Schlüsselwörter
Corona-Pandemie - Notaufnahmefallzahlen - Nutzung medizinscher Ressourcen - Pandemiemaßnahmen - Verhalten Bevölkerung
Key words
Covid-19 - social and behavioral epidemiology - emergency department - admission - reduction of cases
Einleitung
Erstmals im Dezember 2019 in der Stadt Wuhan nachgewiesen, kam es in den folgenden Wochen zu einer weltweiten Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus [1]
[2] Mitte Februar 2020 war das Virus dann in Europa und Deutschland angekommen und ein sprunghafter Anstieg der Fallzahlen begann [3]. Die Politik und Krankenhäuser reagierten mit der Bereitstellung von Behandlungsressourcen und der Absage planbarer Krankenhausbehandlungen [4]
[5]. Das soziale Leben wurde durch Allgemeinverfügungen besonders ab dem 16. März zum Erliegen gebracht [6]. Aufgrund niedriger CoVid-19-Fallzahlen konnten Lockerungen der Maßnahmen im Verlauf ermöglicht werden. [7]
Mehrere Arbeiten befassten sich in Folge mit den Veränderungen der vollstationären Fallzahl in den deutschen Krankenhäusern [8]
[9]
[10]. Der WIdO-Report konnte für den März und April 2020 im Vergleich Vorjahres-Zeitraums deutliche Fallzahlrückgänge von 39% nachweisen [8]. Die deutlichsten Fallzahlrückgänge konnten beim Arthrose-bedingten Hüftersatz (−79%), bei Eingriffen zur Rekonstruktion an der Brust (−76%) und am Darm (−70%) gesichert werden [8]. Überraschenderweise zeigte der WIdO-Report auch starke Rückgänge bei der Behandlung von Herzinfarkten (−31%) und Schlaganfällen (−18%) [8]. Ähnliche Fallzahlreduktionen in diesen Gruppen konnten aus eher universitär geprägten Notaufnahmen bestätigt werden [9].
Im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern hatte im Verlauf der Corona-Pandemie bis zum 31.07.2020 stets sehr niedrige CoVid-19-Fallzahlen sowie die niedrigste Sterblichkeit im Bundesvergleich beobachtet werden [11].
Es soll untersucht werden, wie sich die Fallzahlen von Patienten in einer Notaufnahme eines Schwerpunktversorgers im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern im Zeitraum vom 16.03.2020 bis 31.07.2020 veränderten. Das betrachtete Krankenhaus Güstrow (regionales Traumazentrum, Chest Pain und Stroke Unit) versorgt ca. 22 000 Patienten stationär und ca. 25 000 Patienten ambulant pro Jahr, ist Standort eines Rettungshubschraubers und Notarzteinsatzfahrzeuges.
Material und Methoden
Ab Juli 2019 wurden Notaufnahmebehandlungen digital dokumentiert, so dass diese Routinedaten ohne Fallnummern/Patientenbezug aggregiert und so anonymisiert abgefragt wurden. Es werden die Art der Einweisung, der Wochentag, das Alter, die Dringlichkeitsstufe im MTS-System, sowie bei im Verlauf vollstationär aufgenommenen Fällen die Hauptdiagnose des Falles [12] abgerufen.
Drei Zeiträume werden verglichen:
-
„Vergleich“ - 03.07.2019–15.03.2020
-
„Corona – Phase 1“ – 16.03.2020–06.05.2020 („Lockdown“-Phase in M-V)
-
„Corona – Phase 2“ – 07.05.2020–31.07.2020 (Beginn Lockerung)
Der Beginn des Lockdown um den 16.03.2020 wurde medial deutlich begleitet, ebenfalls der Beginn der ersten Lockerungsphase im MV-Plan. Diese beiden zeitlichen Zäsuren bilden die erste Corona-Phase ab, die hinsichtlich der Wirkung auf die Bevölkerung untersucht werden soll. Das Ende des Untersuchungszeitraumes beschreibt das Ende der Sommerferien in Mecklenburg.
Bei dieser Arbeit wurden aggregierter Daten über einen längeren Zeitraum ohne Fallnummernbezug und Einsicht in den Behandlungsunterlagen verwendet. Aus der Darstellung kann kein Personenbezug mehr konstruiert werden.
