Teil 1 Eine sensationelle Nachricht bricht sich Bahn
Am 8. November 2020 jährt sich zum 125. Mal der Jahrestag der Entdeckung der Röntgenstrahlen.
Wie kaum eine andere Entdeckung haben Röntgens X-Strahlen auch die Medizin stark beeinflusst.
Röntgen hatte einen Sonderdruck mit neun Fotografien zu bedeutenden Wissenschaftlern,
Kollegen und Freunden versandt.
Zu den Empfängern von Röntgens Postsendung gehörte auch der Berliner Physiker Emil
Warburg (1846–1931). Beide kannten sich aus alten Zeiten an der Universität Straßburg.
Röntgen wurde als Nachfolger Warburgs auf das Extraordinariat für Physik an der Universität
Straßburg berufen, als dieser einen Ruf nach Freigab akzeptierte. Als ordentlicher
Professor für Physik an der Berliner Universität war Emil Warburg auch in die Organisation
des fünfzigjährigen Gründungsjubiläums der Physikalischen Gesellschaft in Berlin am
4. Januar 1896 involviert. Warburg präsentierte auf der Tagung den einen Tag zuvor
erhaltenen Sonderdruck mit den Bildern. Damit wurden die Informationen über die sensationelle
Entdeckung erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie befanden sich neben anderen
Exponaten an einem weniger auffälligen Ort. Die Bedeutung der Entdeckung wurde daher
nur von wenigen Teilnehmern wahrgenommen. Wilhelm von Bezold (1837–1907), Präsident
der Gesellschaft für Physik, bedauerte sehr, dass er nichts von den Bildern wusste,
sonst hätte er „seine Rede in einem ganz anderen Ton beendet ...“.
Einer der führenden Neurologen in Berlin Moritz Jastrowitz (1839–1912) hatte den Nachdruck
von Röntgens Röntgenaufnahme der Hand seiner Frau gesehen und verstand sofort die
Bedeutung der Entdeckung für die Medizin. Bereits im Januar sprach er vor dem „Verein
für innere Medizin“ in Berlin über die neuen Strahlen. In der Deutsche medicinischen
Wochenschrift wurden am 30. Januar zwei Vorträge von Jastrowitz abgedruckt, die er
am 6. und 20. Januar 1896 über Röntgenversuche mit Kathodenstrahlen und deren diagnostische
Verwendbarkeit gehalten hatte. In einem Artikel wurde eine Röntgenaufnahme einer Hand
mit einem Glassplitter, der sich in der in der Nähe des Mittelfingergelenks eines
vierjährigen Patienten befand. Dieses Röntgenbild war vermutlich am 12. Januar vom
Berliner Physiker Paul Spies (1862–1932) von der Urania in Berlin aufgenommen worden.
In dem DMW-Bericht hieß es: „Dieser Aspekt ist offensichtlich für die Medizin wichtig.
Die Chirurgie könnte ihn sich zunutze machen, um Knochenbilder einer lebenden Person
zu erstellen. Frakturen, Verrenkungen, Aufblähungen und Fremdkörper werden gut unterscheidbar
sein; ich weise Sie auf die scharfen Konturen der Fingergelenke hin, die auf dem Foto
hell erscheinen; wir werden in die Gelenke hineinschauen können. Es ist auch möglich,
dass wir in das Innere des Körpers schauen können, in die Bauchhöhlen, wenn die Strahlung
die Wände passiert, und einige Veränderungen erkennen, vielleicht dichtere Tumore,
die für Röntgenstrahlen weniger durchlässig sind“.
