Psychiatr Prax 2021; 48(02): 62-63
DOI: 10.1055/a-1229-6480
Debatte: Pro & Kontra

Biomarker in der Frühdiagnostik der Demenz? – Pro

Biomarkers in Early Diagnosis of Dementia? – Pro
Frank Jessen
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Uniklinik Köln
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Immer wieder wird diskutiert, ob die Feststellung der zugrunde liegenden Pathologie bei Patienten mit kognitiven Störungen auch in leichter Form durch Biomarker empfehlenswert oder gar für Patienten schädlich sei. Aus der Perspektive einer biologisch orientierten Medizin ist diese Fragestellung kaum nachvollziehbar. Ist es nicht die Grundlage unseres medizinischen Denkens, pathophysiologische Ursachen von Symptomen zu klären? Würde ein Internist bei Brustschmerz infrage stellen, die notwendigen apparativen Untersuchungen, zum Beispiel eine Angiografie, durchzuführen, um eine Koronarstenose als Ursache auszuschließen? Zugegeben, bei einer Stenose könnte ein Stent eingesetzt werden. Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele für Diagnostik von Erkrankungen im Frühstadium, bei denen es keine oder nur sehr begrenzte therapeutische Möglichkeiten gibt, z. B. in unserem Nachbarfach, der Neurologie.

Die Ursachen für die Skepsis gegenüber Biomarker-Anwendung bei der Alzheimer-Krankheit sind vielfältig. Folgende spielen mit Sicherheit ein Rolle: Die fehlenden pharmakologischen kausalen Therapieoptionen, die Hemmungen, mit Patienten und Angehörigen über die Alzheimer-Erkrankung zu sprechen und die Verwurzelung der Psychiatrie in syndromal definierten Krankheitskategorien.

Ist die Skepsis gegenüber dem Einsatz von Biomarkern in der Frühdiagnostik von Demenzen gerechtfertigt? Ich meine: nein. Es gibt viele Gründe, die für den Einsatz von Biomarkern in der Frühphase einer Demenz, aber auch im Prä-Demenz-Stadium der leichten kognitiven Störung sprechen. Zunächst die Betroffenen: Es gibt zunehmend viele Menschen, die sich bei auch schon leichten Symptomen aktiv an den Hausarzt oder direkt an einen Experten wenden, um die Ursache ihrer kognitiven Störungen zu erfahren. Die Rolle des Arztes besteht in diesen Fällen darin, nach einer diagnostischen Abklärung des Syndroms und dem Vorliegen einer leichten Demenz, aber auch schon einer leichten kognitiven Störung, Informationen über Durchführung und Aussagekraft von Biomarkern sowie über Konsequenzen möglicher Ergebnisse bereitzustellen. Bei einer leichten Demenz bezieht sich diese Aufklärung auf die Differenzialdiagnostik. Bei der leichten kognitiven Störung beinhaltet sie auch Informationen zum Risiko für eine zukünftige Demenz in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Biomarker [1]. Es ist dann der autonome Patient, der auf Grundlage der Information die Entscheidung trifft, ob die Untersuchungen durchgeführt werden oder nicht. Die Erfahrung zeigt, dass Betroffene, die sich für die Untersuchung entscheiden – und nur die erhalten eine – die Befundmitteilung im Regelfall gut verkraften und im Nachgang oft die Klärung der Situation positiv einschätzen. Es ist ja nicht so, dass durch Biomarker die Symptome erst entstehen – sie sind ja vorhanden und verunsichern die Betroffenen und die Familien. Vergessen sollte man auch nicht die Erleichterung und die deutlich bessere Prognose, wenn durch Biomarker das Vorliegen einer Alzheimer-Krankheit ausgeschlossen werden kann, was häufig geschieht.

Hat die Bestimmung von Biomarkern eine Relevanz für den weiteren Verlauf der Behandlung und Versorgung vor dem Hintergrund, dass es bisher keine kausale Therapie gibt? Das ist eine spannende Frage, die für Amyloid-Positronen-Emissions-Tomografie (Amyloid-PET) in mehreren Studien in Europa und den USA untersucht wurde [2] [3]. Hierbei zeigte sich, dass insbesondere die Eindosierung und das Absetzen von Antidementiva signifikant durch Ergebnisse des Amyloid-PET beeinflusst werden. Aus diesem Grund kam das IQWiG in einer Analyse dieser Studien zu der Frage, ob Amyloid-PET bei der Diagnostik von Demenz das Potenzial einer erfolgreichen Behandlungsalternative gemäß § 137e SGB 5 hätte, zu dem Schluss, dass durch zusätzliche Anwendung von Amyloid-PET zur Standarddiagnostik eine Verbesserung der Kognition und eine Verhinderung von Schaden erreicht werden könnte. Das IQWiG sah keine Hinweise für einen Schaden für die Patienten durch die Untersuchung selbst [4]. Um dieses mögliche Potenzial weiter zu untersuchen, wird der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Studie zum Nutzen von Amyloid-PET in der Versorgung in Deutschland ausschreiben. Da die Amyloid-PET und Liqouruntersuchungen vergleichbare Information liefern, wären die Ergebnisse weitgehend übertragbar.