Ergebnisse
Im gesamten Untersuchungszeitraum wurden 24 977 Patienten behandelt, wobei 2493 Patienten auf die erste Corona-Phase und 5106 Patienten auf die zweite Corona-Phase entfallen. Die jeweiligen Phasen haben eine z.T. deutlich unterschiedliche Dauer, sodass rechnerisch die Fälle/Tag bestimmt werden, um die Phasen miteinander vergleichen zu können. Im Vergleichszeitraum wurde die Notaufnahme des Krankenhauses Güstrow rechnerisch von 67,6 Patienten je Tag aufgesucht ([Tab. 1]).
Tab. 1 Fälle und Alterskohorten der Notaufnahmepatienten.
|
Vergleichszeitraum
|
Corona – Phase 1
|
Corona – Phase 2
|
Tage je Zeitraum
|
257
|
52
|
86
|
Fälle Notaufnahme
|
17378
|
2493
|
5106
|
Fälle/Tag
|
67,6
|
47,9
|
59,4
|
Alterskohorte
|
relativ
|
absolut
|
Fälle/Tag
|
relativ
|
absolut
|
Fälle/Tag
|
relativ
|
absolut
|
Fälle/Tag
|
kleiner 10 Jahre
|
12%
|
2100
|
8,2
|
9%
|
228
|
4,4
|
10%
|
489
|
5,7
|
10–17 Jahre
|
7%
|
1162
|
4,5
|
4%
|
109
|
2,1
|
5%
|
255
|
3,0
|
18–49 Jahre
|
28%
|
4859
|
18,9
|
28%
|
686
|
13,2
|
26%
|
1328
|
15,4
|
50–69 Jahre
|
25%
|
4399
|
17,1
|
27%
|
673
|
12,9
|
29%
|
1476
|
17,2
|
70–89 Jahre
|
26%
|
4477
|
17,4
|
29%
|
733
|
14,1
|
28%
|
1445
|
16,8
|
größer 90 Jahre
|
2%
|
382
|
1,5
|
3%
|
64
|
1,2
|
3%
|
132
|
1,5
|
In der Corona-Phase 1 reduzierte sich die Zahl der Patienten in der Notaufnahme um fast 30%. In der Corona-Phase 2 erhöhte sich die Zahl der Notaufnahmepatienten wieder, lag aber dennoch 12% unter dem Vergleichszeitraum. Die Altersstruktur der Patienten veränderte sich kaum ([Tab. 1]).
Innerhalb der Notaufnahme werden die Fälle verschieden Fachrichtungen zugeordnet ([Tab. 2]). Der Rückgang der Patientenzahlen verteilt sich sehr unterschiedlich über die Fachrichtungen. In den Fallzahl-starken Fachrichtungen (Chirurgie, Innere Medizin) war der Rückgang der Patienten in der Chirurgie doppelt so groß, wie in der Inneren Medizin. Beide Fachrichtungen hatten in der 2. Corona-Phase dann gemeinsam 9% weniger Patienten als in der Vergleichsphase.
Tab. 2 Fälle je Fachrichtung (Fälle ohne dokumentierten Wert wurden ausgeschlossen, der Wert „Veränderung“ bezieht sich immer auf die Vergleichsphase).
Corona-Phase
|
Fallzahlentwicklung nach Fachrichtung
|
CHI
|
GYN
|
HNO
|
INN
|
NEURO
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Vergleich (257 Tage)
|
5695
|
22,2
|
100%
|
478
|
1,9
|
100%
|
649
|
2,5
|
100%
|
5448
|
21,2
|
100%
|
1640
|
6,4
|
100%
|
Phase 1 (52 Tage)
|
784
|
15,1
|
−32%
|
52
|
1,0
|
−46%
|
94
|
1,8
|
−28%
|
937
|
18,0
|
−15%
|
214
|
4,1
|
−36%
|
Phase 2 (86 Tage)
|
1741
|
20,2
|
−9%
|
132
|
1,5
|
−17%
|
157
|
1,8
|
−28%
|
1652
|
19,2
|
−9%
|
476
|
5,5
|
−13%
|
Corona-Phase
|
PÄD
|
PSY
|
URO
|
SONST
|
|
|
|
Vergleich (257 Tage)
|
1846
|
7,2
|
100%
|
735
|
2,9
|
100%
|
530
|
2,1
|
100%
|
69
|
0,3
|
100%
|
|
|
|
Phase 1 (52 Tage)
|
151
|
2,9
|
−60%
|
104
|
2,0
|
−30%
|
107
|
2,1
|
0%
|
7
|
0,1
|
−50%
|
|
|
|
Phase 2 (86 Tage)
|
398
|
4,6
|
−36%
|
265
|
3,1
|
8%
|
192
|
2,2
|
8%
|
28
|
0,3
|
21%
|
|
|
|
Die Fachrichtung Pädiatrie verlor 60% ihrer Patienten, die Gynäkologie fast 50%, die Neurologie fast 40%, wobei der Effekt des Fallzahlrückgangs in der Pädiatrie auch in der 2. Corona-Phase deutlicher anhält als bei allen anderen Abteilungen. Die Urologie hingegen war nahezu konstant im Fallzahlaufkommen.
