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DOI: 10.1055/a-1401-3586
Shared Decision Making im allgemeinpsychiatrischen Akutsetting
Eine cluster-randomisierte Studie in der Behandlung der Schizophrenie (SDMPLUS)Shared Decision Making in an acute psychiatric settingA cluster-randomized study in the treatment of schizophrenia (SDMPLUS)ZUSAMMENFASSUNG
Ziel: Patienten, die an einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung leiden, werden von den behandelnden Psychiatern oft nicht im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making, SDM) mit in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Da SDM auch die Behandlungsergebnisse in der Therapie psychiatrischer Erkrankungen verbessern könnte, untersucht die dargestellte Studie (SDMPLUS) die Anwendung von SDM im Bereich akut erkrankter Patienten.
Methodik: In dieser multizentrischen, cluster-randomisierten Studie wurde der Einsatz von SDMPLUS gegenüber der Standardbehandlung auf 12 akutpsychiatrischen Stationen in 5 Kliniken untersucht. Alle Patienten, die an einer schizoaffektiven Störung oder einer Schizophrenie litten und die Einschlusskriterien der Studie erfüllten, wurden bei Aufnahme auf die Stationen konsekutiv in die Studie eingeschlossen. Auf den Interventionsstationen erhielten sie ein Gruppentraining in den Kommunikationstechniken des SDMPLUS. Die Behandlungsteams dieser Stationen durchliefen 2 halbtägige Workshops zum Erwerb der Techniken. Auf den Kontrollstationen wurden weder Patienten noch Behandlungsteams trainiert, die Behandlung verlief unverändert („treatment as usual“, TAU). Der primäre Zielparameter der Studie war das Ausmaß der subjektiv empfundenen Einbeziehung in die Entscheidungsfindungsprozesse der Patienten nach 3 Wochen. Retrospektiv wurden in einer Post-hoc-Analyse Daten zu Aggressionshandlungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen nacherhoben und ausgewertet.
Ergebnis: Insgesamt wurden je 161 Patienten auf den Interventions- und Kontrollstationen in die Studie aufgenommen. Die Intervention SDMPLUS führte zu einem höheren Maß an empfundener Einbeziehung in die Entscheidungsprozesse, dargestellt durch einen mittleren Unterschied von 16,5 Punkten in der SMD-Q-9-Skala. Darüber hinaus waren die therapeutische Allianz, die Zufriedenheit mit der Behandlung und die selbstberichtete Adhärenz der Interventionspatienten höher als in der Kontrollgruppe. Allerdings fanden sich in der Nachbeobachtungsphase über die Dauer eines Jahres hinweg keine Hinweise auf eine Erhöhung der Adhärenz oder eine Reduktion der Rehospitalisierungsraten. Auch zeigte die Intervention keine direkte Auswirkung auf das Auftreten von Aggressionshandlungen oder die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen oder Zwangsbehandlungen. Patienten mit einer dokumentierten Aggressionshandlungen oder der Aufnahme in die stationäre Behandlung entgegen ihrem Willen konnten jedoch in gleichem Ausmaß von der Intervention hinsichtlich der erlebten Einbeziehung in Entscheidungsprozesse profitieren wie die restlichen Teilnehmer der Studie.
Zusammenfassung: Die Studie konnte zeigen, dass die Kommunikationstechniken des SDMPLUS (z. B. auch das Einbeziehen von Elementen der motivierenden Gesprächsführung) eine Möglichkeit darstellen, die partizipative Entscheidungsfindung auch im akutpsychiatrischen Behandlungskontext im Interesse der Patienten einzusetzen. Die Schnittstellenproblematik zwischen der stationären und der post-stationären Behandlung muss hierbei aber künftig noch stärker in den Fokus genommen werden, um die Effekte nachhaltig zu festigen.
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ABSTRACT
Aims Although shared decision-making (SDM) has the potential to improve health outcomes, psychiatrists often exclude patients with more severe mental illnesses or more acute conditions from participation in treatment decisions. This study examines whether SDM is facilitated by an approach which is specifically adapted to the needs of acutely ill patients (SDM PLUS).
Methods The study is a multi-center, cluster-randomized, non-blinded, controlled trial of SDM-PLUS in 12 acute psychiatric wards of 5 psychiatric hospitals addressing inpatients suffering from schizophrenia or schizoaffective disorder. All patients fulfilling the inclusion criteria were consecutively recruited for the trial at the time of their admission to the ward. Treatment teams of intervention wards were trained in the SDM-PLUS-approach through participation in two half-day workshops. Patients on intervention wards received group training in SDM. Staff (and patients) of the control wards acted under “treatment as usual” conditions. The primary outcome parameter was the patients’ perceived involvement in decision making at 3 weeks after study enrolment, analyzed using a random effects linear regression model. Retrospectively obtained data on incidents of patient aggression and coercive measures were additionally analyzed post-hoc.
