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DOI: 10.1055/a-1388-7236
Diagnose erblicher Netzhauterkrankungen
Article in several languages: English | deutsch- Zusammenfassung
- Anamnese bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung
- Untersuchung der Sehfunktion bei erblichen Netzhautdystrophien
- Netzhautbildgebung bei erblichen Netzhautdystrophien
- Einteilung und Terminologie erblicher Netzhauterkrankungen
- Abgrenzungen von imitierenden Netzhauterkrankungen
- Genetische Diagnostik
- Zusammenfassung
- References/Literatur
Zusammenfassung
Erbliche Netzhauterkrankungen sind eine häufige Ursache für eine schwere Sehbehinderung oder Erblindung bei Kindern und Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter. Aufgrund einer großen Heterogenität besteht eine hohe Variabilität hinsichtlich Einschränkungen der Sehfunktion, Auswirkungen auf das alltägliche Leben, auf die Lebensplanung sowie hinsichtlich neuer Therapieverfahren. Insofern ist eine frühzeitige und präzise Diagnose für Patienten und ihre Familien von Bedeutung. Die Charakterisierung einer erblichen Netzhauterkrankung umfasst eine detaillierte Anamnese, eine umfassende klinische Untersuchung mit Testung der Sehfunktion, eine multimodale retinale Bildgebung als auch eine molekulargenetische Diagnostik. Neben der Unterscheidung verschiedener erblicher Netzhauterkrankungen ist eine Abgrenzung zu monogenen Systemerkrankungen mit einer Netzhautbeteiligung, sowie eine Abgrenzung zu Erkrankungen, die eine Netzhautdystrophie imitieren, wichtig.
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Schlüsselwörter
Netzhautdystrophie - Retinitis pigmentosa - Zapfen-Stäbchen-Dystrophie - Diagnose - Bildgebung - genetische TestungErbliche Netzhauterkrankungen sind bei Kindern und Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter eine häufige Ursache für eine schwere Sehbehinderung oder Erblindung. Ursächlich sind Mutationen in Genen, welche für die Struktur, Funktion oder den Metabolismus vor allem der äußeren Netzhautschichten eine wesentliche Rolle spielen. Eine frühzeitige und präzise Diagnose ermöglicht nicht nur eventuelle therapeutische Maßnahmen und die Versorgung mit Hilfsmitteln zu initiieren, sondern auch eine frühe Auseinandersetzung mit möglichen sozialen und psychischen Krankheitsauswirkungen sowie eine Berücksichtigung in der Lebensplanung. Hierdurch können negative Konsequenzen auch in Bezug auf die Ausbildung oder den Beruf minimiert werden.
Aufgrund einer großen Heterogenität ist die Diagnosestellung einer erblichen Netzhauterkrankung oftmals komplex [1], [2], [3], [4], [5], [6]. Die Art und das Ausmaß der Symptome, Einschränkungen der Sehfunktion sowie erste klinische Untersuchungen können – zumindest orientierend – relativ einfach und in der Breite bestimmt werden. Die Identifizierung der zugrunde liegenden pathophysiologischen Ursache hängt jedoch von speziellen Untersuchungsverfahren, einer genetischen Diagnostik sowie der Erfahrung des Klinikers mit seltenen und erblichen Netzhauterkrankungen ab.
Viele Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen durchlaufen eine diagnostische Odyssee, bis sie eine präzise Diagnose und eine umfängliche Beratung erhalten. Daher ist es entscheidend, den (Anfangs-)Verdacht einer erblichen Netzhautdystrophie zu stellen und im Anschluss eine weiterführende, ggf. multidisziplinäre Untersuchung in einem Zentrum anzustreben. Doch selbst umfänglich charakterisierte und diagnostizierte Patienten stellen sich teilweise in mehreren Zentren vor, da sie bspw. das Gefühl haben, therapeutische Möglichkeiten zu verpassen. Deshalb sind neben der Diagnosestellung eine umfassende Patientenberatung, Verlaufsuntersuchungen in größeren Abständen, sowie ein Kontakt zu Patientenorganisationen anzustreben.