In der Zukunft wird der Einsatz von Biomarkern in Vorstadien der Demenz immer bedeutsamer werden. Noch bis Anfang dieses Jahrtausends basierte die Alzheimer-Diagnose auf der dafür typischen klinischen Ausprägung einer Demenz im Sinne einer Demenz vom Alzheimer-Typ bei wahrscheinlicher Alzheimer-Krankheit. Es wurde betont, dass eine definitive Diagnose nur post mortem gestellt werden könnte. Basierend auf der seit Ende der 1990er-Jahre erfolgreichen Entwicklung von Liquor- und PET-Biomarkern für die Kernpathologie der Alzheimer-Erkrankung – der Amyloiddeposition und den Tau-Aggregaten – formulierte die Arbeitsgruppe um Bruno Dubois 2007 erstmalig ein kombiniertes klinisch- und biomarkerbasiertes Konzept. Hiernach kann die Diagnose einer Alzheimer-Krankheit beim Vorliegen eines typischen klinischen Syndroms und Biomarkerhinweisen für eine Alzheimer-Pathologie sichergestellt werden, auch unabhängig von Post-mortem-Untersuchungen. Als klinisches Syndrom reicht ferner neben einer Demenz auch eine leichte Gedächtnisstörung aus. Damit war es erstmalig möglich, eine Alzheimer-Krankheit vor dem Vorliegen einer Demenz zu diagnostizieren [5].

Im Jahr 2018 wurde durch die amerikanische National Institute on Aging-Alzheimer Association (NIA-AA) Arbeitsgruppe die Alzheimer-Krankheit bei lebenden Menschen in Parallelität zur Neuropathologie ausschließlich über Biomarker für Amyloid und Tau definiert. Die Symptomatik von der präklinischen, asymptomatischen Phase über die leichte kognitive Störung bis zur schweren Demenz beschreibt nunmehr das Krankheitsstadium [6]. Auch wenn dieses Konzept heute radikal gedacht erscheint, ist dies doch die einzige Möglichkeit, gezielt die molekularen Pathologien der Erkrankung im Stadium der Demenz, aber insbesondere auch davor zukünftig zu behandeln. Dann wären wir endlich bei einer kausalen Therapie, die eine Demenz aufhält und nicht mehr bei einer temporären Verbesserung von Symptomen an der Endstrecke der Krankheit.


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Autorinnen/Autoren

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Frank Jessen

  • Literatur

  • 1 Rostamzadeh A, Jessen F. Früherkennung der Alzheimer-Krankheit und Demenzprädiktion bei Patienten mit leichter kognitiver Störung: Zusammenfassung aktueller Empfehlungen. Nervenarzt 2020; E-pub ahead of print
  • 2 Boccardi M, Altomare D, Ferrari C. et al. Assessment of the Incremental Diagnostic Value of Florbetapir F 18 Imaging in Patients With Cognitive Impairment: The Incremental Diagnostic Value of Amyloid PET With [18F]-Florbetapir (INDIA-FBP) Study. JAMA Neurol 2016; 73: 1417-1424
  • 3 Rabinovici GD, Gatsonis C, Apgar C. et al. Association of Amyloid Positron Emission Tomography With Subsequent Change in Clinical Management Among Medicare Beneficiaries With Mild Cognitive Impairment or Dementia. JAMA 2019; 321: 1286-1294
  • 4 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Amyloid-PET bei Demenz unklarer Ätiologie. Potenzialbewertung. Version 1.0. 29.05.2018. www.iqwig.de
  • 5 Dubois B, Feldman HH, Jacova C. et al. Research criteria for the diagnosis of Alzheimer’s disease: revising the NINCDS-ADRDA criteria. Lancet Neurol 2007; 6: 734-746
  • 6 Jack Jr CR, Bennett DA, Blennow K. et al. NIA-AA Research Framework: Toward a biological definition of Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement 2018; 14: 535-562

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Frank Jessen
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Uniklinik Köln, Medizinische Fakultät
Kerpener Straße 62
50924 Köln
Deutschland   

Publication History

Article published online:
02 March 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Rostamzadeh A, Jessen F. Früherkennung der Alzheimer-Krankheit und Demenzprädiktion bei Patienten mit leichter kognitiver Störung: Zusammenfassung aktueller Empfehlungen. Nervenarzt 2020; E-pub ahead of print
  • 2 Boccardi M, Altomare D, Ferrari C. et al. Assessment of the Incremental Diagnostic Value of Florbetapir F 18 Imaging in Patients With Cognitive Impairment: The Incremental Diagnostic Value of Amyloid PET With [18F]-Florbetapir (INDIA-FBP) Study. JAMA Neurol 2016; 73: 1417-1424
  • 3 Rabinovici GD, Gatsonis C, Apgar C. et al. Association of Amyloid Positron Emission Tomography With Subsequent Change in Clinical Management Among Medicare Beneficiaries With Mild Cognitive Impairment or Dementia. JAMA 2019; 321: 1286-1294
  • 4 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Amyloid-PET bei Demenz unklarer Ätiologie. Potenzialbewertung. Version 1.0. 29.05.2018. www.iqwig.de
  • 5 Dubois B, Feldman HH, Jacova C. et al. Research criteria for the diagnosis of Alzheimer’s disease: revising the NINCDS-ADRDA criteria. Lancet Neurol 2007; 6: 734-746
  • 6 Jack Jr CR, Bennett DA, Blennow K. et al. NIA-AA Research Framework: Toward a biological definition of Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement 2018; 14: 535-562

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