusammenhang muss auch der populären Behauptung widersprochen werden, dass
das Lipödem im sog. Stadium 3 in ein sog. „sekundäres Lipo-Lymphödem“ übergehen kann.
Auch für dieses Statement gibt es kein unterstützendes pathophysiologisches Konzept.
Wie oben bereits skizziert, ist auch dabei die progrediente Adipositas für die Entwicklung
eines Lymphödems verantwortlich. Mit anderen Worten: wenn die 80 kg schwere Patientin
mit Lipödem weitere 30 oder 40 kg Gewicht zunimmt, kann sich natürlich ein Lymphödem
entwickeln. Dies ist jedoch kein „sekundäres Lipo-Lymphödem“, sondern vielmehr ein
adipositasassoziiertes Lymphödem. Das Lipödem führt nicht zu einem Lymphödem, der
Terminus „Lipo-Lymphödem“ ist somit obsolet!
Der Paradigmenwechsel beim Lipödem wurde von den Erlanger Kollegen offensichtlich
noch nicht wahrgenommen. Das European Lipedema Forum, ein Expertengremium aus 25 Experten
aus 7 europäischen Ländern, hat diesen Paradigmenwechsel im Rahmen eines Konsensusdokuments
in dieser Zeitschrift publiziert. Zahlreiche Meinungsführer und Entscheidungsträger
aus inzwischen 10 Ländern unterstützen diesen Konsensus [10]. Vorstandsmitglieder aus der DPG, der DGL sowie der GDL brachten sich aktiv in diesem
Konsensus mit ein [6]. Im gleichen Heft wie der Artikel von Zetzmann et al. beschreibt die Generalsekretärin
der DPG in einer sehr mutigen und auch persönlichen Stellungnahme diesen Wandel beim
Lipödem [7].
Deutliche Unschärfen im Artikel der Erlanger Autoren finden sich auch bei der Beschreibung
des Lymphödems. Im Gegensatz zur Meinung der Autoren ist das primäre Lymphödem ganz
sicher nicht „oft mit kongenitalen Syndromen assoziiert“. Tatsächlich ist diese Assoziation
eher eine Seltenheit. Im Patientengut des Europäischen Zentrums für Lymphologie, der
Földiklinik in Hinterzarten (jährlich werden dort ca. 7000 Patienten mit Lymphödem
und Lipödem behandelt), liegt die Zahl der Patienten mit primärem Lymphödem und assoziierten
kongenitalen Syndromen unter 5 %.
Bei der „Basisdiagnostik eines Lipödems“ sind neben den von den Autoren erwähnten
Punkten vor allem auch Fragen zur Gewichtsentwicklung sowie zur gegenwärtigen wie
auch zur vergangenen psychosozialen Situation essenziell. Eine Standardfrage in der
Fachklinik für Lymphologie lautet: „Leiden Sie mehr unter dem optischen Erscheinungsbild
der Beine oder mehr unter der Schmerzsymptomatik des Weichteilgewebes?“ (Nur am Rande
vermerkt: Die Mehrheit unserer Patientinnen, die mit der Diagnose Lipödem – ambulant
wie auch stationär – zu uns kommen, leidet genauso oder oft mehr unter dem nicht zeitgemäßen
optischen Erscheinungsbild).
Die Erlanger Kollegen schreiben weiter: „Eine Ultraschalluntersuchung gehört zur Basisdiagnostik
eines Lip- oder Lymphödems. Hier kann der Grad der eingelagerten Flüssigkeit bestimmt
werden“.
Auch da muss den Autoren widersprochen werden. Beide Erkrankungen lassen sich in aller
Regel rein klinisch diagnostizieren, wohingegen die ätiologische Diagnostik des Ödems
mittels Ultraschalls nicht möglich ist [8]. Darüber hinaus ergab eine multizentrische Registerstudie, dass bei Patientinnen
mit der Diagnose Lipödem ohnehin keine Flüssigkeitseinlagerung (Ödem) im Weichteilgewebe
der Beine nachweisbar ist.
Obwohl wir (die Leserbriefautoren) über große Ultraschallerfahrung bei diesem Patientengut
verfügen, nutzen wir die Sonografie bei Patienten mit Lymphödem und Lipödem allenfalls
bei besonderen Fragestellungen oder im Rahmen von Studien.
Die weiteren dargestellten Diagnostika (Lymphszintigrafie, Spect/CT, MRT, CT-Angio/Lymphografie
sowie Fluoreszenzlymphografie) sind beim Lipödem sicher nicht indiziert und spielen
beim Lymphödem im klinischen Alltag keine Rolle. Lediglich im Rahmen von lymphchirurgischen
Eingriffen haben die hier beschriebenen bildgebenden Verfahren einen Stellenwert.
Aufgrund fehlender – und vor allem überzeugender – Langzeitdaten spielt die Lymphchirurgie
(zumindest zum jetzigen Zeitpunkt) eine nur marginale Rolle im gesamttherapeutischen
Konzept von Lymphödemen.
Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Kollegen aus Erlangen weiter am alten
und wissenschaftlich nicht evidenten Narrativ des Lipödems festhalten. Darüber wurde
eine klare Abgrenzung der beiden ganz unterschiedlichen Krankheitsbilder Lymphödem
und Lipödem unterlassen.
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Herausgeber und Verlag behalten sich vor, Leserbriefe nicht, gekürzt oder in Auszügen
zu veröffentlichen.10.1055/a-1217-0961