Einführung
Der ‚akute Thoraxschmerz‘ (acute chest pain) ist eines der häufigsten Leitsymptome, weswegen sich ein Patient beim Hausarzt, Internisten oder in der internistischen Notaufnahme vorstellt. Ca. 3 – 6 % aller Notfallpatienten stellen sich mit dem Leitsymptom akuter Thoraxschmerz vor, dem stehen ca. 1 – 3 % im allgemeinmedizinischen Kontext gegenüber [1]
[2]. Das Spektrum an möglichen Differenzialdiagnosen des Leitsymptoms ‚akuter Thoraxschmerz‘ ist breit gefächert [3]. [Tab. 1] fasst die häufigsten Ätiologien zusammen.
Tab. 1
Differenzialdiagnosen bei thorakalem Schmerz [3].
Organsystem
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Erkrankungen
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Symptomatik
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Herz
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Akutes Koronarsyndrom
(STEMI, NSTEMI, Instabile Angina Pectoris)
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Vernichtendes Druck- und Engegefühl; Dyspnoe; neu aufgetreten und abrupter Beginn über > 20 min anhaltend; auch in Ruhe; autonome Zeichen vorhanden; ggf. Synkope; ggf. Schock
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Chronisches Koronarsyndrom
(Stabile Angina Pectoris)
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Dumpfes retrosternales Druckgefühl („wie ein schweres Gewicht auf der Brust“). Linksthorakal oder ringförmig, ausstrahlend. Auch Ausstrahlung in Hals/Unterkiefer, Oberbauch (selten Rücken) möglich.
Symptome verstärkt/hervorgerufen durch physikalische Aktivität mit Nachlassen/Wegfall der Symptomatik in Ruhe oder nach Nitratgabe innerhalb von 5 Minuten
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Perikarditis bzw. Myokarditis
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Atem- und bewegungsabhängiger Schmerz; Perikardreiben
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Hypertensiver Notfall
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Angina-pectoris-Symptomatik
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Bradyarrhythmie bzw. Tachyarrhythmie
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Stechende retrosternale, z. T. in Hals ausstrahlende, in Ruhe auftretende Schmerzen. Symptome verschwinden mit Stopp der Rhythmusstörung.
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Aorta
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Akutes Aortensyndrom
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Stärkste, vernichtende wechselnde Schmerzen, Pulsdifferenz, Hypotension, ggf. Synkope
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Lunge
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Pneumothorax
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Atemabhängiger einseitiger Schmerz
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Pneumonie
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Stechend, atemabhängiger Schmerz über betroffenen Lungenabschnitt, Fieber
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Pleuritis
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Atemabhängiger Schmerz, Pleurareiben, Husten
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Lungenembolie
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Atemabhängiger Schmerz, Hyperventilation, Hypoxämie, Hypokapnie
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Gastrointestinal
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Ösophagitis
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Brennender Schmerz, Verstärkung postprandial und im Liegen
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Boerhaave-Syndrom
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Vernichtender Schmerz nach heftigem Brechreiz; Schocksymptomatik
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Gastritis bzw. gastroduodenale Ulzera
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Diffuser epigastrischer Druck/Schmerz, Nahrungsaufnahme verstärkt/lindert Beschwerden, möglicher Tagesrhythmus (Spontanschmerz um Mitternacht)
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Bewegungsapparat
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Vertebragener Schmerz
Rippenfraktur
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Oft stechender sowie bewegungs- und positionsabhängiger Schmerz
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Nervensystem
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Interkostalneuralgie/Herpes Zoster
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Schneidend, brennend, elektrisierender Schmerz; Dermatom Ausbreitungsgebiet eines Nervs
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Funktionelle Thoraxschmerzen
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Panikattacke
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Einengungsgefühl um den Thorax; oft verbunden mit Hyperventilation
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Die wichtigsten Krankheitsbilder werden als sog. ‚big five‘ bezeichnet:
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Akuter Myokardinfarkt
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Lungenarterienembolie
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Akutes Aortensyndrom
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Spannungspneumothorax
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Boerhaave-Syndrom
Neben dem Leitsymptom des akuten Brustschmerzes müssen auch atypische Verläufe der ‚big five‘ in Betracht gezogen werden. So kann sich bsp. ein Myokardinfarkt, eine Lungenarterienembolie, ein Pneumothorax oder ein akutes Aortensyndrom auch mit Hypotension oder dem Auftreten einer Synkope „schmerzfrei“ präsentieren [4]
[5]
[6].