Die meisten Patienten suchten die Notaufnahme selbstständig (ohne Einweisung), auf Veranlassung eines Vertragsarztes oder unter Nutzung des Rettungsdienstes (RTW, Notarzt) auf. Die ersten beiden Gruppen zeigte die deutlichste absolute und relative Reduktion. In der ersten Corona-Phase änderten sich die Fallzahlen im Bereich des Rettungsdienstes kaum, es kam jedoch in den anderen beiden Bereichen zu einer deutlichen -und auch in der 2.Corona-Phase nicht vollständig rekompensierten- Reduktion der Patientenzahlen ([Tab. 3]). Patienten, die über den Rettungsdienst (RTW, Notarzt) eingewiesen wurden, waren in der Anzahl relativ konstant bzw. im Falle der RTW-Einweisungen in der 2. Corona-Phase sogar ansteigend.
Tab. 3 Fälle je Art der Einweisung (Fälle ohne dokumentierten Art der Einweisung wurden ausgeschlossen, der Wert „Veränderung“ bezieht sich immer auf die Vergleichsphase).
Corona-Phase
|
Fallzahlentwicklung nach Art der Einweisung
|
Selbstvorstellung
|
Vertragsarzt/Praxis
|
Notarzt
|
RTW
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung
|
Vergleich (257 Tage)
|
9638
|
37,5
|
100%
|
4217
|
16,4
|
100%
|
1271
|
4,9
|
100%
|
1760
|
6,8
|
100%
|
Phase 1 (52 Tage)
|
1192
|
22,9
|
−39%
|
646
|
12,4
|
−24%
|
235
|
4,5
|
−9%
|
369
|
7,1
|
4%
|
Phase 2 (86 Tage)
|
2528
|
29,4
|
−22%
|
1178
|
13,7
|
−17%
|
456
|
5,3
|
7%
|
800
|
9,3
|
36%
|
Corona-Phase
|
KV-Notdienst ausserhalb des KH
|
KV-Notfallpraxis am KH
|
Verlegung
|
Andere
|
Vergleich (257 Tage)
|
145
|
0,6
|
100%
|
19
|
0,1
|
100%
|
266
|
1,0
|
100%
|
45
|
0,2
|
100%
|
Phase 1 (52 Tage)
|
23
|
0,4
|
−22%
|
1
|
0,0
|
−74%
|
22
|
0,4
|
−59%
|
4
|
0,1
|
−56%
|
Phase 2 (86 Tage)
|
64
|
0,7
|
32%
|
2
|
0,0
|
−75%
|
58
|
0,7
|
−35%
|
13
|
0,1
|
−17%
|
Die zahlenmäßig größte Patientengruppen (Selbstvorsteller, Vertragsarzteinweisungen) zeigten deutliche Veränderungen und wurden vertieft analysiert. Aus Datenschutzgründen konnte die Patientenakte nicht genutzt wurden, sodass die Angabe einer Diagnose für ambulanten Notaufnahmepatienten nicht möglich. Für die Patienten, die aus der Notaufnahme stationär aufgenommen wurden, konnte die Hauptdiagnose des Falles gemäß der für Deutschland gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM 2020) und in Anwendung der Deutschen Kodierrichtlinien [12] bestimmt werden. Ein ICD-10-GM 2020 Code beinhaltet bis zu 5 Stellen (Beispiel: I10.00 - Benigne essentielle Hypertonie ohne Angabe einer hypertensiven Krise). Zur besseren Übersicht wurden die kodierten Hauptdiagnosen in Form von Dreisteller-Codes (im obigen Beispiel I10) zusammengefasst. Den beiden betrachten Gruppen „Vertragsarzteinweisungen“ und „Selbstvorsteller“ konnten so 375 bzw. 360 unterschiedlicher ICD-10-GM – Dreistellergruppen zugeordnet werden. In der weiteren Darstellung wurden zur Vereinfachung die ICD-Dreisteller-Codes ausgewählt, die die deutlichsten absoluten oder relativen Veränderungen zeigten.
