Schlüsselwörter
Bion, Balintgruppe, Negative Fähigkeit, Containment, Prismatische
Balintgruppe
Key words
Bion, Balint Group, Negative Capability, Containment, Prismatic Balint
Group
Negative Fähigkeit nach Bion – Die Aufnahmefähigkeit
für „Ungewusstes“
Negative Fähigkeit nach Bion – Die Aufnahmefähigkeit
für „Ungewusstes“
W.R. Bion, ein Schüler von Melanie Klein, geht mit seinen Konzepten und
Überlegungen weit über ein übliches,
klassisch-psychoanalytisches Denken hinaus. Für diejenigen, die eher wenig
vertraut sind mit bionischem Denken, wirken sie gelegentlich befremdlich bis bizarr;
allerdings stellen Bions Gedanken und Ideen eher eine Matrix dar, die zum
Weiterdenken auffordert und von den „Nach-Denkenden“ aus der
Abstraktion in Konkretes zurückübersetzt und damit angewendet werden
muss. Bions Begrifflichkeiten des Containments [1]
[2] oder der Arbeitsgruppe [3] sind relativ gut rezipiert und werden
außerhalb kleinianisch-bionischer Zirkel weitreichend unproblematisch
angewendet. Demgegenüber ist Bions Konzept der Negativen Fähigkeit
(engl: Negative Capability) eher wenig aufgegriffen worden, wenngleich es hoch
anregend erscheint, sich mit diesen Gedankenkonstrukt auseinanderzusetzen. Bion
meint mit Negativer Fähigkeit eine Offenheit und die aktive
Fähigkeit, Unsicherheit, Ambiguität, Widersprüchlichkeiten,
Unverbundenheit und Nicht-Gewusstes aufzunehmen, also zu
„containen“, aber darüber hinaus sich aktiv in einen
entsprechenden Zustand des Aufnehmen-Wollens hinein zu versetzen, wie er
günstigenfalls bei Therapeuten und in noch günstigerem Fall bei
Patienten im Rahmen einer Psychotherapie vorliegen möge. Er entlehnte den
Terminus der Negative Capability einem Brief des Dichters John Keats an dessen
Bruder[1]. Keats sprach in seinem Brief von
dem besonderen inneren Zustand des Dichters, der sich mit seiner
künstlerischen Aufnahmefähigkeit Zweifeln, Geheimnissen und
Unsicherheiten stellt, ohne nach Fakten und Gründen zu forschen. Einen
ähnlichen Zustand sieht Bion für den Therapeuten[2] erstrebenswert an. Negative Fähigkeit
ist nach Bion unabdingbar, um gemeinsam mit dem Patienten eine im therapeutischen
Prozess dann tragfähige Veränderung zu erreichen. Sie ist
gleichzeitig untrennbar verbunden mit der Idee, dass der psychoanalytische
Psychotherapeut dem Patienten „ohne Gedächtnis und Wunsch“
begegnen sollte: Wenn möglich, vollständig unvoreingenommen und
losgelöst von Verstrickungen, die in persönlichen Erinnerungen
– selbst an den Patienten – oder in unaufgelösten
Gegenübertragungen begründet sind. Negative Fähigkeit meint
im therapeutischen Beziehungskontext also, emotionale und mentale Zustände
bei sich und dem Gegenüber wahrzunehmen und auszuhalten, und gleichzeitig,
in reflektierendem Abwarten verbleibend, das Gesamtgeschehen zunächst nur zu
beobachten und sich dann erst schrittweise zum Verstehen und zur
Antwortfähigkeit vorzutasten.
