Abb.: Thieme Group (Symbolbild)
Der Fall
Aufgrund eines Unfalls hat der 60 Jahre alte Herr Schneider eine sensomotorisch inkomplette
Paraplegie auf Höhe des 8. Brustwirbels. Er gibt Schmerzen im Bereich der Osteosynthese
an und zeigt eingeschränkte Sensibilität und Propriozeption in den Beinen. Der Schlüsselbeinbruch,
den er sich ebenfalls beim Unfall zugezogen hat, verursacht derzeit keine Schmerzen.
In seiner Freizeit fährt Herr Schneider gerne Fahrrad und spielt in der Dorfmusik.
Er ist als selbstständiger Landwirt tätig und wohnt zusammen mit seiner Frau und ihren
zwei gemeinsamen Kindern in einem zweigeschossigen Eigentumshaus auf seinem Bauernhof.
Der Zugang zum Haus erfolgt über Stufen. Im Bad gibt es sowohl eine Dusche als auch
eine Badewanne. Der 60-Jährige besitzt einen PKW sowie diverse Landwirtschaftsmaschinen.
Der Parkplatz ist überdacht. Sein wichtigstes Ziel ist es, als Fußgänger seinen Bauernhof
wieder führen zu können.
Um Personen wie Herrn Schneider optimal auf ihr Leben nach der Rehabilitation vorzubereiten
und sie in ihren Berufsalltag bestmöglich wieder einzugliedern, ist eine interprofessionelle
Herangehensweise notwendig. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit (ICF) gilt als grundlegendes Modell klinischer Entscheidungsfindung
im Schweizer-Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Ergo- und Physiotherapie werden durch eine
Co-Leitung geführt. Der Informationsfluss mit der Pflege und den Ärzten wird durch
den morgendlichen Austausch, regelmäßige Co-Therapien und interprofessionelle Besprechungen
gewährleistet. Der Patient als Kernperson wird in die gemeinsame Visite einbezogen,
die alle vierzehn Tage stattfindet. Daran nehmen alle Professionen teil, die an der
Rehabilitation des Patienten beteiligt sind. Als zusätzliches Angebot des SPZ existiert
die ParaWork. Sie unterstützt Personen, die eine berufliche Eingliederung auf dem
Arbeitsmarkt wünschen.
Im folgenden Beispiel zeigen Ergo-, Physiotherapie und ein Jobcoach von ParaWork stellvertretend
für das interprofessionelle Team ihre Zusammenarbeit für eine erfolgreiche Wiedereingliederung
in den Alltag und Beruf am Fall von Herrn Schneider auf. Er war insgesamt fünf Monate
stationär im SPZ und wurde ambulant über weitere acht Monate eng vom Jobcoach begleitet.
Mirjam Schäfer
ABB. 1 Der Patient erprobte seinen Aktivrollstuhl auf unterschiedlichen Untergründen, als
seine Familieihn in der Reha besuchte.
Abb.: F. Iseli
Ergotherapie
Als ich Herrn Schneider im Zielgespräch kennenlernte, definierte er mit mir zunächst
folgende Partizipations- und Aktivitätsziele: selbstständige Mobilität im Aktivrollstuhl
inklusive der Alltagstransfers in drei Monaten (Nahziel) und selbstständiges Wohnen
als Teilfußgänger im eigenen Zuhause in sechs Monaten (Fernziel).
Mobilität ermöglichen
Der Einsatz eines Aktivrollstuhls war anfangs aufgrund der Claviculafraktur nicht
möglich. Daher erhob ich die Körpermaße des Patienten, um einen passenden Elektrorollstuhl
für ihn vorzubereiten. Da die Sensibilität der unteren Extremitäten vermindert war,
wählte ich außerdem ein Antidekubituskissen aus. Das Gel im hinteren Bereich bietet
präventiv einen Dekubitusschutz, und der feste Schaumstoff im vorderen Bereich erleichtert
das Stützen beim Transfer. Zusätzlich nahm der Patient an einer Informationsveranstaltung
zur Dekubitusprophylaxe teil. Im Verlauf der Rehabilitation testete Herr Schneider
diverse Rollstühle und Sitzkissen. Nach fünf Wochen war es ihm dann möglich, selbstständig
in einem Aktivrollstuhl zu fahren.