In [Tab. 4] und [5] wurden jeweils die TOP-20-ICD-Dreisstellergruppen ausgewählt, die in der Vergleichsgruppe die höchsten Fallzahlen auswiesen und deren Veränderungen in der Corona-Pandemie dargestellt. (die komplette Übersicht findet sich im Anhang)
Tab. 4 Selbstvorstellung in Notaufnahme (TOP 20 der Vergleichsgruppe).
Selbstvorstellung
|
Vergleichsgruppe (257 Tage)
|
Corona-Phase 1 (52 Tage)
|
Corona-Phase 2 (86 Tage)
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung zu Vergleich
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung zu Vergleich
|
S06 Intrakranielle Verletzung
|
120
|
0,47
|
20
|
0,38
|
−18%
|
32
|
0,37
|
−20%
|
I63 Hirninfarkt
|
72
|
0,28
|
7
|
0,13
|
−52%
|
17
|
0,20
|
−29%
|
F10 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol
|
67
|
0,26
|
14
|
0,27
|
3%
|
14
|
0,16
|
−38%
|
N39 Sonstige Krankheiten des Harnsystems
|
62
|
0,24
|
8
|
0,15
|
−36%
|
16
|
0,19
|
−23%
|
K80 Cholelithiasis
|
60
|
0,23
|
3
|
0,06
|
−75%
|
14
|
0,16
|
−30%
|
B34 Viruskrankheit nicht näher bezeichneter Lokalisation
|
60
|
0,23
|
3
|
0,06
|
−75%
|
10
|
0,12
|
−50%
|
J20 Akute Bronchitis
|
53
|
0,21
|
2
|
0,04
|
−81%
|
6
|
0,07
|
−66%
|
I50 Herzinsuffizienz
|
51
|
0,20
|
7
|
0,13
|
−32%
|
12
|
0,14
|
−30%
|
A09 Sonstige Gastroenteritis und Kolitis
|
48
|
0,19
|
3
|
0,06
|
−69%
|
8
|
0,09
|
−50%
|
K29 Gastritis und Duodenitis
|
47
|
0,18
|
6
|
0,12
|
−37%
|
26
|
0,30
|
65%
|
R10 Bauch- und Beckenschmerzen
|
40
|
0,16
|
4
|
0,08
|
−51%
|
8
|
0,09
|
−40%
|
I10 Essentielle (primäre) Hypertonie
|
39
|
0,15
|
4
|
0,08
|
−49%
|
9
|
0,10
|
−31%
|
I21 Akuter Myokardinfarkt
|
38
|
0,15
|
3
|
0,06
|
−61%
|
14
|
0,16
|
10%
|
J44 Sonstige chronische obstruktive Lungenkrankheit
|
36
|
0,14
|
1
|
0,02
|
−86%
|
3
|
0,03
|
−75%
|
I48 Vorhofflimmern und Vorhofflattern
|
36
|
0,14
|
9
|
0,17
|
24%
|
10
|
0,12
|
−17%
|
H81 Störungen der Vestibularfunktion
|
30
|
0,12
|
3
|
0,06
|
−51%
|
8
|
0,09
|
−20%
|
J18 Pneumonie, Erreger nicht näher bezeichnet
|
29
|
0,11
|
1
|
0,02
|
−83%
|
4
|
0,05
|
−59%
|
N13 Obstruktive Uropathie und Refluxuropathie
|
29
|
0,11
|
6
|
0,12
|
2%
|
6
|
0,07
|
−38%
|
S39 Sonstige Verletzungen des Abdomens, Lumbosakralgegend & Beckens
|
25
|
0,10
|
1
|
0,02
|
−80%
|
8
|
0,09
|
−4%
|
A08 Virusbedingte und sonstige näher bezeichnete Darminfektionen
|
25
|
0,10
|
0
|
0,00
|
−100%
|
2
|
0,02
|
−76%
|
Tab. 5 Einweisung durch Vertragsarzt in die Notaufnahme (TOP 20 der Vergleichsgruppe).
