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Viele Patienten fragen, wie sie sitzen sollen, um Rückenschmerzen zu vermeiden. Doch
Physiotherapeuten haben wie die Wissenschaft keine einheitliche Meinung zur besten
Sitzhaltung [1]. Forscher fanden zwar einen Zusammenhang zwischen mehr Sitzen und mehr Rückenschmerz
beispielsweise nach vier Tagen [2] und nach drei Monaten [3], doch solche Querschnittstudien können keine Ursache-Wirkung-Beziehung aufzeigen.
Literaturanalysen zeigten sogar eine starke Evidenz dafür, dass es keine Verbindung
zwischen beruflichem Sitzen und Rückenschmerz gibt [4], [5]. Und doch ist Schmerz nach langem Sitzen und Stehen ein typisches Symptom bei Patienten
mit Lumbalgie [6].
Zu Recht fragen sich viele daher: Wie soll ich nun sitzen? Gerade oder entspannt?
Ruhig oder dynamisch? Oder sollte ich besser stehen, statt zu sitzen? Brauche ich
teure ergonomische Sitzmöbel oder tut es auch der einfache Stuhl? Die Vielfalt der
möglichen Antworten zeigt, dass ein pathogenetisches Denkmodell fehlt, mit dem alle
Physiotherapeuten einverstanden sind. Es ist daher sinnvoll, sich zunächst mit der
Frage zu beschäftigen, warum Sitzen Rückenschmerzen auslösen können sollte.
Studien können bisher keine Ursachen-Wirkung-Beziehung zwischen Sitzen und Rückenschmerz
zeigen.
Muskeln sind nicht überanstrengt
Muskeln sind nicht überanstrengt
Studien zeigen, dass die Rückenmuskulatur von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen
während eines 30-minütigen ruhigen Sitzens im EMG nicht ermüdet war. Und das, obwohl
die Patienten eine subjektive Ermüdung angaben und sie sich in der Zeit in Rumpf und
Becken mehr bewegten als gesunde Kontrollprobanden [7]. Auch die Nackenmuskeln waren messbar nicht verspannt, obwohl die Patienten dies
subjektiv empfanden (PHYSIOPRAXIS 7-8/20, S. 20) [8], [9].
Die Muskelaktivität in aufrechter Haltung ist allgemein gering [10]. Beim aufrechten Sitzen beispielsweise bleibt sie im thorakalen M. erector spinae
und M. trapezius pars descendens unter 5 % der maximal möglichen Kontraktion (MVC,
Maximum Volontary Contraction) und in den zervikalen Extensoren unter 15 % MVC [11]. Diese Anspannungsintensitäten sind gewöhnlich nicht ermüdend.
Druck in den Bandscheiben spielt keine große Rolle
Druck in den Bandscheiben spielt keine große Rolle
Die intradiskale Druckmessung des schwedischen Forschers Alf Nachemson Ende der 1960er-Jahre
(ABB., S. 28) [12] war ein wesentlicher Auslöser der Rückenschulbewegung Anfang der 1980er-Jahre [13], [14]. Ihre Grundidee war es, den Rücken zu entlasten, um den Druck auf die Bandscheiben
zu reduzieren. Noch 1999 wurde in einer ähnlichen Studie das „schlaffe“, angelehnte
Sitzen propagiert, weil sich dabei der intradiskale Druck geringer zeigte als beim
aufrechten, freien Sitzen [15]. Diese Arbeiten berücksichtigten jedoch nicht, dass der Druck die kollagenen Fasern
im Anulus fibrosus kaum beansprucht, die für Zug gebaut sind.
ABB. Intradiskale Druckverhältnisse bei Alltagsbelastungen bezogen auf den Druck beim normalen
Stehen nach Nachemson (gelb) im Vergleich zu den Daten von Wilke (blau) [12]
© Nachemson A, Elfström G. Intravital dynamic pressure measurements in lumbar discs.
A study of common movements, maneuvers and exercises. Scand J Rehabil Med Suppl 1970;
1: 1–40
Zwar fördert der konstante Druck im Sitzen und Stehen nicht die Ernährung der Bandscheibe,
wofür Bewegen zweifelsohne besser ist. Doch dies ist keine Alternative für den, der
am Schreibtisch sitzen muss oder im Kino und Zug sitzen will. Zudem können wir die
Ernährung der Bandscheibe klinisch nicht messen, weshalb diese uns im Clinical Reasoning
wenig nutzt.