Vom Symptom zur Diagnose
Zur Abklärung von akuten Brustschmerzen hat sich eine strukturierte Vorgehensweise bewährt. Diese soll zügig innerhalb der ersten 10 Minuten nach Vorstellung erfolgen. Nach Anamnese, Inspektion und körperlicher Untersuchung sowie Basisdiagnostik (EKG, Labor) erfolgt die Einteilung in koronare oder nicht koronare Ursachen der thorakalen Beschwerden [7]
[8].
Der Marburger Herz-Score liefert einen Anhaltspunkt, ob eine koronare oder nicht koronare Ursache vorliegt. Treffen ≤ 2 der folgenden Faktoren zu, ist die Wahrscheinlichkeit für eine koronare Ursache der Beschwerden gering [9]:
-
Alter und Geschlecht (Männer ≥ 55 Jahre, Frauen ≥ 65 Jahre)
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bekannte vaskuläre Erkrankung
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belastungsabhängige Beschwerden
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durch Palpation reproduzierbare Schmerzen
-
der Patient vermutet eine kardiale Genese
Wird der Verdacht auf eine koronare Ursache der akuten thorakalen Beschwerden gestellt, wird die klinische Arbeitsdiagnose „akutes Koronarsyndrom“ gestellt ([Abb. 1]). Eine weitere Einteilung in drei Gruppen basierend auf ST-Streckenveränderungen im EKG und/oder dem Vorhandensein von Herzenzymen wird unmittelbar vorgenommen: Patienten mit einem ST-Hebungsinfarkt (STEMI), Patienten mit einem non-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und Patienten mit einer instabilen Angina pectoris. Diese Einteilung hat direkte Auswirkung auf das weitere Management des Patienten ([Abb. 2]).
Abb. 1 Klassifizierung „akutes Koronarsyndrom“ [7]
[10].
Abb. 2 Möglicher Algorithmus zur Initialabklärung von Patienten mit akutem Thoraxschmerz [7]
[10].
Anamnese
Zu Beginn empfiehlt sich die offene Einstiegsfrage: „Was führt Sie zu mir?“. Sie gibt dem Patienten die Möglichkeit, seine Situation und Sichtweise zu schildern. So findet man evtl. erste Hinweise für die Genese des angegebenen Brustschmerzes. Die Anamnese umfasst grundsätzlich Fragen nach
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Schmerzlokalisation (lokalisiert/ausstrahlend)
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zeitlichem Auftreten und Dauer der Schmerzen (Beginn, wellenförmig/persistierend)
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Schmerzqualität (brennend/stumpf)
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Schmerzintensität (Stärke und Ausmaß),
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Begleitsymptomen (Übelkeit, Fieber),
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schmerzauslösenden oder schmerzlindernden Umständen sowie
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Beeinflussbarkeit der Schmerzen (atemabhängig o. ä.).
Bereits aus der Anamnese kann die Ursache des Schmerzes eingegrenzt werden: Ein bewegungsabhängiger Schmerz ist eher nicht kardial bedingt, während Engegefühl oder Druckschmerz mit Beklemmungsgefühl eher auf kardiale Ursachen hinweisen [3].