Vertragsarzteinweisung
|
Vergleichsgruppe (257 Tage)
|
Corona-Phase 1 (52 Tage)
|
Corona-Phase 2 (86 Tage)
|
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung zu Vergleich
|
Fälle
|
Fälle/Tag
|
Veränderung zu Vergleich
|
I50 Herzinsuffizienz
|
140
|
0,54
|
25
|
0,48
|
−12%
|
41
|
0,48
|
−12%
|
K29 Gastritis und Duodenitis
|
83
|
0,32
|
23
|
0,44
|
37%
|
21
|
0,24
|
−24%
|
I48 Vorhofflimmern und Vorhofflattern
|
77
|
0,30
|
7
|
0,13
|
−55%
|
24
|
0,28
|
−7%
|
N39 Sonstige Krankheiten des Harnsystems
|
68
|
0,26
|
13
|
0,25
|
−6%
|
35
|
0,41
|
54%
|
J20 Akute Bronchitis
|
53
|
0,21
|
7
|
0,13
|
−35%
|
6
|
0,07
|
−66%
|
J18 Pneumonie, Erreger nicht näher bezeichnet
|
50
|
0,19
|
8
|
0,15
|
−21%
|
3
|
0,03
|
−82%
|
I70 Atherosklerose
|
49
|
0,19
|
4
|
0,08
|
−60%
|
10
|
0,12
|
−39%
|
K80 Cholelithiasis
|
47
|
0,18
|
12
|
0,23
|
26%
|
21
|
0,24
|
34%
|
I20 Angina pectoris
|
42
|
0,16
|
5
|
0,10
|
−41%
|
10
|
0,12
|
−29%
|
I63 Hirninfarkt
|
39
|
0,15
|
9
|
0,17
|
14%
|
13
|
0,15
|
0%
|
B34 Viruskrankheit nicht näher bezeichneter Lokalisation
|
38
|
0,15
|
3
|
0,06
|
−61%
|
4
|
0,05
|
−69%
|
A09 Sonstige und nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis infektiösen und nicht näher bezeichneten Ursprungs
|
38
|
0,15
|
4
|
0,08
|
−48%
|
12
|
0,14
|
−6%
|
E11 Diabetes mellitus, Typ 2
|
37
|
0,14
|
11
|
0,21
|
47%
|
6
|
0,07
|
−52%
|
K57 Divertikulose des Darmes
|
36
|
0,14
|
3
|
0,06
|
−59%
|
5
|
0,06
|
−58%
|
J44 Sonstige chronische obstruktive Lungenkrankheit
|
35
|
0,14
|
8
|
0,15
|
13%
|
6
|
0,07
|
−49%
|
R10 Bauch- und Beckenschmerzen
|
34
|
0,13
|
3
|
0,06
|
−56%
|
11
|
0,13
|
−3%
|
I10 Essentielle (primäre) Hypertonie
|
34
|
0,13
|
5
|
0,10
|
−27%
|
7
|
0,08
|
−38%
|
R07 Hals- und Brustschmerzen
|
32
|
0,12
|
5
|
0,10
|
−23%
|
12
|
0,14
|
12%
|
H81 Störungen der Vestibularfunktion
|
31
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0,12
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7
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0,13
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12%
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5
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0,06
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−52%
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N13 Obstruktive Uropathie und Refluxuropathie
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29
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0,11
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3
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0,06
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−49%
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11
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0,13
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13%
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Es zeigt sich, dass sich bspw. vor allem in der ersten Corona-Phase 52% weniger Hirninfarkte als Selbstvorsteller in die Notaufnahme begaben. Auch der Anteil der dann stationär aufgenommenen akuten Bronchitis, COPD und der Pneumonie verminderte sich um ca. 80%. Patienten mit einem Myocardinfarkt oder einer Herzinsuffizienz nahmen um 30–60% ab. Patienten mit einer Depression fanden als Selbstvorsteller keinen Weg mehr in die Notaufnahme. Dieser geschilderte Trend zeigt sich auch bei den Patientengruppen, die über den Vertragsarzt eingewiesen wurden.
Diskussion
Die vorliegende Arbeit beschreibt einen Rückgang von Patienten in der Notaufnahme eines Schwerpunktversorgers im Land Mecklenburg-Vorpommern um ca. 30%. in der Zeit vom 16.03.2020–31.07.2020.