Results 161 participants each were recruited in the intervention and control group. SDM-PLUS led to higher perceived involvement in decision making measured by the SDM-Q-9 questionnaire. In addition, intervention group patients exhibited better therapeutic alliance, treatment satisfaction and self-rated medication compliance during inpatient stay. There were, however, no significant improvements in adherence and rehospitalization rates in the 12-month follow-up. The intervention showed no effect on patient aggression and coercive measures. Still patients admitted involuntarily or featuring incidents of aggression profited similarly from the intervention with regard to perceived involvement, adherence, and treatment satisfaction as patients admitted voluntarily or featuring no incidents of aggression.
Conclusions Despite limitations in patient recruitment the SDM-Plus trial has shown that the adoption of behavioral approaches (e. g., motivational interviewing) for SDM may yield a successful application to mental health. The authors recommend strategies to ensure effects are not lost at the interface between in- and outpatient treatment.
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Schlüsselwörter
Shared-Decision-Making - Entscheidungsfindung - Partizipation - Empowerment - SchizophrenieEinleitung
Die partizipative Entscheidungsfindung, im Englischen etwas griffiger als „shared decision making“ (SDM) bezeichnet, wird von Patienten, Bezugspersonen und Psychiatern gleichermaßen als sinnvolles Vorgehen anerkannt, da erwiesener Maßen durch sie die Zufriedenheit der Patienten mit der Behandlung und die Therapieerfolge positiv beeinflusst werden können [1]. Generell kann man von einer ethischen Grundforderung sprechen, die hier erfüllt wird, denn die Einbeziehung eines Patienten in die Entscheidungsprozesse seiner Behandlung ist für jeden Therapeuten verpflichtend [2]. Dennoch wird gerade in der Psychiatrie SDM generell eher selten praktiziert [3], [4], und man findet die Anwendung im akutpsychiatrischen Setting, in dem Patienten mitunter auch gegen ihren Willen stationär aufgenommen und behandelt werden, praktisch gar nicht [5], [6]. Neben den allgemein bekannten Umsetzungsproblemen von SDM in der Medizin, beispielsweise dem Zeitdruck im klinischen Alltag [7], scheinen darüber hinaus Faktoren eine Rolle zu spielen, die eher spezifisch für den psychiatrischen Fachbereich oder die psychiatrisch Erkrankten gelten.
Einleuchtend ist hierbei zunächst das mitunter deutlich eingeschränkte Engagement der Erkrankten, sich an einer partizipativen Entscheidungsfindung selbst aktiv zu beteiligen. Hierbei können eine krankheitsbedingte Antriebsminderung, generelle Passivität im Handeln [8], Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit [9], [10] oder ein Unterlegenheitsgefühl in der Patient-Arzt-Beziehung [6] zugrunde liegen. Diese eingeschränkte Fähigkeit, sich aktiv am Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung zu beteiligen, sehen wiederum Psychiater als eine der größten Hürden in der Anwendung von SDM in der Akutpsychiatrie, gepaart mit einer krankheitsimmanenten Schwierigkeit, die eigene Erkrankung als solche zu erkennen und die Behandlungsbedürftigkeit zu reflektieren [10]–[12]. Durch die Fürsorgepflicht des Behandelnden, der im besten Interesse des Erkrankten handeln sollte, und die beschriebenen Hürden entsteht ein nicht aufzulösendes Dilemma. Eine Einbeziehung des Erkrankten in die Entscheidung kann zu einem Diskussionsergebnis führen, das aus Sicht der Therapeuten nicht optimal oder gar dem Genesungsprozess gegenläufig ist, und dennoch im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung lege artis verlaufen ist. Folglich hält die Angst vor einem derartigen Ergebnis viele Therapeuten vom Einsatz des SDM ab, in der Annahme, so im besten Interesse des Patienten zu handeln, was aber auch als Bevormundung oder Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Erkrankten verstanden werden kann oder sogar muss.
Ziel der aktuellen Studie war es, gerade im Setting einer vollstationären akutpsychiatrischen Behandlung den Prozess einer partizipativen Entscheidungsfindung proaktiv anzuleiten und bezüglich messbarer Effekte auf die Patientenzufriedenheit mit der Behandlung zu untersuchen. Hierzu wurde eine komplexe Intervention, SDMPLUS (shared decision making PLUS) [13] eingesetzt, die gezielt die beschriebenen Hürden in der Anwendung von SDM durch Schulungen von Patienten in aktiver Entscheidungsfindung sowie Behandlungsteams in motivierenden und deeskalierenden Gesprächstechniken senkt. Die komplexe Intervention soll es den Erkrankten erleichtern, eigene Präferenzen und Wünsche zu identifizieren und in die Entscheidungsfindung aktiv mit einzubringen. Auf Seiten des Behandlungsteams lag der Schwerpunkt auf der Motivation der Patienten und spezifischen Hilfestellungen, verfahrene Gesprächssituationen zu einem konstruktiveren Verlauf zu wenden. Dadurch könnte auf Seiten der Erkrankten ein höheres Maß an empfundener Einbeziehung in Entscheidungsprozesse der eigenen Therapie resultieren, was abgesehen von möglichen positiven Effekten der jeweiligen Entscheidung auf den weiteren Verlauf der Therapie per se einen Zugewinn an Behandlungszufriedenheit darstellen würde [2]. Denkbar wäre ebenso eine Reduktion von aggressivem Verhalten oder freiheitsentziehender Maßnahmen während des Aufenthaltes, was in einer Post-hoc-Analyse näher betrachtet wurde. Ein besonderes Augenmerk lag hierbei in der Gruppe derjenigen Patienten, die entgegen ihrem Willen in die Klinik aufgenommen worden waren oder bereits in der Vergangenheit aggressives Verhalten aus Sicht der Behandler gezeigt hatten. Auch über den stationären Behandlungsrahmen hinaus wären positive Effekte auf das generelle Patienten-Arzt-Verhältnis, die Beteiligung an der Gestaltung des weiteren Genesungsprozesses und die Verhinderung von Rückfällen denkbar und wünschenswert [14], [15].