Die Begrifflichkeit der Negativen Fähigkeit mag auch deshalb irritierend
wirken, weil „negativ“ im üblichen Sprachgebrauch aversiv
attribuiert wird. Bion verwendet in seinen Konzepten andernorts auch
„+“ (positiv) und „−“ (negativ), zu
verstehen jeweils am ehesten im Sinn von „anwesend“ (+) und
„abwesend“ (−). +K (K=“wissen
wollen“) steht für die Anwesenheit des Prozesses von Wissen-Wollen,
-K wäre zu verstehen als eine Entleerung von Wissen bzw. ein aktives
Nicht-Wissen-Wollen.
Wenn Bion also von negativer Fähigkeit spricht, meint er die aktive
Möglichkeit und Fähigkeit zur Aufnahme, vergleichbar mit einem
Gefäß, das erst durch sein mögliches Leer-Sein
überhaupt zu einem Behälter wird. Diese Aufnahmefähigkeit
kann nun einfach vorhanden sein, oder wird durch innere Aktivität und eine
innere Haltung hergestellt oder vergrößert. Negative
Fähigkeit steht folglich Bions Konzept des Containments nahe, geht aber doch
deutlich hierüber hinaus. Bion sieht in der Negativen Fähigkeit eine
der wesentlichen Voraussetzungen gelingender (psychoanalytisch-) therapeutischer
Arbeit: Das Eintreten neuer Einsichten – sowohl auf Seiten des Patienten wie
auch des Therapeuten – hinge davon ab, dass Abstand davon genommen werde,
eine durch Nicht-Wissen entstandene „Leere“ durch bloßes
„Wissen“ (auf) zu füllen. Übersetzt bzw.
übertragen würde dies dann einer intellektualisierenden Abwehr der
tatsächlich vorliegenden, emotionalen Inhalte entsprechen – die
wiederum eine Integration und Bearbeitung innerer Konflikte abwendet.
Die in der Begrifflichkeit einer negativen Fähigkeit transportierte
Konnotation von etwas Aversiv-Negativem verhinderte möglicherweise eine
stärkere Rezeption des Konzepts, insbesondere auch in der
Sekundärliteratur. Das von Symington & Symington [4] ausgearbeitete Grundlagenbuch zur klinischen
Arbeit auf der Basis bionischen Denkens erwähnt Negative Capability nur am
Rande und im New Dictionary of Kleinian Thought [5] wird sie vollständig ausgespart. Der eher knappe Eintrag im
Dictionary of the Work of Bion [6] fokussiert bei
der Erläuterung der Begrifflichkeit der Negativen Fähigkeit auf
Neugier und Offenheit für Entdeckungen bei gleichzeitiger Fähigkeit,
Unwissenheit auszuhalten. Betts [7] unterstreicht,
dass Negative Fähigkeit eng verbunden sei mit der Haltung, dem Unbewussten
zu vertrauen. Dies sei aber kein kontinuierlicher Zustand, sondern unterliege
Fluktuationen. Gerade deswegen müssten wir nach Negativer Fähigkeit
streben, also dem Unbewussten mehr trauen – sodass hier eine der wenigen
vollständigen Paper aus psychoanalytischer Sicht verfügbar sind, die
sich Bions Konzept widmen.
Einer schwachen Rezeption im genuin psychoanalytischen Therapieumfeld steht
gegenüber, dass Negative Fähigkeit in der psychoanalytischen
Organisationsberatung durchaus einen wichtigen Fokus darstellt: Manager
müssen auf der Basis hoch unsicherer oder gar fehlender Informationen
Entscheidungen treffen und dies zudem häufig in Situationen, die mit dem
Tagesbewusstsein, also der intellektuell-begrifflichen Analyse nicht
überblickbar sind [8]. Negative
Fähigkeit im Zusammenhang der Leitung von Organisationen bedeutet, dass auf
Unsicherheit beruhende Leitungsentscheidungen solange ausgehalten und durch den
Leiter selbst „contained“ werden, bis der
Entscheidungsträger durch die Gesamtsituation hinreichend
„in-formed“[3] wurde. So sind
z. B. Entscheidungen zur Expansion eines Geschäftsbereichs
abhängig von Entscheidungen konkurrierender Unternehmen, deren
Produktentwicklungen, aber auch der konjunkturellen Marktentwicklung –
sodass erst im weiteren zeitlichen Verlauf ein Gesamtverständnis der bis
dahin unsicheren Situation und der Implikationen des Ausgangs einer im
übertragenen Sinn veranstalteten „Wette“ auf neuer Basis
möglich wird [9]. Bions Konzept kann also
sehr hilfreich sein, Leitung in Organisationen besser zu verstehen und
Leitungskräfte zu unterstützen, die immanenten und z.T. extremen
emotionalen Zustände der Unsicherheit begrifflich besser zu fassen und mit
ihnen umzugehen. Negative Fähigkeit bedeutet auf Leitungsebene, aktiv
Situationen von Unsicherheit und Nicht-Wissen gestaltend auszuhalten [10].