Kernelemente der Charakterisierung von erblichen Netzhauterkrankungen umfassen:
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eine detaillierte Anamnese bezüglich der Sehfunktion
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eine umfassende Allgemeinanamnese, um evtl. Komorbiditäten und/oder Systemerkrankungen zu erkennen
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eine ausführliche Familienanamnese
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die klinische Untersuchung
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die Bestimmung der Sehfunktion (ggf. elektrophysiologische Untersuchungen)
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eine multimodale retinale Bildgebung
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eine molekulargenetische Diagnostik
Die gewonnene Information ermöglicht meistens eine präzise Diagnose und kann Grundlage für eine detaillierte Patienten- und Familienberatung sein. Für Patienten können hierbei u. a. folgende Punkte relevant sein:
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Einstufung und Erklärung aktueller Einschränkungen der Sehfunktion (z. B. hinsichtlich aktiver Verkehrsteilnahme, Arbeitsplatzgestaltung)
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prognostische Aussagen bezüglich eines zukünftigen Sehverlusts
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Information bezüglich neuer Behandlungsansätze und klinischer Studien
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Abgrenzung zu nicht genetischen Erkrankungen
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Abklärung evtl. syndromaler bzw. systemischer Erkrankungsmanifestationen
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Aussagen zur Wiederholungswahrscheinlichkeit/Vererblichkeit
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Hinweise auf Beratung und Unterstützung durch Selbsthilfeorganisationen und erkrankungsspezifische Patientengruppen
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Hinweise auf Register, wie das Patientenregister der „Pro Retina“ (www.pro-retina.de/patientenregister)
Anamnese bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung
In der klinischen Routine können vielfältige Symptome und Beschwerden auf eine erbliche Netzhauterkrankung hindeuten, insbesondere, wenn diese nicht durch eine andere Erkrankung oder Anomalie erklärt sind. Beispiele sind Sehprobleme im Dunkeln, eine verzögerte Adaptation an unterschiedliche Helligkeiten, Gesichtsfeldeinschränkungen oder eine vermehrte Blendung. Auch wenn ein junges Alter bei ersten Symptomen und ein Fortschreiten der Sehbeschwerden typisch sind, schließen weder ein fortgeschrittenes Alter noch ein stationärer Befund eine erbliche Netzhauterkrankung aus. Eine detaillierte Anamnese kann den Verdacht einer erblichen Netzhauterkrankung erhärten und den Umfang weiterer Untersuchungen steuern. Zeitpunkt und Art der (Erst-)Symptome können darüber hinaus hinweisend für die Krankheitsklassifizierung sein, insbesondere wenn fortgeschrittene degenerative Veränderungen eine morphologiebasierte Zuordnung nicht sicher zulassen.
Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen gewöhnen sich oftmals an (manche) Krankheitseinschränkungen und entwickeln spezifische Coping-Strategien. Der Informationsgewinn einer Anamnese ist dann von gezieltem Nachfragen abhängig. Insbesondere ist dies der Fall bei Patienten mit funktionellen Einschränkungen, die seit der Geburt oder frühester Kindheit vorliegen. So können Nachtsehprobleme oder eine vermehrte Blendung subjektiv als Normalzustand angenommen werden, da Patienten Strategien entwickelt haben, mit diesen Einschränkungen ohne Leidensdruck umzugehen. Spezifische Nachfragen, oftmals wiederholt und in unterschiedlichen Formulierungen, können auch solche Sehfunktionsänderungen in Erfahrung bringen. So können Sehprobleme in Dunkelheit vorliegen, wenn sich ein Patient in unbekannter Umgebung unsicher fühlt, während er in bekanntem Umfeld gut zurechtkommt. Eine vermehrte Blendung mag vorliegen, wenn ein Patient das Sehen in Räumen angenehmer empfindet als draußen und/oder häufiger als andere eine Sonnen- bzw. getönte Brille trägt. Letztere tragen manche Patienten auch, um durch Adaptation einen verbesserten Seheindruck (z. B. der Kontrastwahrnehmung oder Sehschärfe) zu erlangen.
Eine wichtige Rolle spielt ebenfalls die Allgemeinanamnese. So können retinale Veränderungen mit syndromalen Erkrankungen assoziiert sein (z. B. Usher- oder Bardet-Biedl-Syndrom) und auch Manifestation einer genetischen Systemerkrankung mit Involvierung unterschiedlicher Organsysteme sein. Beispiele für solche Systemerkrankungen sind Pseudoxanthoma elasticum (PXE) mit u. a. einem erhöhten kardiovaskulären Risiko, die primäre Hyperoxalurie Typ 1 mit u. a. Niereneinschränkungen, mitochondriale Erkrankungen wie das Kearns-Sayre-Syndrom, oder die McArdle-Erkrankung mit Muskelproblemen [7], [8], [9], [10], [11]. Auch eine genaue Medikamentenanamnese ist essenziell, mit der u. a. eine Retinopathie durch Hydroxychloroquin oder Pentosan-Polysulfat abzugrenzen ist [12], [13], [14], [15], [16], [17], [18]. Therapien mit immunmodulatorischen Substanzen, sei es zur Tumortherapie (Melanom, Basalzellkarzinom), zur Therapie rheumatologischer oder ophthalmologischer Erkrankungen, können neben unmittelbaren Medikamentennebenwirkungen Hinweise auf möglicherweise relevante Systemerkrankungen (z. B. Colitis ulcerosa und dadurch bedingter Vitaminmangel) geben. Daneben sollten diätetische und Lebensstilfaktoren eruiert werden: Es gibt bspw. Hinweise für mögliche negative Effekte auf den Erkrankungsverlauf, wenn Patienten mit Mutationen im ABCA4-Gen hochdosiertes Vitamin A einnehmen oder Patienten mit Retinitis pigmentosa rauchen [19], [20].