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Methoden
Studiendesign, Randomisierung und Verblindung
Die Studie wurde multizentrisch auf jeweils hinsichtlich mehrerer Parameter passend gepaarter Stationseinheiten im geschützten akutpsychiatrischen Setting in Oberbayern durchgeführt. Es beteiligten sich 5 Fachkrankenhäuser mit insgesamt 12 Stationen, die in 6 Paare mittels Cluster-Randomisierung aufgeteilt wurden [16]. Jeweils eine Station eines Paares wurde der SDMPLUS-Intervention zugeordnet, auf der anderen Station wurde die reguläre Patientenversorgung als Kontrollsetting unverändert fortgeführt („treatment as usual“, TAU). Die bestmögliche Paarung der Stationen wurde hinsichtlich der Anzahl der behandelten Patienten, der Verteilung von Diagnosen, der Rahmenbedingung der Behandlung und des Personalschlüssels vorgenommen.
Aufgrund des gewählten Studiendesigns war es nicht erforderlich, innerhalb einer Station eine Verblindung bezüglich der angewandten Interventionen durchzuführen. Zwischen der Interventions- und Kontrollstation wurde aber striktes Stillschweigen über die vermittelten Inhalte vereinbart. Eine Verblindung bezüglich der Erhebung des primären Endpunktes der Studie war nicht möglich, da hierbei eine Selbstbeurteilungsskala an die behandelten Patienten ausgegeben wurde. Dies war auch bei den meisten sekundären Zielparametern der Fall.
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Studienteilnehmer
Alle Patienten im Alter von 18 bis 65 Jahre, die unter der Diagnose einer Schizophrenie (ICD-10 F20.x) oder einer schizoaffektiven Störung (ICD 10 F25.x) aufgenommen wurden, erfüllten die Einschlusskriterien, wenn es ihnen möglich war, an einstündigen Schulungen absehbar teilzunehmen und ihr schriftliches Einverständnis zur Studienteilnahme abzugeben. Sämtlichen Patienten, die diese Kriterien erfüllten, wurde die Studienteilnahme angeboten. Lediglich diejenigen Patienten, die an einem fortgeschrittenen demenziellen Prozess litten oder sich aufgrund geringer Sprachkenntnisse nicht aktiv an einer Entscheidungsfindung in deutscher Sprache beteiligen konnten, wurden nicht berücksichtigt. Explizit wurde denjenigen Patienten die Studienteilnahme angeboten, die nicht aufgrund ihrer freien Willensentscheidung in die stationäre Behandlung aufgenommen worden waren.
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Intervention und Kontrollbedingung
Die SDMPLUS-Intervention wurde von den Autoren konzipiert [13], einige Bestandteile (z. B. die Schulung der Patienten) sind bereits in vorausgegangenen Studien erprobt und beschrieben worden [18]. Die komplexe Intervention SDMPLUS unterstützt Patienten und Behandlungsteams im wechselseitigen Initiieren und gemeinsamen Führen von partizipativen Entscheidungsprozessen. Bestehende Konzepte zur Schulung von Behandlungsteams [19] wurden vor allem hinsichtlich des aktiven Einbeziehens von Patienten mit eingeschränkter oder fehlender Krankheitseinsicht, aber auch Erkrankter mit eingeschränkten Fähigkeiten zur gemeinsamen Entscheidungsfindung erweitert. Techniken der motivationalen Gesprächsführung fanden ebenso Berücksichtigung wie Interventionen aus der deeskalierenden Verhandlungsführung [13].