Zusammen mit der Physiotherapie erarbeiteten wir die Transfertechniken nach kinästhetischen
Gesichtspunkten. Dazu gehörten die Flexion und Rotation der Wirbelsäule sowie die
Blickrichtung in die kontralaterale Richtung des Transfers. Damit alle Berufsgruppen
ihn einheitlich instruierten, fand eine Aktivitätsvisite statt. Dabei zeigte Herr
Schneider seine Technik vor der Pflege, den Therapieberufen und Ärzten. Nach zwei
Monaten konnte der Patient die erlernte Transfertechnik auf alle Alltagstransfers
übertragen. Zudem war er nach intensiven Anzieh- und Selbsthilfetrainings im Bereich
Selbstversorgung selbstständig. Im Stadttraining lernte er mit dem Rollstuhl Rolltreppen
zu bewältigen sowie Pflastersteine, Treppen und weitere Hindernisse zu überwinden.
Zehn Wochen vor seinem Reha-Austritt war Herr Schneider beim Gehen im Außenbereich
noch sturzgefährdet. Die Gangqualität entwickelte sich zwar weiter, es stellte sich
jedoch die Frage, obsie für steile und unebene Strecken ausreichen würde, wie sie
auf seinem Bauernhof vorzufinden sind. In Absprache mit dem Patienten und dem behandelnden
Team wurde die Frage nach der damaligen Notwendigkeit eines Rollstuhls mit „Ja“ beantwortet.
Wohnraum anpassen
Nach zwei Monaten fand zusammen mit ParaWork, einem Architekten der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung
und einem Vertreter der Versicherung des Patienten die Wohnungsabklärung statt. Erfreulicherweise
waren am Wohnhaus selbst nur kleine bauliche Anpassungen notwendig. Zusätzlich gab
der Patient nach Wochenendurlauben Rückmeldung, woran er in der Therapie arbeiten
möchte. Hieraus ergab sich die Fragestellung der Mobilität auf den Feldernund deren
Bewirtschaftung. Im Austausch mit ParaWork analysiertenwir für die Bedürfnisse des
Patienten passende Landwirtschaftsmaschinen. Im Rahmen der Motorisierungsabklärung
zeigte sich, dass eine Anpassung am PKW nicht notwendig war.
Erfolgreicher Abschluss
Im Hinblick auf Herrn Schneiders Ziel, Fußgänger zu werden, unterstützte ich die Physiotherapeutin
mit Trainings zur Rumpfstabilität und isolierten Beckenbewegungen. Der Patient ist
inzwischen in all seinen Aktivitäten des täglichen Lebens selbstständig. Kurz vor
dem Ende seines Reha-Aufenthaltes bestätigte er, dass er auf ein eigenständiges Leben
zu Hause vorbereitet sei. Deshalb wurde die ergotherapeutische Behandlung mit dem
stationären Aufenthalt erfolgreich abgeschlossen.
Mirjam Schäfer
Physiotherapie
ABB. 2 Zur Aktivierung der unteren Extremitäten trainierte Herr Schneider am NuStep T5xr.
Abb.: F. Iseli
Anschließend an die gemeinsame Anamnese mit der Ergotherapeutin erhob ich den Gelenkstatus
der unteren und oberen Extremitäten sowie den Muskelstatus der unteren Extremität
und des Rumpfes. Mit dem Patienten formulierte ich folgendes Fernziel: In 5 Monaten
geht Herr Schneider im Innenbereich auf ebenem Boden mit Hilfsmitteln.