Inspektion, körperliche Untersuchung und Vitalparameter
Die Inspektion umfasst:
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Beurteilung der Thoraxform
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Vorliegen von Hautläsionen (z. B. Herpes Zoster)
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Beurteilung der Atmung (Frequenz, Typus, Exkursion, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur)
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Vorliegen von Zyanosezeichen
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Zeichen einer chronischen Hypoxämie (Trommelschlegelfinger)
Auf die Inspektion folgen Perkussion, Auskultation und Beurteilung der Karotiden und peripheren Gefäße (Pulsstatus). Unerlässlich ist das Erfassen und Dokumentieren von Vitalparametern wie
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Herz- und Atemfrequenz,
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Blutdruck, seitengleiche Messung (akutes Aortensyndrom!),
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Sauerstoffsättigung unter Raumluft bzw. unter Sauerstoffgabe und
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(soweit verfügbar) Blutgasanalyse (kann wichtige Zusatzinformationen liefern).
Basisdiagnostik
12-Kanal-Elektrokardiogramm
Etwa 20 – 25 % der Patienten, die sich mit Thoraxschmerzen in der Notaufnahme vorstellen, weisen ein akutes Koronarsyndrom auf [11]. Insofern sind zügiges (< 10 min nach Vorstellung) Schreiben und Interpretieren eines 12-Kanal-Elektrokardiogramms essenziell, um ST-Streckenveränderungen zu identifizieren. Worauf ist noch zu achten?
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Ein neu aufgetretener Links- oder Rechtsschenkelblock ist als STEMI-Äquivalent und als unabhängiger Prädiktor für die Entwicklung eines kardiogenen Schocks zu werten.
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Rhythmusstörungen können erstmalig mit Thoraxschmerzen auftreten (z. B. tachyarrhythmische Entgleisung).
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Neben ST-Strecken-Hebungen ist auch auf andere ischämietypische Veränderungen zu achten wie ST-Strecken-Senkungen, kurzfristige ST-Hebungen, T-Wellen-Veränderungen.
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Ist das 12-Kanal-EKG unauffällig, wird bei dringendem Verdacht auf kardiale Genese zusätzlich die Aufzeichnung der Ableitungen V7–V9 und V3 R, V4 R empfohlen [12]
[13].
In der Hausarztpraxis kann das 12-Kanal-EKG bei Patienten mit akutem Thoraxschmerz oft nur diskrete Veränderungen/Frühstadien (spitze T-Welle bei Myokardinfarkt) zeigen. Ergänzend sind daher Anamnese und Laborbefund essenziell für das weitere Vorgehen.
Laborchemie
Neben der klinischen Untersuchung, dem 12-Kanal EKG, gehört eine Blutabnahme zur Basisdiagnostik. An wesentlichen zu bestimmenden Laborparametern sind neben einem Blutbild, CK mit CK-MB, hochsensitives kardiales Troponin (hs-cTN), Na, K, Kreatinin, GOT, LDH sowie gegebenenfalls D-Dimere zu nennen [7].
Die Cut-off-Werte für hs-cTN sind assayabhängig. Eine Übersicht der Assay-spezifischen Cut-offs für hs-cTN ist in der ist in der Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) ‚Management of Acute Coronary Syndrome in patients presenting without persistent ST-segment elevation‘ einsehbar [10]. Der negativ prädiktive Wert eines initial sehr niedrigen hs-cTN im Hinblick auf eine myokardiale Ischämie ist sehr hoch (> 99 %), weswegen bei stabilen Patienten ohne ST-Hebungen im EKG mit Symptombeginn vor über 3 Stunden ein Myokardinfarkt bereits im Aufnahmelabor zum Zeitpunkt 0 h ausgeschlossen werden kann [10]. Es gilt zu beachten, dass erhöhte Troponinwerte auch im Rahmen anderer wichtiger Begleiterkrankungen sowie Differenzialdiagnosen des thorakalen Schmerzes vorkommen können. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang explizit die chronische Niereninsuffizienz, hypertensive Krisen, Tachy- oder Bradyarrhythmien, schwere Herzinsuffizienz, Lungenarterienembolien oder Myokarditis. Der Nachweis einer zeitabhängigen hs-cTN Dynamik (Veränderung von hs-cTN gemessen zum Zeitpunkt 0 h bei Aufnahme verglichen mit Zeitpunkt 1 Stunde nach Aufnahme; 0 h/1 h Algorithmus der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie) ist ein wichtiges Kriterium zur Abschätzung des Ausmaßes der myokardialen Ischämie bzw. zur weiteren Risikoeinschätzung (eine Übersicht über das zeitabhängige Management in Abhängigkeit von der hs-cTN-Dynamik [0 h/1 h] ist ist wiederum in der ESC-Leitlinie ‚Management of Acute Coronary Syndrome in patients presenting without persistent ST-segment elevation‘ einsehbar [10].