Die beiden Studieninitiatoren JH und SH der TUM (Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie) führten interaktive Workshops mit den gesamten Behandlungsteams (Pflegepersonal, Ärzte, Sozialpädagogen, Psychologen, Fachtherapeuten) der Interventionsstationen durch. Die beiden halbtägigen Workshops in den teilnehmenden Fachkrankenhäusern umfassten Vorträge zum wissenschaftlichen Hintergrund, Einführungen in die unterschiedlichen Interventionen, Fallbeispiele und zahlreiche Rollenspiele, um die Techniken einzuüben. Für das komplette ärztliche Personal war die Teilnahme an beiden Workshops verpflichtend und Voraussetzung für die Studiendurchführung, die anderen Berufsgruppen sollten in möglichst hohem Ausmaß vertreten sein. Die Ärzte wurden über den gesamten Fortgang der Studie kontinuierlich vom Studienteam in der Umsetzung der Techniken wöchentlich durch Supervision unterstützt und fortlaufend dazu angehalten, das Erworbene in die Behandlung der Patienten fortwährend einzubringen. Die Patienten wurden in einem Gruppentraining 2-mal pro Woche fortlaufend geschult. Hierbei wurden Rollenspiele und unterstützende Materialien, z. B. Fragebögen zur Vorbereitung der Visitengespräche oder Anleitungen zur Hierarchisierung der Wünsche und Präferenzen genutzt [20]. Das Programm wurde über den gesamten Ablauf der Studie hinweg in allen teilnehmenden Kliniken vom Studienpersonal der TUM (unter Umständen auch in Gegenwart von Mitgliedern des Behandlungsteams) angeboten, und es wurde sichergestellt, dass jeder Studienteilnehmer mindestens 2 der angebotenen Schulungstermine besucht hat. Die Patienten und das Personal der Kontrollstationen wurden nicht geschult und keinerlei Informationen zur Studie wurden in den betreffenden Kliniken zugänglich gemacht. Im Nachgang der Studie wurde ihnen angeboten, einen kompletten Schulungszyklus zu durchlaufen und die Durchführung der Patientengruppen kennenzulernen.
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Datenerhebung
Zu 4 Zeitpunkten (Baseline; 3 Wochen nach Baseline bzw. bei Entlassung, je nachdem, was zuerst eintrat; 6 und 12 Monate nach Entlassung) wurden in gleicher Weise Daten der Interventions- und Kontrollgruppe erhoben. Darüber hinaus wurden die retrospektiv erhobenen Daten zu Aggression von Patientenseite und freiheitsentziehenden Maßnahmen 3 Zeitfenstern zugeordnet: Präinterventionsphase (stationäre Aufnahme bis Studieneinschluss), Interventionsphase (Studieneinschluss bis zur Entlassung oder Zeitpunkt 3 Wochen, je nachdem, was früher eintrat) und Postinterventionsphase (Ende der Intervention bis zur Entlassung, falls Patienten nicht zuvor entlassen worden waren).
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Baselinedaten
Von allen Teilnehmern wurden anamnestische (Anzahl der stationären Voraufenthalte, Dauer der Erkrankung etc.) und soziodemografische Daten, die Diagnose und die Einschätzung der Krankheitsschwere (CGI-S) und des globalem Funktionsniveaus (GAF) bei Studieneinschluss erfasst. Ergänzend wurde die Krankheitseinsicht anhand der „Birchwood Insight Scale“ [21] und die Wahrnehmung der aktuellen stationären Einweisung mittels der „MacArthur Admission Experience Survey“ [22] beurteilt.
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Studienendpunkte
Primärer Studienendpunkt
Wir definierten als primären Studienendpunkt die subjektiv empfundene Einbeziehung in die medikamentöse Therapieentscheidung während des stationären Aufenthaltes, gemessen durch die SDM-Q-9-Skala nach 3 Wochen (T1) im Studienverlauf (oder zum Zeitpunkt der Entlassung, falls diese vor Ablauf der 3 Wochen stattfand). Entsprechend der Erfahrung der Forschungsgruppe Rodenburg-Vandenbussche und Kollegen [23] mit der Anwendung der SDM-Q-9-Skala interpretierten wir einen Unterschied von 15 Punkten zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe als klinisch relevant.
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Sekundäre Studienendpunkt (3-Wochen-Messzeitpunkt)
Den möglichen Einfluss auf die therapeutische Allianz bzw. das Patient-Therapeuten-Verhältnis beurteilten wird durch die „Helping Alliance Scale“ (Patientenversion HAS-P und Therapeutenversion HAS-C) [24]. Die Patientenzufriedenheit mit der Behandlung untersuchten wir mittels der „Questionnaire on Patients’ Treatment Satisfaction” (ZUF8) und das Bestehen bzw. Fortbestehen von bisher nicht ausreichend adressierten Bedürfnissen in der Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens anhand des „Camberwell Assessment of Need self-report questionnaire“ (CANSAS-P). Das Ausmaß der Adhärenz mit der aktuellen medikamentösen Behandlungsstrategie bildeten wir durch die „Medication Adherence Rating Scale“ (MARS) ab [25].
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Sekundäre Studienendpunkte (6- bzw. 12-Monate-Messzeitpunkt)
Im weiteren Verlauf nach Entlassung erfassten wir jeweils das subjektive Wohlbefinden und die Lebensqualität der Patienten durch den „WHO-5 well-being index“ und die „EUROHIS-QOL“ (generic quality of life questionnaire) [26]. Ebenso wurde der weiter behandelnde Psychiater nach möglichen erneuten stationären Aufnahmen des Studienteilnehmers im Nachverfolgungszeitraum befragt.