Gehen im Fokus der Therapie
Um früh eine selbstständige Mobilität zu ermöglichen, lag zu Beginn der Reha der Fokus
auf dem selbstständigen Transfer in den Rollstuhl sowie auf den Bewegungsübergängen
im Bett zusammen mit Ergotherapie und Pflege. Zudem setzte ich funktionelle Elektrostimulation
zum Kraftaufbau und zur Verbesserung der Ansteuerungsfähigkeit des M. gluteus maximus,
M. triceps surae beidseits und der Mm. ischiocrurale ein. Herr Schneider nahm an Gruppentherapien
der Sporttherapie teil, um das Rollstuhlhandling zu erlernen. Dies ermöglichte es,
den Fokus in den Einzeltherapien auf das Gehen zu legen.
Zu Beginn trainierten wir die posturale Kontrolle aus verschiedenen Ausgangsstellungen
wie Kurz-, Langsitz und Stehen. Dies diente als Voraussetzung zum qualitativ hochstehenden
Gehen. Im Wasser ging der Patient erste Schritte. Nach sechs Wochen lief Herr Schneider
zum ersten Mal auf dem Laufband mit Gewichtsentlastung. Die Muskelfunktionen hatten
sich schnell erholt: Nach neun Wochen waren Aufstehen und erste Schritte am Barren
möglich, drei Wochen später genügte die Unterstützung eines Rollators, und nach weiteren
drei Wochen konnte sich der Patient mithilfe von Nordic-Walking-Stöcken unter Supervision
ausreichend stabilisieren. Allerdings ermüdete er schnell und war daher noch sturzgefährdet.
Nach vier Monaten intensiver Gangschule bewegte sich Herr Schneider auf Station selbstständig
mit Unterarmgehstützen fort. Zur Objektivierung überprüfte ich die zunehmende Muskelkraft
mit einem monatlichen Muskelstatus. Zusätzlich erfasste ich die Verbesserung des Gehens
und des Gleichgewichts mit dem 6-Minuten-Gehtest, der Berg Balance Scale und dem Timed-Up-and-Go-Test.
Begleitend zur Einzeltherapie nahm Herr Schneider zur Verbesserung der Rumpfstabilität
an Gruppentherapien wie Bogenschießen teil. Im Gegensatz zur Muskelkraft blieben die
Defizite in der Tiefensensibilität einschränkend und minderten die Gangqualität.
Übertrag auf häusliche Situation
In laufenden Gesprächen mit dem Patienten, der Ergotherapie und der ParaWork erfuhr
ich, auf welchen Untergründen und Unebenheiten sich Herr Schneider zu Hause fortbewegen
muss. Aus diesem Grund trainierten wir das Gehen auf Wiesen, Kies, Pflastersteinen,
dem Bauernhofgelände des SPZ sowie das Bergauf- und Bergabgehen.
Aufgrund der fehlenden Tiefensensibilität erwiesen sich Unebenheiten als Herausforderung.
Zur Sicherheit nutzte Herr Schneider seine visuelle Kontrolle und erlernte Kompensationsstrategien.
Die Sturzgefahr auf unebenem Boden im Außenbereich war zu groß, sodass ich die Empfehlung
eines Aktivrollstuhls zum Ende des Reha-Aufenthaltes unterstützte.
Ambulante Betreuung notwendig
In den letzten Wochen der Rehabilitation war die Muskelkraft ausreichend, um mithilfe
des Handlaufs unter Supervision Treppen zu steigen. Zur kontinuierlichen Verbesserung
der Gangqualität war weiterhin die aktive Kräftigung der unteren Extremität und des
Rumpfes, eine Gangschule und das Training der Balance im Gehen und Stehen indiziert.
Hierfür ging Herr Schneider nach seinem Reha-Austritt in die ambulante Physiotherapie.
Samantha Wildi
Jobcoach der ParaWork
ABB. 3 Um seinen landwirtschaflichen Betrieb weiter führen zu können, musste der Patient
sein Unternehmen umstrukturieren – vom Milchkuhbetrieb auf Mutterkuhhaltung.