Balintarbeit und „Negative Fähigkeit“
Balintarbeit und „Negative Fähigkeit“
In der Besprechung der Arzt-Patienten-Beziehung in der Balintgruppe wird dem
fallvorstellenden Kollegen ein Containment angeboten [11], über das ungeordnete Affekte, Unsicherheiten, Wahrnehmungen
und Beziehungskonstellationen – vergleichbar Bions β-Elementen
– in denk- und bearbeitbare Vorstellungen und Ideen – Bions
α -Elemente - überführt werden [12]
[13]. In diesem Transformationsprozess nimmt die
Gruppe bisher „Nicht-Gewusstes“ und
„Nicht-Wahrgenommenes“ und bisher Verborgenes mittels projektiver
Identifikation aus der Arzt-Patienten-Beziehung auf, um dieses
„Unbewusste“ durch Bearbeitung im Gruppendiskurs in einen
Bewusstseinsbereich zu bringen, wo es assimiliert, gefühlt und gedanklich
erfasst werden kann. Anders als in der Supervisionsgruppe will die Balintarbeit
keinen Algorithmus zum weiteren Vorgehen erarbeiten. Vielmehr soll die
Fähigkeit gestärkt werden, auf den Patienten und seine
Bedürfnisse weniger zu „reagieren“, sondern angemessener und
freier zu „antworten“ [14]. Die
Gruppe, ihr Leiter, wie auch jeder einzelne Teilnehmer in der Diskussion stellen
damit ihre Aufnahmefähigkeit für Unsicherheiten zur
Verfügung – und damit über ein bloßes Containment
hinaus ihre „Negative Fähigkeit“. Die Gesamtgruppe verbleibt
im günstigsten Fall während der gesamten Gruppensitzung im Zustand
„negativer“, d. h. „offen gehaltener“
Kapazität, da keine konkret formulierte „Aktion“ angestrebt
wird. Eine der wesentlichen Erfahrungen bei kontinuierlicher Balintarbeit ist eine
nach der Gruppenarbeit erhöhte „Antwortfähigkeit“
auf den Patienten: Nach einer Vorstellung in der Gruppe treten
regelmäßig eher unerwartete, neue Konstellationen in der
nächsten Arzt-Patienten-Begegnung auf, die sich auf eine Veränderung
des Arztes bzgl. des inneren Verstehens des Patienten und eine freiere Erwiderung
auf dessen Nöte rückführen lassen.
Für gewöhnlich erleben sowohl der vorstellende Kollege als auch die
Teilnehmer nach dem Diskussionsprozess in der Balintgruppe eine
größere innere Leichtigkeit, welche vielleicht verstanden werden
kann als eine innere Anfüllung mit produktiv zu nutzendem, seelischem
Material. Dieser Vorgang geht mit einem inneren Bereicherungs- und Wachstumsprozess
einher.
Der vorstellende und an der Gruppendiskussion nicht teilnehmende Kollege übt
sich in seiner eigenen „negativen Fähigkeit“, indem er durch
sein Zuhören die Möglichkeit erhält, von eigenen Reaktionen
und handelndem Mitdiskutieren oder gar eventuellem Verneinen, Richtigstellen und
Abwehren der dargebotenen gedanklichen und seelischen Inhalte abzusehen.