Biomedizinische Ursachen für Rückenschmerzen
Biomedizinische Ursachen für Rückenschmerzen
So gibt es verschiedene Vorstellungen, warum Sitzen schädlich sein soll. Um zu einem
einheitlichen Denkmodell zu gelangen, ist es sinnvoll, von vorn zu beginnen. Allgemein
benutzen wir Physiotherapeuten das biopsychosoziale Denkmodell. Die im Krankheitsgeschehen
oft wesentlichen psychosozialen Teile dieses Modells spielen als Pathomechanismus
beim Sitzen kaum eine Rolle. Denn psychisch und sozial ist das Sitzen geschichtlich,
gesellschaftlich und individuell akzeptiert und nicht negativ belegt. Daher bleibt
nur biomedizinisch zu fragen, wie Sitzen Rückenschmerz verursachen könnte.
Das biomedizinische Denkmodell geht davon aus, dass eine Erkrankung eine einzige Ursache,
einen einzigen Verlauf und eine einzige geeignete Behandlung hat. Die Lungenentzündung
beispielsweise hat die Pneumokokken als Ursache, verläuft unbehandelt oft tödlich
und braucht das passende Antibiotikum als Behandlung. Gibt es eine solche pathogene
Ursache-Wirkungs-Kette auch für den Rückenschmerz beim Sitzen?
Spezifische und unspezifische Rückenschmerzen
Spezifische und unspezifische Rückenschmerzen
Bei den spezifischen Rückenschmerzen, die eine erkennbare Ursache haben, geht es um
Frakturen, Infektionen, Tumore usw. Sitzen kann in solchen Fällen zwar den Schmerz
verschlimmern, aber nicht verursachen. Der Patient spürt dann sofort, dass der Schmerz
zunimmt, und meidet folglich diese Position. Die Alarmglocke des akuten Schmerzes
funktioniert.
Bei den unspezifischen und meist chronischen Rückenschmerzen, mit denen Physiotherapeuten
gewöhnlich konfrontiert sind, fehlt definitionsgemäß eine nachweisbare Ursache. Folglich
hat auch kein Forscher bisher nachweisen können, dass Sitzen den unspezifischen Rückenschmerz
auslöst.
Besteht keine akute Verletzung, wie ein Bandscheibenvorfall, führt eine Spannungserhöhung
im Gewebe durch „krummes“ oder anderes Sitzen nicht zur direkten Stimulation von Nozizeptoren.
Kein akuter Schmerz warnt uns vor diesem Sitzen. Und doch verbinden viele Rückenpatienten
das Sitzen mit ihrem Problem. Zudem soll es auf lange Sicht nicht gut sein. Das Denkmodell,
das viele Therapeuten hier benutzen, beruht auf der sogenannten langdauernden Fehlbelastung.
Diese Abweichung von der aus mechanischer Sicht idealen Haltung führt zu Konzentrationen
von mechanischer Belastung bzw. Beanspruchung (englisch: stress and strain) [16]. Eine Weile ist das auszuhalten – stellt sich die Frage, wie die langfristigen Folgen
aussehen.
Jeder „normale“ Rücken hält es aus, wenn wir ab und zu krumm sitzen. Leider fehlen
bisher Langzeitstudien.
Langfristige Folgen von Fehlbelastungen
Langfristige Folgen von Fehlbelastungen
Sie sind beispielsweise am Knie einfach zu erklären. Einen möglichen Zusammenhang
zwischen einem Genu varum/valgum und Gonarthrose fanden einige Studien nach 18 Monaten
Beobachtung [17], und dies vor allem bei schon bestehender moderater Gonarthrose [18]. Andere Forscher fanden nach 6,6 Jahren diesen Zusammenhang nur bei übergewichtigen
Personen [19]. In einem Review mit einem mittleren Beobachtungszeitraum von 8,75 Jahren zeigte
sich hingegen kein Zusammenhang [20]. Letztendlich ist die Studienlage unzureichend – ähnlich wie beim Rückenschmerz.
Die Indikation zur Umstellungsosteotomie beim Genu varum/valgum des Jugendlichen stellt
der Chirurg folglich vor allem aufgrund biomechanischer Überlegungen und Erfahrung
[21].
Nötig wären Untersuchungen, die beispielsweise ein Genu varum/valgum bei jungen Menschen
diagnostizieren und diese etwa 40–50 Jahre später mit Personen mit physiologischer
Beinachse vergleichen. Entsprechend lang dauernde Untersuchungen sind dem Autor nicht
bekannt. Wahrscheinlich sind sie nicht nur zu aufwendig, sondern auch extrem schwierig
durchzuführen, da man zahlreiche andere Variablen als mögliche beitragende und verursachende
Faktoren zur Entstehung einer Gonarthrose beachten müsste.