Die Anamnese bezüglich familiärer (Augen-)Erkrankungen kann ebenfalls Hinweise auf eine zugrunde liegende Erkrankung liefern. Erbliche Netzhauterkrankungen können autosomal-dominant, autosomal-rezessiv, X-chromosomal und mitochondrial vererbt werden. Bei der Erstellung eines Stammbaums sollte in jedem Fall versucht werden, 3 Generationen und Verwandte 2. Grades zu dokumentieren, da gerade X-chromosomale Vererbungsmuster oder dominant vererbte Erkrankungen mit reduzierter Penetranz (nicht jeder Träger der Mutation erkrankt) oft nur dann erkannt werden können. Auch wenn keine weiteren Familienmitglieder betroffen sind, sollte ein Familienstammbaum gezeichnet werden. Dieser kann eine Konsanguinität dokumentieren, die oft mit autosomal-rezessiven Erbgängen assoziiert ist, und eine Untersuchung von Familienmitgliedern leiten. Auch hier lohnen sich detaillierte Nachfragen und die Dokumentation anamnestischer Details: Wenn bspw. keine Verwandtschaft der Eltern bekannt ist, mag eine Konsanguinität nicht ausgeschlossen werden, wenn die Eltern aus demselben oder benachbarten Dörfern stammen oder sich auf einer Familienfeier kennen gelernt haben. Ebenfalls ist es wichtig, das Alter von verstorbenen Familienmitgliedern zu dokumentieren: Ist ein Elternteil in einem Alter verstorben, in dem die Erkrankung möglicherweise noch nicht symptomatisch war, kann dieser Elternteil nicht als sicher gesund gewertet werden (insbesondere bei spät beginnender Symptomatik wichtig). Des Weiteren ist eine möglichst vollständige Erfassung der Erkrankungen von Familienangehörigen wichtig. So kann ein Diabetes mellitus der Mutter und eine Schwerhörigkeit von deren Schwester zu einer mitochondrialen Retinopathie passen, auch wenn jeder der Betroffenen unterschiedliche Organmanifestationen einer mitochondrialen Erkrankung entwickelt. Ebenso können zunächst zusammenhanglos erscheinende Augenerkrankungen Hinweise auf die genetische Ursache liefern: So können unterschiedliche Familienmitglieder mit Mutation im sog. KIF11-Gen unterschiedliche Netzhautveränderungen aufweisen (Familial Exudative Vitreoretinopathy, Zapfen-Stäbchen-Dystrophie oder angeborene chorioretinale Atrophien) [21], [22]. Fragen bezüglich der ethnischen Herkunft können darüber hinaus bei der Beurteilung von regionalen Inzidenzunterschieden hilfreich sein.
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Untersuchung der Sehfunktion bei erblichen Netzhautdystrophien
Die Bestimmung der Refraktion sowie der bestkorrigierten Sehschärfe sind sowohl in der Frühdiagnostik als auch bei Verlaufsuntersuchungen ein wichtiges diagnostisches Element und können Baustein differenzialdiagnostischer Überlegungen sein. Während bei Erwachsenen zumeist eine große Verlässlichkeit bezüglich der Visus- und Refraktionswerte vorliegt, wobei die Sehschärfenbestimmung (zeit-)aufwendig sein kann und mit der Morphologie in Beziehung gesetzt werden sollte, ist bei Kindern eine verlässliche Visus- und Refraktionsbestimmung erst mit Erreichen des 3. Lebensjahres gegeben. Zuvor sollte die Refraktion in Zykloplegie bestimmt werden. Etabliert hat sich bei Kindern die Bestimmung des Nahvisus als Reihenvisus, wie mit LEA-Symbolen oder Landoldt-Ringen (C-Test). Wichtig sind ebenfalls eine Abgrenzung bzw. der Ausschluss einer Amblyopie. Neben der Sehschärfe können auch weitere Symptome, wie ein näher zu charakterisierender Nystagmus, indirekt Rückschlüsse auf die Sehfunktion ermöglichen. Ein reduzierter Visus ist bei Kindern jedoch nicht nur im Spektrum von erblichen Netzhauterkrankungen zu sehen. Vielmehr ist differenzialdiagnostisch bei Kleinkindern neben einer verzögerten visuellen Reifung auch an zentrale Sehstörungen oder eine Hypoplasie des Sehnervs (optic nerve hypoplasia) zu denken [23], [24]. Bei jungen Patienten mit leichten Seheinschränkungen und subtilen Veränderungen in der retinalen Bildgebung können Untersuchungen des Farbsehens ebenfalls hilfreich sein, um bspw. erbliche Netzhauterkrankungen von einer Sehnervenentzündung abzugrenzen.
Auch die bei der Visusbestimmung erhobenen Refraktionswerte können in differenzialdiagnostische Überlegungen einbezogen werden, da Refraktionsanomalien bei bestimmten Netzhautdystrophien gehäuft vorkommen. Beispielsweise findet sich bei Patienten mit Mutationen im Bestrophin-Gen oft eine Hyperopie, während Patienten mit Retinitis pigmentosa oder kongenitaler stationärer Nachtblindheit oft eine Myopie aufweisen.
Die Gesichtsfelduntersuchung ermöglicht Aussagen hinsichtlich peripherer, wie auch zentraler Gesichtsfelddefekte und unterstützt die Diagnosestellung und Einordnung von erblichen Netzhauterkrankungen. Insbesondere bei fortgeschrittenen Funktionsstörungen liefert die Goldmann-Perimetrie oftmals mehr Informationen als die statische Computerperimetrie, da hiermit Gesichtsfeldrestinseln besser dargestellt werden können [25]. Neben der Diagnose sowie der Verlaufskontrolle hat die Goldmann-Perimetrie eine große Relevanz für Versicherungs-, Haftungs- und sozialversicherungsrechtliche Fragestellungen einschließlich Beurteilungen zur Minderung der Erwerbsfähigkeit, zur Fahrtauglichkeit, zu Gefährdungen am Arbeitsplatz oder auch in Bezug auf Blinden- oder Sehbehindertengeld [25], [26].