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Daten zu Aggressionshandlungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen
In den 3 Zeitfenstern wurden die Beschreibungen der Vorkommnisse, ihre Häufigkeit und die jeweilige Dauer aus den Krankenakten extrahiert. Die Operationalisierung der Aggressionshandlungen erfolgte über die „modified overt aggression scale” (MOAS), einer validierten Skala zur Erfassung aggressiver Handlungen und deren Schweregrad [27]. Die ursprüngliche Form der Skala unterscheidet 4 Kategorien von Aggression – verbale Aggression, Aggression gegenüber Objekten, Autoaggression und Aggression gegenüber Dritten – und fasst diese in einem Summenwert zusammen. Für unsere Analyse wurde der Summenwert in dichotomer Weise betrachtet, wobei lediglich ein Wert gleich Null als Nichtauftreten von Aggression, alle anderen Werte als Auftreten von Aggression angesehen wurde.
Freiheitsentziehende Maßnahmen oder Zwangsbehandlung wurden ebenfalls dichotom erfasst, sodass jeglicher Einsatz, unabhängig von der Häufigkeit, gleichermaßen als das Kriterium erfüllend bewertet wurde. Da diesen Maßnahmen Antragsprozesse vor-/nachgeschaltet sind, waren entsprechende Aufzeichnungen in den Krankenakten verfügbar. Darüber hinaus wurde das Vorliegen einer gesetzlichen Betreuung, die Einweisung entgegen den Willen des Patienten und der Zeitpunkt des ersten unbegleiteten Ausgangs von Station nach Aufnahme erfasst.
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Statistische Analyse
Der primäre Zielparameter der dargestellten Studie war der Vergleich des Mittelwertes der SDM-Q-9-Skala zum Zeitpunkt Woche 3 (bzw. bei Entlassung, je nachdem, was zuerst aufgetreten war] zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe. Um den Effekt der Intervention auf den kontinuierlichen primären Endpunkt abzuschätzen, verwendeten wir ein gemischtes lineares Regressionsmodell mit der Clusterzuteilung als zufälliger und der Interventionszuweisung als fixer Größe, bei dem ein Signifikanzlevel von α = 5 % angenommen wurde. Der Einfluss der Intervention auf die sekundären Zielparameter wurde anhand von exploratorischen Analysen beschrieben. Die kontinuierlichen sekundären Zielparameter wurden anhand eines linearen Regressionsmodells analysiert, entsprechend dem primären Zielparameter. Für den binären kategorischen sekundären Parameter (Rehospitalisierung) wurde wiederum ein gemischtes lineares Regressionsmodell herangezogen. Da alle Zielparameter des Beobachtungszeitraums nach der Entlassung aus der stationären Behandlung statistisch nicht signifikant waren, beschränken wir uns in diesem Bericht auf die Darstellung der wesentlichen Parameter.
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Registrierung der Studie und Votum der Ethikkommission
Die Studie wurde durch die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München, Klinikum rechts der Isar, begutachtet. Nach dem auflagefreien Votum wurde die Studie im Oktober 2016 begonnen. Sämtliche Befragte gaben nach ausführlicher Aufklärung ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme an der Studie, die beim Deutschen Register Klinischer Studien angemeldet wurde (Registrierungsnummer DRKS00010880).
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Ergebnisse
Von Oktober 2016 bis März 2018 wurden insgesamt 322 Patienten in die Studie eingeschlossen.
Daten bei Studieneinschluss
Die Teilnehmer waren überwiegend weiblich, im Mittel circa 42 Jahre alt und litten zumeist an einer Schizophrenie. Die bisherige Krankheitsdauer lag bei durchschnittlich 13 Jahren und beinhaltete im Mittel 7 stationäre Aufenthalte vor der aktuellen Aufnahme. Die Krankheitsschwere wurde anhand des CGI-S mit „deutlich erkrankt“ beschrieben, das globale Funktionsniveau erreichte im Mittel einen Wert von 37 (von 100) auf der GAF-Skala ([ Tab. 1 ]). Von den Studienteilnehmern wurden 103 Patienten (32 %) entgegen ihrem Willen in die Klinik eingewiesen. Bei 111 Patienten fanden wir mindestens eine dokumentierte Aggressionshandlung über den gesamten stationären Aufenthalt hinweg. Freiheitsentziehende Maßnahmen ließen sich bei 76 Teilnehmern den Krankenakten entnehmen und bei 31 Patienten fand eine medikamentöse Zwangsbehandlung statt. Wie man der Darstellung des zeitlichen Verlaufs in [ Abb. 1 ] entnehmen kann, datieren die meisten Aggressionshandlungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen auf die ersten Tage nach der stationären Aufnahme und somit in die Präinterventionsphase der Studie.