Abb.: F. Iseli
Drei Monate nach seinem Unfall lernte ich Herrn Schneider kennen, um ihn bei der Wiedereingliederung
auf dem ersten Arbeitsmarkt aktiv zu unterstützen. Sein Ziel war die aktive Weiterführung
seines landwirtschaftlichen Betriebes. Mit dem Ansatz der Klientenzentrierung erarbeiteten
wir gemeinsam im Verlauf der Rehabilitation die Realisierung seines Partizipationszieles.
Arbeitsproben geben Aufschluss über Fähigkeiten
Im Austausch mit den Ärzten und Therapieberufen erfasste ich die funktionelle Situation
des Patienten. Er war im Innenbereich Fußgänger und im Außenbereich auf den Rollstuhl
angewiesen. Sein Betrieb war auf Milchwirtschaft ausgelegt. Das Melken war eine große
körperliche Herausforderung für ihn, und die Umstellung auf einen Laufstallbetrieb
mit Melkstand war wirtschaftlich nicht verkraftbar.
Im Rahmen der Diagnostik wurden handwerkliche und technische Arbeitsproben durchgeführt.
Dabei wurden Kriterien wie das soziale Verhalten, Problemlösestrategien, manuelle
Kompetenzen, Lernfähigkeit, Konzentration und vieles mehr erhoben. Anhand der Ergebnisse
entstand ein Fähigkeitsprofil, welches weitgehend dem eines Landwirtes entsprach und
damit die Zielsetzung des Patienten unterstützte, obwohl seine physische Leistungsfähigkeit
aufgrund der Querschnittlähmung eingeschränkt war.
Zusammen mit der Ergotherapie besuchten wir Herrn Schneiders Bauernhof. Es gab im
Stall bauliche Hürden, und ein Drittel des Betriebes befand sich auf steiler Hanglage.
Im Gespräch mit der Physiotherapie wurde deutlich, dass aufgrund der muskulären Instabilität
der Hüfte des Patienten das Gehen in steilem, unebenem Gelände zu dieser Zeit eine
Überforderung darstellte. Die Mobilität auf seinem Hof gelang Herrn Schneider sowohl
mit Unterarmgehstützen als auch im Rollstuhl sehr gut. Zum Melken und zum Aufsteigen
auf den Traktor waren die Muskelkraft und Tiefensensibilität jedoch noch nicht ausreichend
vorhanden.
Neue Struktur des Betriebes notwendig
Nach dem stationären Reha-Aufenthalt fand zunächst ein therapeutischer Arbeitsversuch
statt, um zu sehen, welche Teilaufgaben der Patient als Landwirt wieder ausüben konnte.
Die erbrachte Leistung war wirtschaftlich noch nicht ausreichend. Im Rahmen mehrerer
Gespräche informierte ich den Eingliederungsberater der zuständigen Versicherung über
die aktuelle Situation. Zudem holte ich die fachliche Meinung einer landwirtschaftlichen
Beratungsstelle ein. Um das Ziel des Patienten zur Weiterführung des Betriebes zu
erreichen, war eine Umstrukturierung des Milchkuhbetriebs auf Mutterkuhhaltung dringendst
zu empfehlen.
Zusammen mit einer Fachperson für landwirtschaftliche Bauten erstellte ich einen Business
Case zum Einkommensvergleich vor und nach Umstellung des Betriebes. Es war von einer
wirtschaftlichen Einbuße von 50 Prozent auszugehen, gleichzeitig verringerte sich
aber auch der Arbeitsaufwand um 50 Prozent. Mit diesen neuen Rahmenbedingungen wäre
das Ziel des Patienten zwar ambitioniert, aber durchaus realistisch. Herr Schneider
war mit dem Vorschlag der Umstrukturierung einverstanden.
Ziele erreicht
Nach mehreren Gesprächen sowie nach Prüfung der Wirtschaftlich- und Tragbarkeit entstand
die Detailplanung des Bauprojektes. Für die Umstrukturierung wurde ein moderner Laufstall
für 15 bis 20 Mutterkühe mit Jungvieh realisiert. So konnte Herr Schneider nach circa
einem Jahr interdisziplinärer Betreuung wieder Leiter seines landwirtschaftlichen
Betriebes werden.
Stefan Staubli