Auch wenn die Elektrophysiologie in der Diagnostik von erblichen Netzhauterkrankungen früher oft wegweisend war, hat sich ihr Stellenwert durch Entwicklungen in der retinalen Bildgebung und der molekulargenetischen Diagnostik deutlich reduziert. Elektrophysiologische Untersuchungen können ggf. hilfreich sein bei der Interpretation unklarer und neu identifizierter molekulargenetischer Varianten oder bei der Differenzierung von imitierenden Netzhauterkrankungen (Mimicking Diseases, siehe unten). Die Elektroretinografie (ERG) hat weiterhin einen gewissen Wert in der Abgrenzung panretinaler Erkrankungen von Makuladystrophien, für die Diagnostik einer kongenitalen stationären Nachtblindheit (CSNB), der Achromatopsie, eines Enhanced-S-Cone-Syndroms, sowie bei charakteristischen, genspezifischen Mustern, wie bei Varianten im KCNV2- oder NR2E3-Gen. Die Bedeutung des Elektrookulogramms (EOG) liegt vor allem in der Differenzialdiagnostik vitelliformer Makulaläsionen. Jedoch konnte gezeigt werden, dass selbst bei der Diagnose eines Morbus Best, bei dem charakteristischerweise ein reduzierter oder fehlender Hellanstieg vorkommt, EOG-Ableitungen nicht zwangsläufig klar pathologisch ausfallen müssen [27]. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Durchführung eines EOGs bei einem stark reduzierten oder erloschenen ERG keinen Mehrwert generiert.
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Netzhautbildgebung bei erblichen Netzhautdystrophien
Die retinale Bildgebung ermöglicht eine detaillierte Darstellung von Netzhautpathologien einschließlich Veränderungen, die sich einer funduskopischen Untersuchung entziehen. Neben der konventionellen Farbfundusfotografie, die funduskopische Befunde dokumentiert, sind vor allem die hochauflösende optische Kohärenztomografie (OCT) und die Fundusautofluoreszenz (FAF), die mittels kurzwelligen Lichts Fluorophore des Augenhintergrundes darstellen kann, mit ihren oftmals charakteristischen Befunden etabliert ([Abb. 1]) [3], [4], [5], [6]. Mittels FAF- und OCT-Bildgebung lassen sich auch Veränderungen im Verlauf nachvollziehen und messen. Dies ist auch für klinische Studien relevant, da sich die zentrale Sehschärfe innerhalb eines Studienzeitrahmens oftmals nicht signifikant ändert, eine Erkrankungsprogression sich aber möglicherweise in der Bildgebung nachvollziehen lässt.
Die OCT-Bildgebung erstellt „quasi-histologische“ Schnittbilder der Netzhaut. Neben einer schnellen Durchführbarkeit liegt ihre Stärke in der Erstellung von detaillierten Verlaufsuntersuchungen. Bei Netzhautdystrophien ist vor allem die Begutachtung der Integrität des retinalen Pigmentepithels (RPE) und der Photorezeptorschichten (z. B. Ellipsoidzone, äußere Körnerschicht) von Bedeutung. So weisen Patienten mit einer RP zumeist initial eine periphere Verdünnung und Atrophie der äußeren Netzhaut auf, die auf einer primären oder vorwiegenden Stäbchendegeneration beruht [28], [29]. Im Gegensatz zeigen Patienten mit Zapfen-Stäbchen-Dystrophien (ZSD) mit primärer Degeneration im Makulabereich vor allem zentrale atrophische Veränderungen der äußeren Retina ([Abb. 1]). Ferner lassen sich diese beiden Krankheitsentitäten mithilfe von OCT-Untersuchungen gegenüber stationären Erkrankungen wie der CSNB oder der Achromatopsie abgrenzen, die charakteristischerweise nur geringe oder keine Veränderungen in der OCT-Bildgebung aufweisen [30], [31], [32]. Mithilfe der OCT lassen sich ebenfalls dezente, in der Fluoresceinangiografie nahezu unauffällige Makulaödeme darstellen, die bei RP-Patienten häufig auftreten. Die Stärke der OCT-Bildgebung kommt vor allem zum Tragen, wenn sie mit weiteren Bildgebungsmodalitäten, wie der Blau- oder Nahinfrarot-FAF kombiniert wird.
