Islam N.
et al.
Physical distancing interventions and incidence of coronavirus disease 2019: natural experiment in 149 countries.
BMJ 2020;
370: m2743
DOI:
10.1136/bmj.m2743
Die täglichen COVID-19-Fallzahlen wurden den Angaben der einzelnen Staaten entnommen, die vom European Centre for Disease Prevention and Control gesammelt werden. Die Distanzierungsmaßnahmen in den einzelnen Ländern zwischen dem 1. Januar und dem 30. Mai 2020 wurden in 5 Kategorien erfasst:
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Schließung von Schulen,
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Schließung von Arbeitsplätzen,
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Einstellen des öffentlichen Personenverkehrs,
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Restriktionen bezüglich Massenveranstaltungen und öffentlichen Ereignissen sowie
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Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.
118 Länder hatten Maßnahmen in allen 5 Bereichen ergriffen, 25 Länder Maßnahmen in 4 der 5 Bereiche (darunter auch Deutschland, das den öffentlichen Personenverkehr aufrechterhalten hat). Maßnahmen in 3 Bereichen hatten 4 Länder ergriffen, Maßnahmen in 2 Bereichen nur Tansania. Weißrussland hatte als einziges erfasstes Land nur in einem Bereich (Schulschließungen) Beschränkungen vorgenommen.
Der Hauptendpunkt der Studie war das Inzidenzratenverhältnis (IRR) von COVID-19 vor und nach Implementierung der sozialen Distanzierungsmaßnahmen nach den Daten vom 30. Mai 2020 oder den Daten 30 Tage nach Einführung der Maßnahmen. Die IRR wurden über alle Länder hinweg mithilfe einer Random-Effects-Metaanalyse zusammengeführt.
Ergebnisse
Über alle 149 Länder hinweg war die Einführung von sozialen Distanzierungsmaßnahmen mit einer um 13 % reduzierten COVID-19-Inzidenz assoziiert: Die IRR betrug 0,87 (95 %-Konfidenzintervall [KI] 0,85 – 0,89). Das Einstellen des öffentlichen Personenverkehrs war nicht mit einer stärker reduzierten COVID-19-Inzidenz assoziiert, wenn alle anderen 4 Maßnahmen getroffen worden waren. Die gepoolte IRR mit Einstellen des öffentlichen Verkehrs lag bei 0,85 (95 %-KI 0,82 – 0,88; n = 72) und ohne bei 0,87 (95 %-KI 0,84 – 0,91; n = 32). Für Deutschland, wo der öffentliche Verkehr weiter fuhr, fand sich insgesamt aber keine klare Assoziation der Maßnahmen zur sozialen Distanzierung mit einer reduzierten COVID-19-Inzidenz im betrachteten Zeitraum (IRR 0,92; 95 %-KI 0,53 – 1,59).
Auf Basis von Daten aus insgesamt 11 Ländern wurde die Effektivität von nur 3 Maßnahmen (Schulschließungen, Arbeitsplatzschließungen und Restriktionen von Massenversammlungen) analysiert. Auch hier fand sich eine ähnliche Assoziation von Maßnahmen und reduzierter COVID-19-Inzidenz (gepoolte IRR 0,85; 95 %-KI 0,81 – 0,89). Das galt aber auch in Weißrussland nur mit Schulschließungen (IRR 0,82; 95 %-KI 0,75 – 0,91).
Im Mittel wurden die Maßnahmen erstmals 9 Tage (± 13 Tage) nach dem ersten dokumentierten COVID-19-Fall implementiert. Eine frühere Einführung des Lockdowns war mit einer größeren Reduktion der COVID-19-Fälle assoziiert (gepoolte IRR 0,86; 95 %-KI 0,84 – 0,89; n = 105) als wenn der Lockdown eingeführt wurde, nachdem zunächst andere Distanzierungsmaßnahmen eingesetzt hatten (gepoolte IRR 0,90; 95 %-KI 0,87 – 0,94; n = 41). Allerdings war in einer Metaregressionsanalyse die Zeit zwischen dem ersten COVID-19-Fall und der Implementierung der sozialen Distanzierungsmaßnahmen nicht signifikant mit der COVID-19-Inzidenz assoziiert.
Die Maßnahmen der sozialen Distanzierung scheinen über alle Länder hinweg die Inzidenz von COVID-19 reduziert zu haben. Die Autoren verweisen allerdings auf Unsicherheiten. So basieren einige Analysen nur auf Daten aus wenigen Ländern, und es gibt widerstreitende Ergebnisse in verschiedenen Ländern. Die Daten erlauben zudem keine Aussage zum optimalen Zeitpunkt der Interventionen und ihrer Aufhebung, betonen die Autoren.
Friederike Klein, München