Eine laborchemisch geringe Erhöhung von hs-cTN ist oft unspezifisch. Der zeitabhängigen Dynamik (0 h/1 h) der hs-cTN-Konzentration kommt daher ein wichtiger Stellenwert zu.
Die Bestimmung der D-Dimere ist bei Personen mit Verdacht auf Lungenembolie und niedriger und mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit sinnvoll [14]
[15]. Zur Bestimmung der Lungenembolie-Vortestwahrscheinlichkeit hat sich in Praxis der vereinfachte Wells Score ([Tab. 2]) sowie der revidierte Geneva Score bewährt [16]
[17]
[18]. Ein Wells Score < 2 bzw. ein Geneva Score < 4 sind mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Lungenembolie assoziiert. Eine deutliche Erhöhung von D-Dimeren kann Hinweise für die Indikation zur erweiterten Bildgebung bei Verdacht auf Lungenarterienembolie oder Aortendissektion liefern. Die Einführung altersabhängiger Grenzwerte für D-Dimere bei Alter über 50 Jahren (Cut-off-Wertbestimmung = Alter × 10 ug/L) hat die diagnostische Sicherheit zumindest im Falle von Lungenarterienembolie wesentlich verbessert [19].
Tab. 2
Vereinfachter Wells Score zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Lungenembolie
[18].
Prädiktoren
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Score
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Klinische Zeichen einer tiefen Beinvenenthrombose
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1 Punkt
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Herzfrequenz > 100 /min
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1 Punkt
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Bettruhe ≥ 3 Tage oder chirurgischer Eingriff < 4 Wochen
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1 Punkt
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Zustand nah Lungenembolie oder tiefer Beinvenenthrombose
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1 Punkt
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Hämoptysen
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1 Punkt
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Karzinomerkrankung
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1 Punkt
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Lungenembolie wahrscheinlich bzw. wahrscheinlicher als andere Diagnosen nach Röntgen/Labor/EKG
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1 Punkt
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Klinische Lungenembolie-Wahrscheinlichkeit: niedrig: Score < 2 Punkte; mäßig: Score: 2–6 Punkte; hoch: Score > 6 Punkte
Bei Personen mit Verdacht auf akute Aortendissektion hat sich über die letzten Jahre der Aortic Dissection Detection (ADD) Risk Score, ein einfacher diagnostischer Screeningalgorithmus zum frühzeitigen Erkennen von akuten Aortendissektionen, bewährt ([Tab. 3]) [20]. Dieser Score vergibt jeweils einen Punkt bei Vorliegen einer Hochrisikosituation, einer typischen klinischen Symptomatik oder eines auffälligen klinischen Untersuchungsmerkmals. Bei einem ADD Risk Score von 1, Fehlen von ST-Hebungen im EKG oder bei Vorliegen einer anderen wahrscheinlicheren Diagnose (Röntgen, Anamnese, Patientenvorgeschichte!), ist eine aortale Bildgebung, z. B. CT, MRT, empfohlen. Bei einem ADD Risk Score ≥ 2 soll unverzüglich eine aortale Bildgebung und chirurgische Vorstellung angestrebt werden. Die Aussagekraft dieses Risikoscores kann bei Punktewerten ≤ 1 noch durch die Bestimmung der D-Dimere ergänzt werden [21]. Das Vorliegen einer akuten Aortendissektion bei normalen D-Dimeren (< 0,5 mg/l) innerhalb der ersten 6 Stunden nach initialem thorakalem Schmerzereignis ist unwahrscheinlich [5]. Bei dringlichen Verdachtsfällen auf eine akute Aortendissektion gilt es jedenfalls die Labordiagnostik nicht abzuwarten.