Am 5. Januar 1896 berichtete die Wiener Tageszeitung „Die Presse“ über die sensationelle
Entdeckung eines Physikers aus Würzburg. Bereits am 7. und 8. Januar veröffentlichte
die Frankfurter Zeitung in ihrem Feuilleton zwei ausführliche Berichte über die Entdeckung
der Röntgenstrahlen und die neuen Möglichkeiten, lebende Knochen zu sehen. Die neuen
Möglichkeiten in der Medizin wurden vorausschauend diskutiert. Hier war zu lesen:
„Eine sensationelle Entdeckung. In den Wiener Gelehrtenkreisen erregt derzeit die
Nachricht einer Entdeckung von Wilhelm Conrad Röntgen, Professor für Physik an der
Universität Würzburg, Aufsehen. Wenn sich diese bewahrheitet, dann handelt es sich
um ein epochales Ergebnis exakter Forschung auf seine Weise, das sowohl im physikalischen
als auch im medizinischen Bereich ganz seltsame Folgen haben könnte. ... Am überraschendsten
ist das Bild einer menschlichen Hand, das durch die erwähnte Fotografie entsteht,
um deren Finger die Ringe frei zu schweben scheinen. Die Weichteile der Hand sind
nicht sichtbar. …“
Die Aufmerksamkeit des Kaisers
Diese Nachrichten erreichten auch den deutschen Kaiserhof. Begeistert von neuen Technologien
lud Kaiser Wilhelm II, der sich gerne in der Rolle des „Förderers von Wissenschaft
und Technik“ präsentierte, Röntgen ein, seine Entdeckung vorzustellen. Die Präsentation
fand am Sonntag, 12. Januar, um fünf Uhr nachmittags im Sternensaal des Berliner Schlosses
statt. Der bei der Vorführung ebenfalls anwesende Generalstab diskutierte später beim
Abendessen mit Roentgen neue Möglichkeiten, Materialfehler in Geschützen und Gewehren
mit Hilfe von Röntgenstrahlen zu prüfen. Roentgen versprach, sich um das Problem zu
kümmern. Die Antwort zu diesen Fragen erfolgte im Frühjahr 1897. Röntgen übersandte
mit erläuternden Erklärungen das Röntgenbild eines seiner Jagdgewehre an den Kaiser.
Wenige Tage später nach der Audienz am Kaiserhof wurde Röntgen vom Präsidenten des
Deutschen Reichstags Rudolf Freiherr von Buol-Berenberg (1842–1902) eingeladen, seine
Experimente im Reichstag und im Bundesrat in Berlin vorzustellen. Röntgen lehnt diese
Einladung jedoch ab. Am 30. Januar übernahm Paul Spies die Präsentation.
Verwendete und weiterführende Literatur
Schreiner H, Geschichte der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin. First published:
Januar 1995, S. F47. https://doi.org/10.1002/phbl
Jastrowitz M, Die Roentgen’schen Experimente mit Kathodenstrahlen und ihre diagnostische
Verwertung. Vorgetragen im Verein f. innere Medicin am 6. und 20. Januar 1896 (pp.
65–67, 2 Abb.), DMW, 22/ 5.–Leipzig, Georg Thieme Verlag, 30. Januar 1896, 4, pp.
65–96
Spies P, Über Röntgensche Strahlen. Populärer Experimentalvortrag, geh. In der Urania
zu Berlin. Berlin: Paetel 1896, 8, (popuäre Schriften, Hrsg. V. d. Urania, 39)
Feuilleton der Frankfurter Zeitung 40, Nr. 7 (Dienstag, den 7. Januar 1896), Zweites
Morgenblatt, Feuilleton; 40, Nr. 8 (Mittwoch, den 8. Januar 1896), Abendblatt, Kleines
Feuilleton.
Erste Seite des Sonderdrucks „Über eine neue Art von Strahlen“ 1896 (Bildquelle ©
Archiv Deutsches Röntgen-Museum).
Erste Seite der Publikation der Vorträge von Moritz Jastrovitz in der DMW 1896 (Bildquelle
© Archiv Deutsches Röntgen-Museum).
Telegramm des Adjutaten von Kaiser Wilhelm II mit der Einladung zum Vortrag im Berliner
Schloss (Bildquelle © Archiv Deutsches Röntgen-Museum).
Vortrag über Röntgenstrahlen von Paul Spies im Deutschen Reichstag (Bildquelle © Archiv
Deutsches Röntgen-Museum).