Ähnliche Untersuchungen fehlen auch zur Wirbelsäule. Hier zeigten beispielsweise Querschnittstudien
zwar einen Zusammenhang zwischen Nackenschmerzen und der Vorhaltung des Kopfes [11], [22]–[24], die Therapeuten erfolgreich korrigieren können [25], doch über die Schmerzursache sagt das nichts aus. Kurioserweise fehlen solche Arbeiten
zur Haltung im Zusammenhang mit lumbalen Rückenschmerzen in der aktuellen Literatur.
Zu möglichen langfristigen Folgen der Fehlhaltung auf die Wirbelsäule sind dem Autor
keine Studien bekannt.
Folgen möglicherweise erst nach Jahrzehnten sichtbar
Folgen möglicherweise erst nach Jahrzehnten sichtbar
Jeder „normale“ Rücken hält es aus, wenn wir ab und zu krumm sitzen – so wie der Jugendliche
mit seinem Genu varum schmerzfrei Fußball spielen kann. Aus biomechanischer Sicht
steigert die Druckerhöhung im medialen Kniegelenk nur das Risiko für eine spätere
Gonarthrose.
In der Wirbelsäule sind Druck- und Zugspannung am kleinsten in der Mitte der neutralen
Zone [26]. Auch der energetische Aufwand zum Sitzen ist in der aufrechten Haltung am geringsten
[27]. Ein Abweichen von dieser mechanisch idealen Haltung sowohl im Sitzen als auch im
Stehen führt nicht nur in einigen Strukturanteilen zu mehr Druck, sondern erhöht auch
die Zugspannung beispielsweise auf den Anulus fibrosus. Dessen kollagene Fasern können
diesem wiederholt lang andauernden Zug irgendwann nicht mehr widerstehen und reißen,
womit die Degeneration der Bandscheibe fortschreitet. Unklar ist, nach wie vielen
Jahren eine solche Mehrbelastung/-beanspruchung eine Degeneration (vermehrt) bewirkt,
doch wahrscheinlich braucht es einige Jahrzehnte. Entsprechend lange Studien fehlen.
Bildgebende Verfahren finden nichts
Bildgebende Verfahren finden nichts
Erschwerend für die Wissenschaft kommt hinzu, dass degenerative Veränderungen und
Vorwölbungen der Bandscheiben in bildgebenden Verfahren auch bei Menschen ohne Rückenschmerzen
vorkommen [28]. Das Fehlen einer linearen Korrelation zwischen Degeneration und Rückenschmerz („Je
mehr Degeneration, desto mehr Rückenschmerz“) macht es fast unmöglich, diesen Sachverhalt
mit der zurzeit üblichen auf Mittelwerten basierenden Statistik zu untersuchen. Die
Degeneration und Alterung der Strukturen allein lösen ja noch keinen Schmerz aus.
Das Denkmodell der Konzentrationen von mechanischer Belastung bzw. Beanspruchung nimmt
an, dass diese irgendwann die Grenze der Kompensation überschreiten – sowohl lokal
im (Rücken-)Gewebe als auch zentral im schmerzverarbeitenden System [16]. Zahlreich sind die Faktoren, die ein solches Geschehen beeinflussen: von der genetischen
Veranlagung über die Belastbarkeit der Gewebe bis hin zur Quantität und Qualität der
Belastung/Beanspruchung und den Umständen. Weil diese Faktoren von Mensch zu Mensch
variieren, kann es sein, dass bei gleicher Tätigkeit der eine Rückenschmerz bekommt
und der andere nicht – Pech oder Glück gehabt. Diese Faktoren sind im Mittel weitgehend
auf Patienten und Gesunde gleich verteilt. Daher kann die auf Mittelwerten basierende
Statistik sie nicht als Ursache des Rückenschmerzes mit dieser Methodik erkennen.
Erfahrung und Logik empfehlen aufrechten Sitz
Erfahrung und Logik empfehlen aufrechten Sitz
Erfahrung und logische Überlegungen führen den Chirurgen zur Umstellungsosteotomie
beim Jugendlichen mit einer Achsenfehlstellung im Kniegelenk. Damit vermeidet er nicht
eine spätere Gonarthrose, sondern reduziert einen Risikofaktor dafür. So wie der Verzicht
auf das Rauchen keinen Lungenkrebs verhindert, doch einen wesentlichen Risikofaktor
dafür stoppt. Die Erfahrung zeigt auch, dass Menschen wie die antiken Pharaonen oder
Adelige, die lange sitzen mussten, immer aufrecht saßen. Dadurch verhindert der Mensch
keine Rückenschmerzen, reduziert aber einen dazu wesentlich beitragenden Faktor. Erfahrung
und Logik empfehlen daher weiterhin für die Wirbelsäule die aufrechte, mechanisch
ideale Haltung in der Mitte der neutralen Zone.
Jochen Schomacher