Intervention (n = 161) |
Kontrolle (n = 161) |
p-Wert |
|
---|---|---|---|
Alter in Jahren (Mittelwert, Standardabweichung) |
42,1 (12,9) |
41,4 (13,6) |
0,61 |
Frauen |
84 (52 %) |
76 (47 %) |
0,37 |
Hauptdiagnose |
F20: 99 (61 %) F25: 52 (32 %) Andere F2x-Diagnose: 10 (6 %) |
F20: 115 (71 %) F25: 38 (24 %) Andere F2x-Diagnose: 8 (5 %) |
0,21 |
Unfreiwillige stationäre Aufnahme |
61 (40 %) |
41 (28 %) |
0,03 |
Bestehendes Betreuungsverhältnis |
94 (61 %) |
86 (58 %) |
0,31 |
Dauer der Erkrankung in Jahren (Mittelwert, Standardabweichung) |
12,4 (10,3) |
13,0 (11,3) |
0,62 |
Vorausgegangene stationäre Aufenthalte (Mittelwert, Standardabweichung) |
6,9 (6,7) |
7,6 (7,5) |
0,39 |
CGI (Mittelwert, Standardabweichung) |
5,3 (0,9) |
5,5 (0,8) |
0,04 |
GAF (Mittelwert, Standardabweichung) |
37,7 (13,3) |
36,1 (12,4) |
0,28 |
Krankheitseinsicht (Mittelwert, Standardabweichung) |
7,7 (2,9) |
8,0 (3,1) |
0,45 |
MacArthur Admission Experience (Mittelwert, Standardabweichung) |
2,5 (2,0) |
2,1 (1,9) |
0,13 |


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Primärer Zielparameter
Die Teilnehmer in der Interventionsgruppe fühlte sich in die Entscheidungsprozesse bezüglich der medikamentösen Therapie klinisch und statistisch signifikant (p = 0,002) mehr einbezogen als diejenigen der Kontrollgruppe. Dies konnte durch einen mittleren Unterschied von 16,5 Punkten in der SMD-Q-9-Skala gezeigt werden.
SDMPLUS zeigte keinen nachweisbaren Effekt auf das Auftreten von Aggressionshandlungen oder freiheitsentziehenden Maßnahmen während der Interventionsphase. Auch bei Patienten, die nach der Intervention weiter in der Klinik behandelt wurden, konnte in der Postinterventionsphase kein Effekt gezeigt werden. Ebenso ergab sich kein Hinweis auf einen Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen auf die Latenz bis zum ersten Alleinausgang von Station [28]. Hinsichtlich des primären Studienendpunktes konnten unter dem Aspekt der Aggressionshandlungen fand sich ein marginal signifikanter Unterschied in der SDM-Q-9-Skala bei Patienten, die entgegen ihrem Willen in die Behandlung aufgenommen wurden versus derjenigen, die freiwillig in die Klinik gekommen waren (26,1 vs. 12,4; t-test = 1,988, df = 228, p = 0,048). Diese Subgruppenanalyse legt nahe, dass der Effekt der SDMPLUS-Intervention auf die subjektiv erlebte Einbeziehung in Therapieentscheidungen bei unfreiwilliger Aufnahme messbar bleibt, oder in dieser Gruppe vielleicht sogar stärker ausgeprägt sein könnte.
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Sekundäre Zielparameter
Auch hinsichtlich der Beurteilung des therapeutischen Verhältnisses, der Zufriedenheit mit der Behandlung und der Selbstbeurteilung der Adhärenz mit der gewählten medikamentösen Behandlungsstrategie zeigten die Patienten in der Interventionsgruppe am Beobachtungszeitpunkt T1 (3 Wochen nach Studieneinschluss bzw. zum Zeitpunkt der Entlassung, je nachdem, was zuerst eingetreten war) höhere Werte als diejenigen der Kontrollgruppe, was für alle 3 Parameter ein besseres Ergebnis darstellt[29]. Im Gegensatz hierzu konnten wir keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Dauer des stationären Aufenthaltes, der Krankheitsschwere, dem globalen Funktionsniveau oder den Berichten zu den nicht ausreichend adressierten Bedürfnissen in der Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens am Beobachtungszeitpunkt T1 finden [29].
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Langfristige sekundäre Zielparameter
Während des insgesamt 12-monatigen Nachbeobachtungsintervalls zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der Einschätzung der Adhärenz, der berichteten Lebensqualität und der Anzahl der stationär-psychiatrischen Aufnahmen.
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Diskussion
Bisher haben mehrere Studien untersucht, wie man die partizipative Entscheidungsfindung in der Psychiatrie besser zur Anwendung bringen könnte. Es zeigten sich aber höchstens mäßige Effekte, außerdem wurden nur selten akut Erkrankte oder Patienten, die entgegen ihrem Willen in die stationäre Behandlung gekommen waren in die Studien mit einbezogen [5].