Die Gruppe stellt ihre „negative Fähigkeit“ zur
Verfügung, indem sie über Wege der projektiven Identifikation die
bisher unerkannten Anteile der Arzt-Patienten-Beziehung aufgreift und über
die Gruppendiskussion sowohl dem emotionalen Vorbewussten wie dem Bewusstsein des
Vorstellenden und zusätzlich auch den anderen Teilnehmern zugänglich
macht. Aspekte einseitiger Aktion oder einer Evakuation unerträglicher
Gefühle in die Gruppe werden bei gelingender Balintarbeit über den
Gruppenprozess ausgeglichen – und über das
„push-back“, also das Sich-Herausnehmen des fallvorstellenden
Kollegen aus dem Gruppenprozess, dokumentiert durch das leichte Zurücksetzen
des Stuhls.
Der einzelne, sich in den Diskurs einbringende Teilnehmer öffnet sich im
Gruppenprozess – wenn auch in unterschiedlicher Stärke – den
angebotenen Diskussions-Bruchstücken und stellt dabei seine eigene Negative
Fähigkeit als Container und Resonanzkörper für den
Gruppenprozess zur Verfügung.
Leiter (und Co-Leiter) stellen durch Strukturgebung einen Rahmen her, über
den beide wiederum sowohl ihre eigene Negative Fähigkeit wie die der Gruppe
modellieren. Ihre Aufgabe ist es auch, bei zu großer Störung helfend
einzugreifen, oder bei Überlastung von Containment und Negativer
Fähigkeit Grenzen wiederherzustellen.
Eine Gruppenteilnehmerin wird durch die Beschreibung des Todes eines Kindes im
geschilderten Fall emotional schwer mitgenommen, was ihr deutlich anzumerken ist.
Die Co-Leitung schlägt ihr ein Verlassen des Raums vor. In der
Zweiersituation außerhalb der Gruppe kann ein emotionales Containment
für die Kollegin und deren Abgrenzungsfähigkeit wiederhergestellt
werden. Zumindest vorläufig kann eine gewisse Aufnahmefähigkeit
für den Gruppenprozess und die Fortsetzung der Teilnahme an der
Gruppensitzung erreicht werden.
Abhängig von der Bereitschaft der Teilnehmer, sich auf emotionale Inhalte
einzulassen, entsteht in der Balintgruppe ein unterschiedliches Niveau
„Negativer Fähigkeit“.
Einem sehr rationalistischen, internistischen Kollegen fällt es schwer, sich
auf den, emotionale Aspekte fokussierenden Gruppendiskussionsprozess einzulassen und
zu beteiligen. Er sucht vorrangig nach Vorschlägen für konkretes
Vorgehen und somatische Behandlungsstrategien. Bei der im Rahmen der
Psychosomatischen Grundversorgung obligatorischen eigenen Fallschilderung werden
verunsichernde, unklare und widersprüchliche Aspekte vermieden und
weitgehend nur Fakten berichtet. Die sich in der Diskussion bemühende Gruppe
und die von ihr benannten Fantasien und emotionalen Erlebnisse werden im
Abschlussstatement des Kollegen letztlich entwertet und so die angebotenen Inhalte
abgewehrt. Im bionischen Sinn hat der fallvorstellende Kollege eher keine Negative
Fähigkeit wirksam werden lassen wollen oder können.
Wenn die „Negative Fähigkeit“ der Gruppe nicht ausreicht
für die Aufnahme entscheidender Aspekte der vorgestellten
Arzt-Patienten-Beziehung, kann im Verlauf der Gruppendiskussion das Einbringen
dieser Aspekte durch den Leiter hilfreich werden. Besonders kann dies der Fall sein
bei parasitären Arzt-Patienten-Beziehungen, die ohnehin nicht der
üblichen Beziehung zwischen einem Patienten und einem Helfendem entsprechen.