In der [Abb. 1] soll der Weg eines Patienten von der Wahrnehmung eines Krankheitsbildes bis zur Vorstellung in der Notaufnahme vereinfacht dargestellt werden. An diesem Schaubild lassen sich möglich Einflussfaktoren, die den beobachteten Effekt der Fallzahlreduktion begründen könnten, ableiten. Krankheitsbilder treten in manchen Fällen saisonal oder in Folge bestimmter Ereignisse auf (Grippe-Saison, traumatologische Krankheitsbilder im Winter, kardiologische Krankheitsbilder in Folge von Hitzeperioden) [13]
[14]. Extremwetterlagen sind in den betrachteten Zeiträumen nicht bekannt.
Abb 1 Vom Krankheitsbild zur stationären Aufnahme (eigene Darstellung).
Die meisten Patienten der Notaufnahme stammen aus 3 Quellen: Selbstvorstellungen, Einweisungen durch den Vertragsarzt und durch den Rettungsdienst (Notarzt, RTW). Die Selbstvorstellungen reduzierten sich in betrachteten Zeitraum in den wesentlichen Diagnosegruppen ubiquitär und deutlich. Einweisungen durch den Vertragsarzt waren in Summe auch rückläufig, jedoch zeigten sich in einzelnen Diagnosegruppen v. a. in der Lockdown-Phase konstante (N39 –Harnwegsinfekte, H81 – Schwindel), ansteigende (K29 – Gastritis/Duodenitis, K80 – Cholelithiasis, E11 – Diabetes mellitus) oder komplett zu den Selbstvorstellungen divergente (I63 – Hirninfarkt) Fallzahlentwicklungen. Die Fallzahlen des Rettungsdienstes waren relativ konstant bis leicht ansteigend in der Phase 2. Wir wissen nicht, wie viele Patienten sich initial in den Praxen bzw. bei der Leitstelle gemeldet haben, sodass die beobachteten Effekte nicht zwingend für eine in der Literatur erhöhten Rate des Vor-Ort-Verbleibens [10]
[15] sprechen müssen. Für die weitere Analyse des vertragsärztlichen Bereiches wären Daten der Kassenärztlichen Vereinigung hinsichtlich Scheinzahlen, Diagnosezahlen und Auswertung von erbrachten Leistungen i.S. der abgerechneten EBM-Positionen hilfreich.
Hinsichtlich der Krankenhäuser ist die Wirkung der Freihaltepauschale von 560 Euro zur Kompensation von Erlösausfällen ist in der Literatur in Diskussion [16]. Jedoch entfaltet dieser Komplex bei den vorliegenden Daten keine Wirkung, da nicht planbare Operationen und Behandlungen ausgewertet werden, sondern die nicht steuerbare Zuweisung/Vorstellung von Patienten in der Notaufnahme.
Betrachtet man bestimmte Krankheitsbilder genauer, lassen sich Verknüpfung zur Pandemie-Situation finden und pathophysiologisch erklärbare Inzidenzreduktionen herleiten.
Herzinfarkte entwickeln sich auch in Folge von körperlicher Anstrengung [17]
[18]. Die Pandemie-Maßnahmen (Absage Sportveranstaltung, Einschränkung der Mobilität) könnten so zu einer realen Reduktion der Inzidenz geführt haben. Die Absage von Veranstaltungen führte zu weniger Verkehr [19]. Für den Zeitraum März-Juni kam es in Deutschland zu 26% weniger Verkehrsunfällen mit 21,4% weniger Personenschäden [43]. Es erscheint plausibel, dass Notaufnahmeanlässe wie Unfälle und Verletzungen abnehmen [20]. Die Sorge vor einer Infektion hat in der Literatur zu einer verzögerten Inanspruchnahme bei Herzinfarkten geführt [21]
[22]. Pandemie-Maßnahme können bei Menschen Stress/seelische Belastung auslösen, was in der Literatur wieder mit einem vermehrten Auftreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen verbunden ist [23]. Die Auswertung von Notaufnahmedaten [9] von mehrheitlich Universitätsstandorten konnte übereinstimmend mit unseren Daten den Trend der Reduktion z. B. der Schlaganfälle (−52%) und TIA (−100%) finden. Überraschenderweise fanden sich bei den Patienten, die durch den Vertragsarzt vorgestellt wurden eher stabile Zahlen (+14%) beim Hirninfarkt, jedoch auch −36% bei der TIA. Passend zu den Befunden in der Literatur sahen auch wir eine deutliche Reduktion kardiologischer Patienten (Selbstvorsteller: Infarkt −61%; Vertragsarzt −36%). Äußerst deutlich sahen wir auch eine Reduktion der Patienten aus dem psychiatrischen Gebiet – Patienten mit depressiven Störungsbildern fanden kaum noch den Weg in die Notaufnahme. Eine Reduktion der psychiatrischen Fälle über 50% ist auch in Portugal währen der Corona-Pandemie beobachtet worden [24]. Psychiatrische Patienten hatten Angst vor einer Infektion oder glaubten (fehlerhaft), dass Krankenhäuser nur noch Corona-Patienten behandeln und/oder dass ihre Beschwerden nicht schlimm genug seien, um als ein Notfall zu gelten [25].