Tab. 3
Aortic Dissection Detection (ADD) Risk Score zum frühzeitigen Erkennen einer akuten Aortendissektion [20].
Prädiktoren
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Score
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Vorliegen einer Hochrisikosituation ?
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Marfan-Syndrom
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Familienvorgeschichte von Aortenerkrankungen
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Bekanntes thorakales Aortenaneurysma
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Bekannte Aortenklappenerkrankung
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Zustand nach Aortenklappenersatz oder aortaler Manipulation
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1 Punkt
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Vorliegen einer typischen klinischen Symptomatik ?
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Plötzlicher einsetzender Thorax-, Abdomen- oder Rückenschmerz
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Starker oder reißender Schmerzcharakter
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1 Punkt
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Auffälliges klinisches Untersuchungsmerkmal ?
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Pulsdefizit
-
Seitendifferenter systolischer Blutdruck
-
Fokal neurologisches Defizit vergesellschaftet mit Schmerzen
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Neues oder nicht vorbekanntes Aorteninsuffizienzgeräusch vergesellschaftet mit Schmerzen
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Hypotension/Schock
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1 Punkt
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Bei AAD-Risk Score ≥ 2 Punkten soll unverzüglich eine aortale Bildgebung und chirurgische Vorstellung angestrebt werden.
Risikostratifikation des akuten Koronarsyndroms und Zeitpunkt einer invasiven Abklärung
Instabile vs. stabile Angina pectoris (akutes vs. chronisches Koronarsyndrom)
Neben möglichen EKG-Veränderungen und Veränderungen der Biomarker, ist entscheidend für die Verdachtsdiagnose „Akutes Koronarsyndrom“ das klinische Bild einer „instabilen“ Beschwerdesymptomatik verglichen mit einem „stabilen“ thorakalen Beschwerdebild entsprechend der Klassifikation der Canadian Cardiovascular Society (CCS) ([Tab. 4]). Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie nennen folgende klinischen Kriterien zur Charakterisierung einer instabilen Beschwerdesymptomatik [12]
[13]
[22]:
-
Prolongierte Angina pectoris-Beschwerdesymptomatik in Ruhe (> 20 Minuten),
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Neu aufgetretene (de novo) oder rezente (innerhalb der letzten 2 Monate) aufgetretene moderate bis schwere Angina pectoris-Beschwerdesymptomatik (entsprechend CCS II–III)
-
Crescendo-Angina mit Veränderung/Verschlechterung einer vorbestehenden Symptomatik in Hinblick auf Dauer, Intensität, Häufigkeit oder Schwellenwerte beeinflussender Faktoren und einem CCS-Stadium ≥ III oder
-
Post-Infarkt-Angina
Tab. 4
Klassifikation der Canadian Cardiovascular Society (CCS) für stabile Angina pectoris [23].
CCS I
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Keine Angina pectoris unter Alltagsbelastungen wie Laufen oder Treppensteigen, jedoch bei sehr hohen oder längeren Anstrengungen wie Schneeräumen oder Dauerlauf
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CCS II
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Angina pectoris bei stärkeren Anstrengungen wie schnelles Treppensteigen, Bergaufgehen oder bei psychischen Belastungen
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CCS III
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Angina pectoris bei leichter körperlicher Belastung wie An- und Ausziehen, normalem Gehen oder leichter Hausarbeit
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CCS IV
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Angina pectoris nach wenigen Schritten oder bereits in Ruhe
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Neu aufgetretene Angina pectoris-Beschwerden werden grundsätzlich als instabil klassifiziert. Wenn aber die Beschwerden erstmalig unter schwerer Belastung aufgetreten sind und in Ruhe reversibel sind sowie keine Zeichen von Herzinsuffizienz, EKG-Veränderungen oder ein Anstieg von hs-cTN vorhanden sind, so ist eher eine Einteilung nach CCS vorzunehmen. In diesem Fall sollte zunächst eine nicht-invasive Abklärung erfolgen bevor eine weitere invasive Diagnostik angestrebt wird. Dementsprechend unterlaufen viele Patienten mit Angina Pectoris folgend der CCS-Klassifikation eine Periode einer instabilen Angina pectoris [22].