In dieser Studie kam erstmals eine komplexe Intervention zum Einsatz, in der gleichzeitig sowohl Patienten in ihren Bemühungen, an der partizipativen Entscheidungsfindung mitzuwirken als auch komplette Behandlungsteams in der deren Engagement, Erkrankten an Entscheidungsprozessen proaktiv teilhaben zu lassen, unterstützt wurden. Die Untersuchung wurde im akutpsychiatrischen Setting unter Einbeziehung auch gegen ihren Willen aufgenommener Patienten durchgeführt. Durch die komplexe Intervention konnte die von Patienten erlebte Einbeziehung in die Entscheidungsprozesse während eines stationären Aufenthaltes klinisch signifikant gesteigert werden, ebenso verbesserte sich die therapeutische Beziehung zu den Ärzten , die Zufriedenheit mit der Therapie und (selbst eingeschätzte) Adhärenz mit der vereinbarten medikamentösen Behandlungsstrategie. Im anschließenden Nachbeobachtungszeitraum zeigten sich über ein Jahr hinweg jedoch keine Effekte auf Wiederaufnahmeraten, die berichtete Adhärenz oder die Lebensqualität der Teilnehmer. Auch konnten wir keinen Effekt auf das Auftreten von aggressivem Verhalten oder freiheitsentziehenden Maßnahmen während des stationären Aufenthaltes feststellen. Interessanter Weise prädizierte aber das Auftreten von Aggressionshandlungen und/oder freiheitsentziehender Maßnahmen nicht das Ausmaß des Effekts der Intervention, schienen diese also, zumindest in unserer Analyse, nicht zu beeinträchtigen. Auch profitierten Patienten, die unfreiwillig in die Klinik gekommen waren, mindestens im selben Ausmaß von der Intervention wie Patienten, die freiwillig aufgenommen worden waren.
Stärken und Schwächen der Studie
Während des Ablaufs der Studie wurden die Teilnehmer konsekutiv rekrutiert, um einen Selektionsbias zu verhindern. Gleichzeitig konnten sich aber weniger Patienten auf den Interventionsstationen, denen die Studienteilnahme vorgeschlagen wurde, zur Teilnahme entschließen. Dies könnte einen Einfluss auf die Ausgewogenheit des Rekrutierungsprozesses zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe gehabt haben. Entsprechend beobachteten wir beispielsweise eine höhere Rate von unfreiwilligen stationären Aufnahmen in der Interventionsgruppe. Dies sollte jedoch in überschaubarem Ausmaß zum Tragen gekommen sein, da die Ergebnisse der Gruppenunterschiede sowohl im primären als auch in den sekundären Zielparametern unter Berücksichtigung der Baseline-Unterschiede unverändert blieben.
Obwohl wir in wöchentlichen Kontakten mit den Interventionsstationen versuchten, die vermittelten Inhalte zu vertiefen und deren Anwendung in der Therapie der dort behandelten Patienten zu unterstützen, konnten wir das Ausmaß der tatsächlichen Umsetzung letztlich methodisch nicht standardisieren und müssen von einer gewissen Varianz in der Umsetzung der komplexen Intervention rechnen. Das ärztliche Personal konnte im Rahmen der Schulungen vollständig erfasst werden, die Einbindung der anderen Berufsgruppen erreichte in den unterschiedlichen Kliniken jedoch lediglich 10–50 % der potenziell schulbaren Mitarbeiter. Dies kann in multiprofessionell arbeitenden Behandlungsteams ebenfalls einen limitierenden Faktor in der ganzheitlichen Umsetzung der Schulungsinhalte darstellen.
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Diskussion der Ergebnisse
Vorrangiges Ziel des SDMPLUS Ansatzes ist die Unterstützung der tatsächlichen Umsetzungen von partizipativen Entscheidungsprozessen in der Akutpsychiatrie im klinischen Alltag. Gerade diejenigen Patienten, die schwer erkrankt sind, eine geringe oder nicht gegebene Krankheitseinsicht mit in die Behandlung bringen oder sogar entgegen ihrem eigenen Willen stationär aufgenommen worden sind, und große Schwierigkeiten in der Mitgestaltung ihrer eigenen Therapie haben, sollen von dieser komplexen Intervention profitieren können. Denn gerade diesen Patienten wird oft die Teilnahme am gemeinsamen Entscheidungsprozess per se nicht angeboten oder von den Therapeuten nicht zugetraut [11]. Die Studie sollte zeigen, dass die Anwendung von SDMPLUS-Techniken bei genau dieser Patientengruppe ein höheres Maß an erlebter Einbeziehung in Entscheidungsprozesse während eines stationären Aufenthaltes bewirken kann. Man kann nun geteilter Meinung sein, ob die bloße Einbeziehung zu einer tatsächlichen Verbesserung der therapeutischen Behandlungsergebnisse in klinischer oder gar ökonomischer Hinsicht führen kann, dennoch sehen wir 2 klar hervorzuhebende Vorteile unseres Ansatzes:
Generell haben Klienten und Patienten den nachvollziehbaren und gerechtfertigten Anspruch an das Gesundheitssystem, so auch an das psychiatrische Versorgungssystem, ihre Autonomie und ihre Würde bestmöglich während einer Konsultation oder Therapie gewahrt zu sehen [30]. SDMPLUS unterstützt diesen Wunsch. Des Weiteren unterstreichen unsere Studienergebnisse, dass Patienten trotz schwerer psychischer Erkrankung an einer partizipativen Entscheidungsfindung teilhaben können. Weder aktuelle Symptome noch Krankheitseinsicht des Patienten sollten Therapeuten davon abhalten, die Autonomie der Behandelten in Entscheidungsprozessen maximal zu wahren. Die Forschungsergebnisse von Kollegen [31], die im Einklang mit unseren aktuellen Erkenntnissen stehen, zeigen, dass dies trotz aller Vorbehalte der Therapeuten möglich ist. Abgesehen davon besteht selbstredend und allgemein anerkannt die ethische Verpflichtung, die Patientenautonomie und die Bedürfnisse der Erkrankten zu respektieren und deren Erfüllung zu unterstützen.