Krankheitsbilder, die in ihrem initialen klinischen Bild einer SARS-CoV-2-Infektion ähnlich sind (J20 – Akute Bronchitis, J18 – Pneumonie und J44 – COPD) gehen bei den Selbsteinweisungen um 80% in der Phase 1 zurück. Bei den Vertragsarzteinweisungen sind die Rückgänge weniger deutlich (J20–35%,/J18–21%) bzw. divergent (COPD+13%) in Phase 1. Fallzahlrückgänge im Pandemieverlauf (COPD – 39%) werden auch aus Italien [44] bzw. (COPD -48% und Pneumonie (−45%) aus den USA beschrieben [45]. Ein Erklärungsmodell mag –partiell- das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in Kombination mit der sozialen Isolation sein. Der deutliche Rückgang der Selbsteinweisungen ist vielleicht auch der Angst der Patienten geschuldet, als Verdachtsfall isoliert zu werden.
Eine in jedem Fall finale medizinisch konsistente Begründung der beobachteten Fallzahlreduktion über pathophysiologische Überlegungen gelingt so nicht.
Kehrt man so zur [Abb. 1] zurück, existieren für die Bewertung eines gesundheitlichen Zustandes aus Sicht eines medizinischen Laien verschiedene Modelle [26]
[27]. Egal unter welcher Rationale die Bewertung stattfindet, entscheidet der Mensch (potenzielle Patient), ob er in das professionelle medizinische System eintreten möchte und auf welchem Weg (Hausarzt, Facharzt, Rettungsdienst, Selbstvorstellung in der Notaufnahme). Es mag insofern überraschen, dass Patienten mit unstreitigen Notfallindikationen (Schlaganfall, Herzinfarkt, Angina pectoris) als Selbstvorsteller die Notaufnahme betreten. Die Validität der subjektive (Laien-)Einschätzung der Gesundheit wird diskutiert [28].
Die bisherigen Punkte (Gesundheitskonzepte/Wahrnehmung von Krankheit/Bereitschaft ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen) sind immanent in der Bevölkerung vertreten und wirken als „Hintergrundrauschen“ in der Vergleichsgruppe sicher mit. Lampert et al. fanden Unterschiede in der Lebenserwartung, Arbeitsunfähigkeitstagen und anderen Indikatoren auf Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten [29] , so dass die eher „abwartende Haltung“ bevor medizinische Hilfe aufgesucht wird, vielleicht eine lokale Eigenheit ist. Neu ist jedoch die Corona-Pandemie hinzugekommen. Aus der SARS-Epidemie 2003 ist bekannt, dass die Fallzahlen der Notaufnahmen um 51,6% eingebrochen sind und sich dieses sowohl im pädiatrischen, traumatologischen und nicht-traumatologischen Bereich gezeigt hat. Dieser Effekt war noch 3 Monate nach dem Ende der Pandemie sichtbar [20]. Möglicherweise war hier die Angst vor einer Ansteckung [30] oder in den Medien berichtet Ausbrüche des Corona-Virus [31] in Krankenhäuser eine Ursache für die reduzierte Fallzahl in der Notaufnahme. Patienten mit -subjektiv erlebten- leichten Beschwerden haben nicht oder verspätet Kontakt mit dem Gesundheitssystem gesucht, weil sie eine Überlastung desselben vermuten oder ihre Beschwerden bagatellisieren [32].