Auch atypische Beschwerdeverläufe müssen in Betracht gezogen werde. Diese inkludieren u. a. thorakale „Schmerzfreiheit“, epigastrische Beschwerden, Thoraxschmerzen mit pleuritischem Charakter oder zunehmende Luftnot. Solche Verläufe betreffen v. a. ältere Personen (> 75 Jahre), Frauen, Diabetiker, demenzkranke oder niereninsuffiziente Patienten.
Niedriges Risiko
Symptomfreie Patienten mit niedrigem Risiko für ein akutes kardiales ischämisches Ereignis weisen keine der nachfolgend angeführten Kriterien oder Charakteristika für eine hohes oder sehr hohes Risiko auf. Diese Patientengruppe sollte zunächst nicht-invasiv abgeklärt werden, bevor gegebenenfalls eine weitere invasive Diagnostik angestrebt wird [10].
Grace-Risk-Score und Hohes Risiko
Der Grace-Risk-Score erlaubt die Risikostratifizierung von Patienten mit akutem Koronarsyndrom nach Hospitalmortalität sowie Mortalität bis 6 Monate poststationär. Allerdings erfordert seine Berechnung spezielle Software (online verfügbar unter http://www.outcomesumassmed.org/grace/) [10]
[13]. In die Kalkulation fließen verschiedene unabhängige Risikoparameter ein wie z. B. Alter, Herzfrequenz, systolischer Blutdruck, ST-Streckenveränderungen, Herzenzyme. Ein Grace- Risk-Score von < 108 geht mit einer niedrigen Hospitalmortalität < 1 %) einher, während ein Score > 140 ein hohes Risiko (> 3 %) anzeigt.
Ein hohes Risiko für ein akutes kardiales ischämisches Ereignis, welches eine frühinvasive Abklärung innerhalb von 24 Stunden bedingen sollte, wird bei Vorliegen folgender Charakteristika angenommen [10]:
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Grace-Risk-Score > 140
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Zustand nach Reanimation ohne signifikante ST-Hebungen im EKG oder kardiogenem Schock
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Gesicherte Diagnose eines NSTEMI
-
Dynamische (neue oder angenommen neue) Veränderungen der ST-Strecke oder T-Welle (mit oder ohne klinischer Symptomatik)
Sehr hohes Risiko
Patieten mit sehr hohem Risiko für ein akutes kardiales ischämisches Ereignis weisen folgende Charakteristika auf. Hier sollte eine invasive Abklärung innerhalb von 2 Stunden durchgeführt werden [10]:
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persistierende oder wiederkehrende Angina pectoris-Beschwerden trotz medikamentöser Therapie
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hämodynamische Instabilität oder kardiogener Schock
-
ventrikuläre (lebensbedrohliche) Arrhythmie
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mechanische Komplikationen eines Myokardinfarkts
-
akute Herzinsuffizienz mit klarem Bezug zu NSTEMI-Ereignis
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Signifikante ST-Strecken-Senkung > 1 mm/6 Ableitungen plus ST-Strecken-Hebungen in aVr und/oder V1
STEMI
Im Falle der Diagnose eines STEMI sollte eine perkutane Intervention (PCI) innerhalb von 2 Stunden durchgeführt werden. Wenn die Zeit bis zur PCI über 2 Stunden beträgt, dann sollte eine Lysetherapie erfolgen. Die präklinische Lyse stellt kein Hindernis für eine anschließende Intervention dar.