Bei der FAF wird die Verteilung von Fluorophoren des Augenhintergrundes dargestellt, meist unter Verwendung von kurzwelligem Anregungslicht im Blau- oder Grünbereich. Hierbei können wertvolle Hinweise für die Diagnose und die Ausbreitung einer Erkrankung gewonnen werden und es lassen sich häufig indirekt Rückschlüsse auf die Netzhautfunktion ziehen [33], [34], [35], [36]. Exemplarisch wird dies bei der RP deutlich: Am Übergang zwischen zentral weitgehend intakter und peripher degenerierter Netzhaut findet sich typischerweise ein konzentrischer Ring erhöhter Autofluoreszenz, für den funduskopisch kein sichtbares Korrelat vorliegt [37], [38], [39]. Auch wenn der genaue Ursprung dieses Phänomens unvollständig verstanden ist, konnte mittels OCT-Untersuchungen gezeigt werden, dass der Ring dem Verlust der ellipsoiden Bande und einer starken Verdünnung oder gar Verlust der Photorezeptorschicht entspricht. Passend hierzu zeigte sich eine Korrelation des Durchmessers des Ringes mit der Größe des erhaltenen Gesichtsfeldes [40]. Daher ist dieser Ring erhöhter Autofluoreszenz nicht nur diagnostisch wertvoll, sondern gibt ebenfalls Auskunft über das Ausmaß der bereits bestehenden retinalen Funktionseinschränkung [38], [41]. Ringe erhöhter Autofluoreszenz können auch bei anderen Erkrankungen im Randbereich degenerativer Netzhaut gefunden werden, was die Notwendigkeit einer multimodalen Bildgebung verdeutlicht. Weitere charakteristische FAF-Befunde schließen Flecken erhöhter Autofluoreszenz, z. B. bei Patienten mit ABCA4-assoziierter Retinopathie (Morbus Stargardt), oder eine vitelliforme Läsion mit erhöhter Autofluoreszenz bei Patienten mit einem autosomal-dominanten Morbus Best oder bei IMPG2-Mutationen ein [42]. Ebenfalls kommt der FAF in frühen Erkrankungsstadien von Netzhautdystrophien eine besondere Bedeutung zu. So können bereits charakteristische Veränderungen sichtbar sein, obwohl funduskopisch noch keine offensichtlichen Erkrankungsmanifestationen zu sehen sind und Patienten keine, unspezifische oder nur geringe Symptome wahrnehmen. Ferner können auch bei Mutationsträgerinnen X-chromosomal vererbter Erkrankungen (z. B. RPGR-assoziierte RP oder Choroideremie) charakteristische Veränderungen in der FAF-Bildgebung vorliegen ([Abb. 2]), die eine recht verlässliche Diagnosestellung vor einer genetischen Testung ermöglichen [43], [44], [45], [46], [47].
Die Nahinfrarot-Fundusautofluoreszenz (NIR-AF) ist eine zur konventionellen FAF alternative Bildgebungsmodalität, bei der langwelligeres Licht (787 nm) zur Anregung der Fluoreszenz verwendet wird [48]. Auch wenn das NIR-AF-Signal weniger intensiv und diese Bildgebungsmodalität in der klinischen Routine seltener verwendet wird, gibt es im Vergleich zur konventionellen FAF zahlreiche Vorteile: So sind die Aufnahmen aufgrund einer geringeren Blendung für Patienten angenehmer, die Bildgebung ist weniger durch Linsentrübungen beeinflusst, die Interpretation der zentralen Netzhaut ist nicht durch Makulapigment erschwert, wodurch auch geringe zentrale Veränderungen analysiert werden können, und aufgrund der niedrigeren Energie bestehen keine Bedenken bezüglich retinaler Lichttoxizität. Bei vielen Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen zeigen sich, bei guter Bildqualität, ähnliche Veränderungen in diesen beiden Bildgebungsmodalitäten, auch wenn in der genauen Analyse durchaus qualitative Unterschiede beobachtet werden können ([Abb. 3]) [36], [49], [50], [51], [52]. Ein weiterer Wert der NIR-AF kann in der Differenzialdiagnostik zu nicht-hereditären Netzhautveränderungen liegen [26], [53], [54].
Neben diesen etablierten Methoden der retinalen Bildgebung gibt es neue Entwicklungen wie die quantitative Autofluoreszenz [55], [56], die indirekt ein Maß für den Lipofuszingehalt des RPEs liefert, die sog. adaptiven Optiken, die eine Darstellung der Netzhaut auf Zellniveau ermöglichen [57], [58], oder auch die OCT-Angiografie, die eine nicht invasive Darstellung der Gefäße des Augenhintergrundes erlaubt [59], [60], [61]. Der Stellenwert und die Anwendbarkeit dieser Methoden müssen sich allerdings noch erweisen. Klar ist hingegen, dass die Angiografie bei erblichen Netzhauterkrankungen kaum noch Relevanz hat und lediglich bei speziellen Fragestellungen Anwendung findet, wie bei Verdacht auf eine choroidale Neovaskularisation oder auf retinale vaskuläre Veränderungen mit Exsudation.
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Einteilung und Terminologie erblicher Netzhauterkrankungen
Die Terminologie erblicher Netzhauterkrankungen ist nicht einheitlich. Folglich kann ein Patient von unterschiedlichen Augenärzten scheinbar verschiedene Diagnosen erhalten – ein entsprechender Hinweis kann einem eventuellen Vertrauensverlust vorbeugen.
Basierend auf der Anamnese erfolgt klinisch oftmals zunächst eine Einteilung anhand des Krankheitsverlaufs. Erbliche Netzhauterkrankungen verlaufen vorwiegend progredient, wie dies bei Zapfen-Stäbchen-Dystrophien oder bei der Retinitis pigmentosa der Fall ist, jedoch sind auch (weitgehend) stationäre Befunde, wie bei der kongenitalen stationären Nachtblindheit oder der Achromatopsie möglich.