Unsere Studie konnte darüber hinaus zeigen, dass die Zufriedenheit mit der stationären Behandlung, das therapeutische Verhältnis und die erlebte Adhärenz mit der medikamentösen Therapiestrategie durch SDMPLUS positiv beeinflusst werden können. Dies fügt sich in den Kontext von beschriebenen Beobachtungen von Giacco und Kollegen ein, die durch intensivierte individuelle Behandlungsplanung bei unfreiwillig stationär Behandelten eine Verbesserung mehrerer weiterer Therapieziele abseits der Einbeziehung in Entscheidungsprozesse erreichen konnten [32]. In dieser Interventionsstudie waren die erzielten Effekte sogar über den Entlassungszeitpunkt hinaus weiter nachweisbar, was in unserer aktuellen Studie bedauernswerter Weise nicht gezeigt werden konnte. Möglicherweise wäre ein nachhaltigerer Effekt zu erzielen gewesen, hätte man die Therapeuten, die sich um die Fortführung der Behandlung Patienten nach der Entlassung gekümmert haben, ebenso in der SDMPLUS-Intervention geschult, und letztlich auch die Schulungsangebote für die Patienten, beispielsweise über elektronische Formate, fortgeführt.
Hinsichtlich des Auftretens von Aggressionshandlungen oder freiheitsentziehenden Maßnahmen konnte durch unsere Intervention kein Effekt nachgewiesen werden. Wir können jedoch nicht ausschließen, dass dies vor allem auch methodische Gründe hat. Die meisten derartigen Handlungen oder Maßnahmen fanden direkt nach Aufnahme, also in der Präinterventionsphase statt. Eventuell setzte also die Intervention im zeitlichen Verlauf des stationären Aufenthaltes zu spät ein, um einen Effekt auf die Vorkommnisse haben zu können. Während der Interventionsphase und in der Postinterventionsphase war die Inzidenz dieser Vorkommnisse per se sowohl in der Kontroll- als auch in der Interventionsgruppe sehr gering, was den Nachweis eines möglicherweise existierenden Effekts methodisch erschwert („floor effect“). Darüber hinaus war von Interesse, ob sozusagen in einem Umkehrschluss solche Vorkommnisse den Effekt der Intervention minimieren oder komplett aufheben. Diese Annahme wird durch Aussagen von Patienten, dass das Erleben von „Ohnmacht“ und „Ausgeliefersein“ (z. B. im Rahmen einer mechanischen Beschränkung oder Zwangsbehandlung) zu einer geringeren Beteiligung in Entscheidungsprozessen führt [23], oder die Ausübung von Zwang generell die therapeutische Allianz stört [24], untermauert. Diesen Effekt konnten wir in unsere Studie nicht erkennen. Somit kann man daraus den Schluss ziehen, dass es für eine gemeinsame Entscheidungsfindung quasi „nie zu spät“ ist.
Der Einsatz der komplexen Intervention SDMPLUS zeigt, dass die Teilhabe an Entscheidungsprozessen auch schwer psychisch Erkrankten, die auf geschützten Stationen und möglicherweise entgegen ihrem Willen behandelt werden, möglich ist. Die Adaptation bestehender Modelle, beispielsweise der motivierenden Gesprächsführung und deeskalierender Interaktionstechniken, konnte den bisher konzipierten, klassischen Shared-Decision-Making(SDM)-Ansatz erweitern und die Anpassung auf die Bedürfnisse dieser Patientengruppe weiter optimieren helfen. Gepaart mit fortlaufenden unterstützenden Schulungen der Patienten in der aktiven Teilnahme an Entscheidungsprozessen entsteht erstmals eine mehrdimensionale Empowerment-Strategie, die tatsächlich das Ausmaß der empfundenen Einbeziehung in Entscheidungsprozesse, die Zufriedenheit mit der Behandlung, das therapeutische Verhältnis und die Adhärenz gegenüber der vereinbarten medikamentösen Behandlungsstrategie verbessern kann. Diese positiven Effekte scheinen jedoch nach Verlassen der Klinik nicht weiter messbar fortzubestehen. Daher wäre eine behandlungssektorübergreifende Strategie in künftigen Studien hinsichtlich einer nachhaltigeren Verbesserung empfehlenswert.
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Beratende Ethikkommission und Studienregistrierung
Die Studie wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München beurteilt, alle Patienten gaben ihr schriftliches Einverständnis zur Studienteilnahme. Die Studie ist im Deutschen Register Klinischer Studien aufgeführt (DRKS00010880).
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Interessenkonflikt
Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: ja; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: ja; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein.
Erklärung zu nicht finanziellen Interessen
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Beitinger R, Kissling W, Hamann J. Trends and perspectives of shared decision-making in schizophrenia and related disorders. Current opinion in psychiatry 2014; 27 (03) 222-9
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Article published online:
02 June 2021
© 2021. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
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