Lonergan M,
Chalmers JD.
Estimates oft he ongoing need for social distancing and control measures post-„lockdown“
from trajectories of COVID-19 cases and mortality.
Eur Respir J 2020;
56: 2001483
Die Restriktionen, die zur Eindämmung des Virus ergriffen wurden, können Gesellschaften
nicht dauerhaft ertragen; zu groß sind die negativen Folgen für Wirtschaft und soziales
Zusammenleben. Die Autoren versuchten zu klären, in welchem Ausmaß diese Einschränkungen
wieder gelockert werden können. Dafür nutzten sie die bis zum 21. Mai verfügbaren
Daten zu SARS-CoV-2 der Webseite des European Centre for Disease Prevention and Control.
Lonegan und Chalmer berücksichtigten dabei die Länder, die über mindestens 1000 bestätigte
Fälle bzw. mindestens 100 COVID-19-Tote berichtet hatten. Auf dieser Basis standen
die Daten von 89 Ländern für den Zeitraum bis zum 21. Mai 2020 zur Verfügung; es waren
fast 5 Millionen Infizierte sowie rund 32 500 Tote gemeldet worden. Fallzahlen und
Sterblichkeit berechneten die Autoren getrennt voneinander. Zudem prüften die Autoren
alle Daten für jedes Land auf Inkonsistenzen und Artefakte.
Bei der Beurteilung der vorhandenen Daten konzentrierten sich die Autoren darauf,
anhand der Zahlen zeitlich begrenzte Phasen zu identifizieren, in denen die Zahlen
kontinuierlich (exponentiell) anstiegen (vor dem Lockdown) oder abfielen (während
des Lockdowns). Die Daten ließen die Autoren in statistische Modelle einfließen, um
mit diesen Ergebnissen den Verlauf der Fälle und Todesfälle, Verdopplungszeiten der
Infektionszahlen und die Reproduktionszahlen (R-Wert, R0) abzuschätzen. Dabei wurden die Ergebnisse verschiedener Modelle vor und während
des Lockdowns bewertet und miteinander verglichen.
Um in einem nächsten Schritt den Effekt des Lockdowns und die Frage nach einer möglichen
Lockerung zu beantworten, nutzten die Autoren 4 Maßzahlen: Das Verhältnis der exponentiellen
Kurven der SARS-CoV-2-Fallzahlen vor und während des Lockdowns lässt hierbei eine
Aussage darüber zu, wie viele Tage „im Lockdown“ nötig sind, um einen Tag „normalen
Alltag“ auszugleichen. Neben diesem Parameter wurden 3 unterschiedlich errechnete
Werte genutzt, die sich aus verschiedenen Ratios der R-Werte ergeben. Ein R-Wert von
1 heißt dabei, dass ein Infizierter durchschnittlich nur eine weitere Person ansteckt,
die Fallzahlen also stabil bleiben. Aus einem dieser berechneten Werte lässt sich
bspw. erkennen, welcher Anteil an Einschränkungen wieder aufgehoben werden kann, ohne
dass R0 wieder über den Wert von 1 steigt. Aus einer anderen Zahl lässt sich ableiten, bei
welchem maximalen R-Wert es überhaupt durch einen Lockdown noch möglich ist, eine
Pandemie zu kontrollieren.
Die Ergebnisse aus den einzelnen Ländern sind teilweise sehr unterschiedlich; die
Autoren fassen daher allgemeine Ergebnisse zusammen, die sich konsistent zeigten.
In den meisten Ländern betrug der R-Wert zunächst zwischen 2,0 und 3,7 und fiel dann
mit dem Lockdown; dies allerdings nur in Frankreich mit 0,76 deutlich. Die Maßnahmen
des Lockdowns waren also grundsätzlich nützlich; wäre das Virus um 25 % infektiöser
gewesen, so schätzen die Autoren, dann hätte selbst der Lockdown die Fallzahlen nicht
reduzieren können.
Die Hoffnung jedoch, dass intermittierend erlassene Restriktionen, etwa nur für jeweils
1 Woche pro Monat, die Corona-Pandemie aufhalten könnten, sehen die Autoren nicht.
Selbst eine gering erscheinende Lockerung von 20 % würde laut der Schätzungen in den
meisten Ländern bedeuten, dass die Fallzahlen wieder ansteigen. Wer deutlich lockert,
wird sehr schnell wieder einen kompletten Lockdown beschließen müssen, vermuteten
die Autoren in der Ende Mai publizierten Arbeit.
Aussagen zu den hier untersuchten Fragen bezüglich SARS-CoV-2 können nur vorsichtige
Schätzungen sein. Dennoch folgern die Autoren: Wahrscheinlich müssen wir die sozialen
Kontakte dauerhaft um mehr als 80 % gegenüber dem gewohnten Alltag reduzieren, damit
die Infektionszahlen nicht wieder stark ansteigen. Wir müssen uns wohl an ein „neues
Normal“ gewöhnen; mit Abstand im sozialen Miteinander, Gesichtsmasken, Kontaktnachverfolgung,
Tests etc. – jedenfalls so lange, bis ein Impfstoff verfügbar ist.
Dr. med. Susanne Meinrenken, Bremen