Folglich kann eine Einteilung basierend auf den primär beteiligten retinalen Zelltypen erfolgen. Historisch berief man sich vor allem auf die Ergebnisse der Ganzfeld-Elektroretinografie: Klassisch kennzeichnet sich eine Makuladystrophie durch normale photopische und skotopische Antworten bei einem reduzierten Muster-ERG, und eine Zapfendystrophie durch reduzierte photopische Antworten. Bei der ZSD sind die photopischen Ableitungen stärker als die skotopischen reduziert, was sich bei der Stäbchen-Zapfen-Dystrophie (Retinitis pigmentosa) umgekehrt verhält. Diese elektrophysiologisch determinierte Terminologie wird in der klinischen Routine jedoch auch ohne entsprechende Testung häufig verwendet, wobei „intuitiv“, aber formal inkorrekt und gelegentlich auch nicht adäquat, von den morphologischen Befunden auf den elektrophysiologischen Phänotyp rückgeschlossen wird.
Für zahlreiche erbliche Netzhauterkrankungen haben sich Eigennamen etabliert, bei denen bspw. Erstbeschreiber Beobachtungen oder eine Konstellation von Symptomen und Befunden zu einer Erkrankung zusammengefasst haben. Auch wenn dies bei Erkrankungen mit klaren Phänotyp-Genotyp-Korrelationen, wie beim Morbus Best, der Choroideremie oder der Bietti-Kristall-Dystrophie, passend sein kann, so ist dies bei Erkrankungen mit einer großen genetischen und/oder phänotypischen Heterogenität oftmals nicht präzise.
Die Verwendung von Eigennamen kann sowohl morphologisch-funktionelle Ungenauigkeiten mit sich bringen als auch molekulargenetisch unpräzise sein. Beispielsweise wird der „Morbus Stargardt“ (befundabhängig) gelegentlich auch als Stargardt-Erkrankung Typ 1 (STGD1), Fundus flavimaculatus, Makuladystrophie, Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, Zapfendystrophie oder ABCA4-assoziierte Netzhautdystrophie bezeichnet. Trotz dieses babylonischen Wirrwarrs, wobei die einzelnen Bezeichnungen unterschiedliche Assoziationen hervorrufen können, wird beim „Morbus Stargardt“ zumeist an die autosomal-rezessive, durch Mutationen im ABCA4-Gen verursachte Netzhauterkrankung (STGD1) gedacht. Historisch wurden 3 weitere Erkrankungen mit ähnlichem retinalen Phänotyp ebenfalls als Stargardt-Erkrankung (STGD2-4) benannt. Im Verlauf stellte sich heraus, dass sowohl STGD2 als auch STGD3 durch Mutationen im ELOVL4-Gen verursacht werden (und deshalb STGD2 nicht mehr verwendet wird) und STGD4 durch Mutationen im PROM1-Gen. Des Weiteren wurde die Nummerierung nicht fortgesetzt, um bspw. Patienten mit ähnlichen retinalen Befunden zu bezeichnen, wie dies auch bei Patienten mit bestimmten Mutationen im PRPH2-Gen der Fall ist. Nun führen autosomal-dominante Mutationen in ELOVL4, PROM1 und PRPH2 zwar zu einem retinalen Phänotyp, der dem von „echten“ Morbus-Stargardt-Patienten sehr ähneln kann – jedoch handelt es sich klinisch, genetisch sowie pathophysiologisch um unterschiedliche Erkrankungen [62]. Darüber hinaus bedingen autosomal-rezessive Mutationen in ELOVL4 und PROM1 auch andere Pathologien: Bei ELOVL4-Mutationen beinhaltet dies die spinozerebelläre Ataxie 34 sowie Ichthyose, spastische Tetraplegie und mentale Retardierung [63], [64], autosomal-rezessive PROM1-Mutationen können einen RP-Phänotyp bedingen [65], [66], [67], [68], [69]. Dahingegen können bestimmte Mutationen im PRPH2-Gen auch zu einer „Central Areolar Choroidal Dystrophy“ (CACD) oder RP führen [70], [71], [72].
Die Nosologie erblicher Netzhauterkrankungen wird also dadurch erschwert, dass Mutationen in ein und demselben Gen 2 oder mehrere Formen von Netzhauterkrankungen verursachen können (phänotypische Heterogenität) [73]. Ebenfalls können Mutationen in unterschiedlichen Genen einen ähnlichen Phänotyp verursachen (genotypische Heterogenität), und es gibt möglicherweise weitere (bisher weitgehend unbekannte) genetische und/oder Umweltfaktoren, die einen Einfluss auf die Erkrankungsmanifestation haben können [19], [74], [75], [76], [77].