Hier ersetzt der Leiter dann ggf. durch eigenes Benennen des parasitären
Modus die blockierte Negative Fähigkeit der Gruppe [15]. Vorsicht scheint dabei geboten, um die Gruppe
nicht durch intellektualisierende Angebote im emotionalen Prozess zu bremsen.
Einige Balintleiter bevorzugen „freiwillige“ Gruppen – im
Gegensatz zu jenen Ausbildungsgruppen, deren Teilnehmer sich aufgrund
verpflichtender Curricula im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung oder der
Facharztausbildung zusammenfinden müssen. Bei „freiwilligen“
Teilnehmern kann – auch aufgrund deren für gewöhnlich
vorliegender längeren Balinterfahrung – von einer
größeren inneren Bereitschaft zur emotionalen Teilnahme und
Sich-dem-Gruppenprozess-Überlassen ausgegangen werden, und damit von einer
größeren „negativen Fähigkeit“ , die dann
auch mehr Lebendigkeit in der Gruppendiskussion zur Folge hat.
Prismatische Balintgruppen – eine „Technik“ zur
Erhöhung Negativer Fähigkeit
Prismatische Balintgruppen – eine „Technik“ zur
Erhöhung Negativer Fähigkeit
Unterschiedliche Ansätze versuchen im Rahmen der Balintarbeit einen
erweiterten Zugang zu emotionalen Zuständen zu erreichen, wie z. B.
Psychodrama-Balintgruppen [16] oder Balintgruppen
mit Aufstellungsarbeit. In der von Drees konzipierten Prismatischen Balintgruppe
[17] wird Negative Fähigkeit
spezifisch beübt: Die Gruppe fokussiert – als Weiterentwicklung des
klassischen Balintkonzepts – auf Stimmungsprozesse,
körperlich-sinnliche Beschreibungen und frei flottierende Fantasien, die
alle ausdrücklich nicht auf die Arzt-Patienten-Beziehung hin oder auf eine
dort vermutete Störung gedeutet werden. Drees geht davon aus, dass die
Transformation von gerichteten Beziehungsgefühlen in „sinnliche und
stimmungsbezogene Gefühle des Selbsterlebens“ ganzheitliche,
sinnsuchende und sinnlich-gestimmte Kommunikationsprozesse möglich macht. In
der konkreten Anwendung der prismatischen Methode wird auf Detailbeschreibungen von
fantasierten Bildern und Inhalten Wert gelegt. Angesprochene Stimmungen und
Fantasien werden nicht in Richtung ihrer symbolischen Bedeutung diskutiert.
Die Teilnehmer werden angehalten, sich möglichst ohne jegliche innere Zensur
auf auftretende Fantasien und Körperempfindungen einzulassen und diese in
die Gruppe einzubringen. Insgesamt handelt es sich bei der Prismatischen
Balintgruppe nach Drees um eine „sinnlich imaginative
Arbeitsmethode“.
Legt man Bions Konzept der Negativen Fähigkeit zugrunde, so wird diese
Negative Fähigkeit als nicht-zensierende Aufnahmefähigkeit genutzt
für die Evozierung zunächst scheinbar ungeordneter Fantasien und
Stimmungen bei gleichzeitiger Erweiterung gerade dieser Negativen Fähigkeit.
Nutzung und Erweiterung der Negativen Fähigkeit geschehen über das
Einbringen von intellektuell Nicht-Fassbarem, bisher Nicht-Gedachtem und
„Nicht-Gewusstem“ in Gestalt unzensierter Affektbruchstücke,
Körperwahrnehmungen und scheinbar abwegiger Fantasien. All dieses durchaus
verwirrende und verunsichernde Material wird in den containenden Gruppenprozess
eingebracht und erweitert dabei den Zugang zum Vorbewusstem. Folgt man den
Schilderungen Drees[4], so werden über
die Prismatische Balintgruppe in überraschender Weise neue
Möglichkeiten in der Beziehungsgestaltung angestoßen, weil
über einen vorrangig nicht intellektuellen Prozess zuvor nicht greifbare
Inhalte energetisch aufgeladen wurden.