Erweiterte Diagnostik
Röntgen-Thorax und Sonografie
Ergänzend zu Inspektion und körperlicher Untersuchung können die Röntgen-Thoraxaufnahme ([Abb. 3]) und die Thoraxsonografie entscheidende diagnostische Hinweise zeigen. Die Indikation ist gegeben bei vermuteter extrakardialer Ursache für einen Thoraxschmerz (z. B. Pneumothorax, Lappenpneumonie, Rippenfrakturen), aber auch ergänzend zur Diagnosesicherung von z. B. Pleuraergüssen.
Abb. 3 Röntgen-Thorax: a Pneumothorax, b Lappenpneumonie sowie c multiple Frakturen.
Transthorakale Echokardiografie
Eine noch bettseitig durchgeführte, fokussierte transthorakale Echokardiografie unterstützt die Differenzierung nach kardialer vs. nicht kardialer Genese der Brustschmerzen und ist bei vermuteter kardialer Erkrankung indiziert. Eine gezielte Beurteilung von kardialer Geometrie und Funktion umfasst:
-
eine Aorten(-bulbus)beurteilung (Aortendissektionsmembran, Aorteninsuffizienz),
-
die Suche nach linksventrikulären Wandbewegungsstörungen (Hypo- bzw. Akinesien),
-
eine visuelle Abschätzung der Pumpfunktion,
-
die Beurteilung des rechten Ventrikels nach RV-Dilatation (Größenvergleich linke und rechte Herzkammer), die RV-Druckbeurteilung (D-Sign, inverse Septumbewegung) ([Abb. 4]),
-
die Perikardbeurteilung (Perikarderguss) sowie
-
eine Abschätzung der Vorlast (Lebervenenstatus) [24]
[25].
Abb. 4 Transthorakale Echokardiografie: a RV-Dilatation und b D-Sign.
Nicht-invasive funktionale Bildgebung und/oder Computertomografie
Je nach klinischem Befund sowie Fragestellung kann eine weitergehende Bildgebungsdiagnostik indiziert sein ([Abb. 2]): Im Falle des Verdachts auf eine koronare Ursache der thorakalen Beschwerden wird eine nicht-invasive funktionale Bildgebung für myokardiale Ischämie oder eine Koronar-CT-Untersuchung zur weiteren Abklärung empfohlen. Die Auswahl der Methode (Stress-Echokardiografie, Stress-MRT, SPECT, PET, Koronar-CT) soll sich idealerweise nach der klinischen Vortestwahrscheinlichkeit für eine obstruktive KHK, Patientencharakteristika (Alter, Niereninsuffizienz, etc.), lokaler Verfügbarkeit und Expertise der Methode richten. Je niedriger die Vortestwahrscheinlichkeit für eine obstruktive KHK ist, desto eher soll auf eine Koronar-CT-Untersuchung zurückgegriffen werden. Eine Übersicht über verschiedene Vortestwahrscheinlichkeiten für das Vorliegen einer obstruktiven KHK bei Patienten mit Angina pectoris-Beschwerden ist in der ESC-Leitlinie ‚Diagnosis and Management of Chronic Coronary Syndrome‘ verfügbar [22].
Im Falle des Verdachts auf eine nicht-koronare Ursache der thorakalen Beschwerden (z. B. akutes Aortensyndrom, Lungenarterienembolie etc.) nimmt die Spiral-CT-Untersuchung eine Schlüsselposition ein ([Abb. 5]). In den letzten Jahren hat sich zudem für die Patientengruppe mit gleichzeitig bestehender niedriger bis intermediärer Vortestwahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer obstruktiven KHK (d. h. andere Ursache für akute Brustschmerzen wahrscheinlicher) auch der Einsatz von sog. „Triple-Rule-out“-CT-Untersuchungen etabliert. Damit können simultan eine relevante KHK, eine akute Lungenembolie sowie eine akute Aortenerkrankung ausgeschlossen werden.
Abb. 5 Computertomografie: a akute Aortendissektion und b Lungenarterienembolie.