Der Nationale Pandemieplan in Deutschland beschreibt Phasen und Ziele der Pandemiebekämpfung: Containment (Eindämmungsstrategie), Protection (Schutz vulnerabler Gruppen), Mitigation (Folgenminderung) und Recovery (Erholung) [47]. In Bezug auf das Containment wurden Allgemeinverfügungen erlassen [6]
[34] , die das öffentliche Leben in der ersten Corona-Phase nachhaltig reduzierten (strenge Kontakt-/Besuchsbeschränkungen auch im Krankenhaus, Schließung von Geschäften, Absage von Veranstaltungen). Im Land Mecklenburg-Vorpommern galt zudem das Verbot als Nicht-Bewohner das Land zu betreten [19]
[35]
[36]. Heudorf stellt in ihrem Artikel dar, dass Erfahrung aus früheren Pandemien zeigen: „dass das Containment ab einer gewissen Ausbreitung eines neuartigen leichtübertragbaren Virus nicht mehr funktionieren kann, insbesondere, wenn das Virus viele asymptomatische und leichte Infektionen verursacht und die Infizierten unerkannt zu Überträgern werden“ [47]. Holst beschreibt in seiner Arbeit die besonderen Herausforderungen an Public Health im Kontext der Corona-Pandemie. Hier diskutiert er, dass für eine Reihe der o.g. Pandemie-Maßnahmen eine Abwägung der negativen Effekte in Relation zu den positiven (gewünschten) Wirkungen nicht ausreichend erfolgt ist [46].
Denkbar ist so, dass die Pandemie-Maßnahmen der Politik und der Krankenhäuser zu einer Reduktion der Fallzahlen in der Notaufnahme geführt haben. Denkbar ist, dass ältere Personen erst durch Angehörige oder Dritte bei Kontakten motiviert werden, medizinische Hilfe aufzusuchen – durch Kontaktbeschränkungen und/oder Einreiseverbote fehlen diese Anreize [15]. Hierfür mag die Normalisierung der Fallzahlen der Alterskohorte>50 Jahre in der Phase 2 ein Indiz sein ([Tab. 1]). Andere Arbeitsgruppen fanden beobachtet auch zum Teil divergente Veränderungen in den Altersgruppen [9]
[10]. Auch denkbar ist, dass Patienten durch die ausgesprochenen Besuchsverbote in den Krankenhäusern abgehalten wurden, diese aufzusuchen [37]
[38]
[39].
Für die hier dargestellten Fallzahlen muss limitierend festgestellt werden, dass diese nur die Zahlen eines Hauses zeigen und in anderen Häusern divergieren können. Hier sei auf die unterschiedliche Inanspruchnahme des Notarztes verwiesen [10]. Eine Verschiebung von Fällen in andere Krankenhäuser im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern ist bei Notfällen eher unwahrscheinlich – aber nicht auszuschließen.
Im zeitlichen Kontext zur Corona-Pandemie kam es zu einer deutlichen Reduktion von Notfallpatienten und stationären Aufnahmen. Dieser Befund spiegelt sich in nationalen und internationalen Arbeiten wieder – obgleich sich das konkrete quantitative Ausmaß auf Diagnoseebene im Detail in den Arbeiten unterscheidet. Eine stringente, umfassende, pathophysiologisch-rational plausible Begründung der beobachteten Effekte gelingt nicht. Generalisiert man die gezeigten Daten auf das Land Mecklenburg-Vorpommern oder die Bundesrepublik Deutschland, würde es bedeuten, dass es in verschiedenen medizinischen Bereichen zu einer faktischen Unterversorgung gekommen ist – dieses nicht, weil medizinische Ressourcen nicht zur Verfügung standen, sondern weil Patienten das Gesundheitssystem nicht mehr gleichen Ausmaß genutzt haben, wie vor der Pandemie. Dieser Effekt ist auch aus dem Bereich der Onkologie zu verzeichnen [40]
[41]
[42]. Die Relevanz dieser Ableitung sei durch die Tatsache unterstrichen, dass es in Mecklenburg-Vorpommern im betrachteten Zeitraum die niedrigsten Fallzahlen und die niedrigste Sterblichkeit in Deutschland in der Corona-Pandemie gab [11]
[33]. Es kann vermutet werden, dass (irrationale) Parameter wie „Angst und Sorge“, die nicht objektiv durch z. B. Inzidenzwerte oder Sterblichkeit getriggert werden oder auch Reaktionen auf die Pandemie-Maßnahmen selbst für die gezeigten Effekte in größerem Umfang ursächlich sein können. Hier sollte weitere Forschung stattfinden, um bei nachfolgenden Pandemie-Phasen oder einem neuen Erreger hoffentlich weniger „Nicht Pandemie-bedingte“ Verluste akzeptieren zu müssen.