Negative Fähigkeit und Ergebnisse der Forschung zur Balintarbeit
Negative Fähigkeit und Ergebnisse der Forschung zur Balintarbeit
Die Forschung zur Wirksamkeit von Balintgruppen hatte bisher sehr unterschiedliche
Foci. Sie kam zu einigen, hier herausgegriffenen und ätiologisch nur bedingt
erklärbaren Ergebnissen: So wurde eine Verbesserung der
Empathiefähigkeit [18]
[19] aufgezeigt, aber z. B. auch eine
Veränderung im Kommunikationsverhalten. Diese zeigt sich u. a. in
der Bereitschaft, den eigenen Gesprächsanteil zu reduzieren und mehr
zuzuhören [20]. Bei Ärzten mit
somatischer Ausbildung bewirkte die Teilnahme an einer Balintgruppe eine
verstärkte Auseinandersetzung mit interpersonellen Phänomenen der
Arzt-Patient Beziehung und mit Übertragungsdynamiken [21].
Nimmt man als Ausgangspunkt Bions Konzept Negativer Fähigkeit, welche in der
Balintgruppe beübt wird, so ließen sich die angeführten
Ergebnisse recht zwanglos erklären: Die Einfühlung in ein
Gegenüber wächst, wenn sich Offenheit für Fremdes und
Unverständliches vergrößert. Je mehr ich aufzunehmen bereit
bin, umso weniger werde ich mich mit meinen eigenen emotionalen oder auch
intellektualisierenden Inhalten in ein Gespräch mit dem Patienten einbringen
müssen – analog Bions „Zuhören ohne
Gedächtnis und Wunsch“. Wenn ich aus dem somatischen, und damit eher
funktionalen Bereich der Medizin komme, weitet sich in der Balintarbeit meine
Negative Fähigkeit, also meine Aufnahme und intuitives Verstehen von
interpersonalen und emotionalen Aspekten meiner Patientenbegegnung.
Abhängig vom Forschungsansatz lässt sich in unterschiedlicher Weise
ein Zusammenhang herstellen zwischen qualitativen und quantitativen Ergebnissen auf
der einen Seite mit einer wachsenden Fähigkeit der Teilnehmer auf der
anderen Seite, sich einer emotional unsicheren Situation zu stellen und mit dieser
konstruktiv und eben nicht abwehrend-wertend umzugehen, und damit mit einer
größeren Negativen Fähigkeit nach Bion.
Ausblick
Benötigen wir Bions Konzept Negativer Fähigkeit? In der
psychoanalytischen Organisationsberatung wird diese Gedankenfigur genutzt, um
Angstkomponenten in unübersichtlichen Situationen zu erklären, zu
„containen“ und durch konstruktiven Umgang zu verringern. In der
praktischen Balintarbeit könnte mithilfe des Konzepts der Negativen
Fähigkeit ein unterschiedliches „Ansprechen“ der Teilnehmer
auf die Gruppenarbeit besser verstehbar werden: Hier spielt die entscheidende Rolle
das unterschiedliche Ausmaß, wie weit sich die einzelnen Gruppenmitglieder
gegenüber unsicheren, ambivalenten und diffus-emotionalen Aspekten der
Arzt-Patienten-Beziehung öffnen können und wollen. Es könnte
fruchtbar sein, Strategien zu entwickeln, eine Erweiterung der Negativen
Fähigkeit bei potentiellen Interessenten und Teilnehmern zu stärken
und sie so für die kontinuierliche Balintarbeit zu gewinnen.