Die Verwendung von Eigennamen kann ferner eine Abtrennung zwischen syndromalen und nicht syndromalen Erkrankungen erschweren. Beispielsweise sind USH2A-Mutationen mit Formen des Usher-Syndroms assoziiert, bei dem Patienten klassischerweise eine RP sowie eine milde bis schwere Hörstörung aufweisen [78]. Mit zunehmender molekulargenetischer Diagnostik wurde jedoch klar, dass viele RP-Patienten mit USH2A-Mutationen keine Hörstörungen zeigen und bei diesen Patienten somit keine syndromale Erkrankung vorliegt [2], [79], [80]. Wenn diese Patienten, basierend auf der Molekulargenetik, als Patienten mit Usher-Syndrom bezeichnet werden, impliziert dies eine Schwerhörigkeit, die allerdings nicht vorliegt. Ebenfalls können Mutationen in Bardet-Biedl-Syndrom-assoziierten Genen auch in Patienten mit einer nicht-syndromalen RP [81], [82], oder Mutationen in CEP290, die klassisch mit einem Senior-Løken-, Joubert- oder Meckel-Gruber-Syndrom assoziiert sind, in nicht-syndromalen Patienten mit einer Leberʼschen kongenitalen Amaurose (LCA) oder RP gefunden werden [2], [83], [84], [85], [86]. Differenzialdiagnostisch sind ebenfalls monogene Systemerkrankungen mit einer Netzhautbeteiligung zu bedenken. So kann der Übergang von „klasssischen“ Netzhautdystrophien zu Systemerkrankungen mit einem retinalen Phänotyp fließend sein, wie dies bei PXE oder mitochondrialen Erkrankungen der Fall ist [10], [87], [88], [89], [90], [91], [92].
Solange keine Konsensusterminologie vorliegt, können erbliche Netzhauterkrankungen pragmatisch nach dem Grundsatz „so präzise wie möglich, so vage wie nötig“ bezeichnet werden. Dies kann im Verlauf und mit zunehmender Diagnosesicherheit modifiziert werden: So kann zunächst unspezifisch eine „Netzhautdystrophie“ diagnostiziert werden, die nach elektrophysiologischer und molekulargenetischer Abklärung spezifiziert wird (z. B. „ABCA4-assoziierte Makuladystrophie“). Wenn die Möglichkeit einer stationären (z. B. CSNB) oder imitierenden Erkrankung besteht, sollte dies früh differenzialdiagnostisch erwähnt werden. Häufig lohnt es sich, Patienten eine evtl. gewollte Ungenauigkeit der Diagnose zu erläutern, um Verunsicherung vorzubeugen. Die Diagnosesicherheit hängt natürlich auch von der Erfahrung des Diagnostikers ab; so kann bei typischen Befundkonstellationen und entsprechender Expertise häufig schon bei Erstkontakt ein klares Bild entstehen. Grundsätzlich ist eine zuvor gestellte Diagnose immer wieder neu zu hinterfragen und sollte im Kontext von ergänzenden Angaben oder aktuellen Befunde bestätigt oder verworfen werden.
Es gibt auch Möglichkeiten, retinale Veränderungen bei monogenen Systemerkrankungen sprachlich in korrekten Bezug zu setzen. Beispiele für eine solche Terminologie wären „PXE-assoziierte Retinopathie“ oder „mitochondriale Retinopathie“. Gelegentlich kann auch hier die zusätzliche Nennung des mutationstragenden Gens oder des Subtyps einer Erkrankung sinnvoll sein, insbesondere wenn (gen-)spezifische Therapien in Entwicklung oder verfügbar sind.
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Abgrenzungen von imitierenden Netzhauterkrankungen
Es gibt eine Vielzahl an Erkrankungen, die eine Netzhautdystrophie imitieren können („mimicking diseases“). Diese umfassen postentzündliche Netzhautveränderungen (z. B. Röteln-Retinopathie, post-uveitische Zustände), Medikamentennebenwirkungen (z. B. Hydroxychloroquin-, Deferoxamin- oder Pentosan-Retinopathie) oder auch das Spektrum der Autoimmunretinopathien. Vitelliforme Makulaläsionen können auch außerhalb von Netzhautdystrophien beobachtet werden, wie gelegentlich im Rahmen einer altersabhängigen Makuladegeneration, bei chronischer vitreomakulärer Traktion oder im Rahmen einer Chorioretinopathia centralis serosa (um nur einige zu nennen; [Abb. 4]). Das Erkennen einer imitierenden Netzhauterkrankung ist von hoher Relevanz für betroffene Patienten. So zeigt eine Röteln-Retinopathie keine wesentliche Progression, bei Medikamentennebenwirkungen sollte – sofern möglich – das ursächliche Therapeutikum abgesetzt werden, und bei Autoimmunprozessen kann eine Tumorsuche erfolgen oder ggf. eine Immunsuppression erwogen werden. Vitelliforme Läsionen benötigen keine weitere Abklärung, wenn eine offensichtliche Ursache vorliegt.
Die korrekte Diagnose kann auch relevant für die Familienberatung sein, da üblicherweise kein hohes Wiederholungsrisiko wie bei genetischen Erkrankungen besteht. Wesentliche Bedeutung für die Diagnose einer imitierenden Netzhauterkrankung ist eine detaillierte Anamnese und das Erkennen charakteristischer morphologischer Veränderungen. Insbesondere postentzündliche und autoimmunbedingte Retinopathien zeigen häufiger eine geringere Symmetrie im Vergleich zu genetisch bedingten Erkrankungen, wobei gerade in Frühstadien von Netzhautdystrophien auch oftmals eine Asymmetrie beobachtet wird. Ein negatives Ergebnis einer molekulargenetischen Testung kann die Diagnose einer imitierenden Netzhauterkrankung unterstützen, aber nicht bestätigen, da auch bei monogenen Erkrankungen die ursächliche genetische Veränderung nicht immer gefunden wird [1], [2], [93], [94], [95], [96], [97].
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Genetische Diagnostik
Ein zentraler Pfeiler in der Diagnostik von hereditären Netzhautdystrophien ist die molekulargenetische Untersuchung [1], [2], [96], [97], [98], [99], [100], [101], [102], [103], [104], [105]. Die Identifizierung der genetischen Erkrankungsursache kann nicht nur Aussagen über den potenziellen Krankheitsverlauf oder die Vererblichkeit liefern, sondern ist auch vor dem Hintergrund (potenziell zukünftiger) krankheitsspezifischer gentherapeutischer Optionen, diätetischer Maßnahmen (z. B. phytansäurearme Diät bei Morbus Refsum) und Pharmakotherapien (z. B. deuteriertes Vitamin A [106] oder Inhibitoren des Sehzyklus bei ABCA4-Mutationen/Morbus Stargardt) essenziell. So ist nach der Zulassung der ersten Gentherapie (voretigene neparvovec) für Patienten mit Leberʼscher kongenitaler Amaurose durch Mutationen im RPE65-Gen die Etablierung weiterer Gentherapien in den klinischen Alltag wahrscheinlich [107]. Beispielsweise befinden sich aktuell gentherapeutische Ansätze zur Choroideremie oder zur X-chromosomalen RP (RPGR-Mutationen) in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Entwicklung [108], [109], [110], [111]. Bei fortgeschrittenen erblichen Netzhauterkrankungen kann eine molekulargenetische Diagnostik hilfreich sein, da die klinischen Befunde in diesen Krankheitsstadien trotz umfassender Anamnese, Bildgebung sowie funktionellen Untersuchungen mit mehreren Differenzialdiagnosen vereinbar sein können.
Des Weiteren kann die Molekulargenetik zur Korrektur der klinischen Verdachtsdiagnose führen, unerwartete Diagnosen nahelegen und weitere Abklärungen (u. a. Hörfunktions-, Nierenfunktions-, Fettstoffwechselstörungen, Kardiomyopathie, Diabetes) leiten, falls die Netzhauterkrankung die Diagnose einer syndromalen Erkrankung nahelegt. Diese Patienten weisen i. d. R. neben der Netzhautdystrophie zusätzliche, oftmals diskrete extraokuläre Symptome auf. Generell ist bei der Interpretation der klinisch-ophthalmologischen und molekulargenetischen Befunde eine multidisziplinäre Zusammenarbeit von Humangenetikern, Augenärzten und eventuell weiteren Disziplinen wichtig. Dies schließt eine phänotypische Reevaluation nach Identifizierung der (potenziell) ursächlichen molekulargenetischen Veränderung ein. Nach der interdisziplinären Interpretation der humangenetischen Befunde sollte allen Patienten und deren Familien eine umfassende humangenetische Beratung angeboten werden. Wird von Familienmitgliedern ohne Symptome oder Erkrankungszeichen eine sog. prädiktive Diagnostik erwogen, muss im Vorfeld eine Beratung durch Humangenetiker oder hierfür speziell qualifizierte Fachärzte erfolgen.
Auch wenn die Detektion der molekulargenetischen Ursache von erblichen Netzhauterkrankungen zugänglicher geworden ist, kann die klinische Diagnose nicht bei allen Patienten molekulargenetisch gestützt werden. Ein negativer Befund, d. h., dass bei einer umfassenden molekulargenetischen Diagnostik keine den klinischen Befund „erklärende(n)“ Mutation(en) gefunden wurde, schließt eine erbliche Netzhautdystrophie nicht aus – in diesen Fällen bleibt die klinische Diagnose weiterhin bestehen. Auch der Nachweis von Mutationen kann nicht ausschließen, dass Veränderungen in anderen Genen den Phänotyp verursachen.
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Zusammenfassung
Erbliche Netzhauterkrankungen können zu starken Beeinträchtigungen führen – im alltäglichen Leben, physisch wie auch emotional. Sowohl für Patienten als auch für ihre Familien ist eine präzise und umfassende Diagnose entscheidend, um sich auf lebenslange Auswirkungen der Erkrankung sowie auf einen potenziell fortschreitenden Sehkraftverlust vorzubereiten. Hierbei ist oftmals ein multidisziplinärer Teamansatz essenziell, der Augenärzte, Humangenetiker sowie eventuell weitere medizinische Fachbereiche einbezieht.
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Conflict of Interest/Interessenkonflikt
The authors declare that they have no conflict of interest./Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung
Diese Arbeit wurde gefördert durch die Dr. Werner Jackstädt Stiftung, Wuppertal (Forschungsförderung S0134-10.22), das National Institute for Health Research (NIHR) Oxford Biomedical Research Centre (BRC) sowie durch den Medical Research Council, UK (MR/R000735/1). Die zum Ausdruck gebrachten Positionen sind die der Autoren und nicht unbedingt die des britischen National Health Service (NHS), des NIHR oder des britischen Gesundheitsministeriums.
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Correspondence/Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 13 October 2020
Accepted: 09 February 2021
Article published online:
30 March 2021
© 2021. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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