Psychiatr Prax 2021; 48(08): 395-396
DOI: 10.1055/a-1402-6344
Debatte: Pro & Kontra

Die Konzeption von Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin wird zum Hindernis für die Weiterentwicklung – Pro

The Concept of Psychiatry as a Medical Speciality Becomes an Obstacle for its Future Advancement – Pro
Tilman Steinert
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau), ZfP Südwürttemberg
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Seit hunderten von Jahren werden Menschen mit psychischen Erkrankungen versorgt. Dies erfolgte zunächst ausschließlich in Asylen verschiedenster Art unter dem Regime von Geistlichen oder in Zucht- und Arbeitshäusern. Daran änderte sich etwas, als ungefähr zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ärzte in Mittel- und Westeuropa begannen, die Kompetenz für die Diagnose und Behandlung dieser Erkrankungen zu beanspruchen.

Der Begriff der ‚Psychiaterie‘ wurde 1808 durch Johann Christian Reil in Halle eingeführt [1]. In ihm steckt Iatros, der Arzt, Psychiatrie ist demnach die ärztliche Heilkunde von den psychischen Erkrankungen. Europaweit entstanden Heilanstalten, in den folgenden Jahrzehnten wurden zunehmend psychiatrische Lehrstühle an Universitäten eingerichtet und mit Ärzten besetzt. Asyle bestanden allerdings fort, sie hießen nun Pflegeanstalten. Versorgungsformen außerhalb der Anstalten entstanden dagegen, von Ausnahmen abgesehen, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ebenfalls unter ärztlicher Leitung. Im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie erfolgt heute eine ärztliche Weiterbildung wie in den anderen medizinischen Fachgebieten auch, psychiatrische Kliniken sind in ärztlicher Letztverantwortung geleitete Krankenhäuser. Gutachterliche Fragen werden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von Ärzten beantwortet und die wichtigste Fachgesellschaft, die DGPPN, ist trotz zunehmender Öffnung in den letzten Jahren eine ärztliche Gesellschaft. 220 Jahre Psychiatrie nach dem „medizinischen Modell“ haben trotz einiger Verirrungen zu großen Fortschritten im Verständnis und der Behandlung psychischer Erkrankungen geführt. An erster Stelle steht dabei vermutlich auch noch aus heutiger Sicht die Entwicklung teilweise sehr gut, teilweise immerhin mittelmäßig wirksamer Psychopharmaka, über deren Wirksamkeit und Nebenwirkungen es inzwischen sehr umfassende Evidenz gibt.

Weitere ganz wesentliche Kernmerkmale einer modernen Psychiatrie betreffen die Entwicklung gut wirksamer evidenzbasierter psychotherapeutischer Verfahren, ebenso zunehmend evidenzbasierter psychosozialer Interventionen und lebensumfeldnaher (üblicherweise gemeindenah genannter) Hilfsangebote sowie eine anhaltende diskursive Integration von Aspekten der Ethik und Menschenwürde, die in vielen Bereichen als vorbildlich gelten kann. Die letztgenannten prägenden Bestandteile jenseits der Psychopharmakologie wurden allerdings weniger aus dem medizinischen Modell heraus entwickelt als nachträglich in dieses integriert. Wesentliche Treiber waren in den Jahren nach der Enquete 1975 engagierte Ärzte, häufig Leiter psychiatrischer Kliniken. Wichtige Anstöße kamen allerdings auch aus der Psychologie (für die Psychotherapie) und anderen Berufsgruppen und Einrichtungen, die gerne etwas geringschätzig „komplementär“ genannt werden, die sich aber gerade im Bereich der Eingliederungshilfe, sozialrechtlich ohne ärztliche Leitung, in den letzten zwei Jahrzehnten dynamisch weiterentwickelt haben. Was dort stattfindet, ist zweifellos psychiatrische Versorgung, aber es ist nicht ärztliche Krankenbehandlung. Demgegenüber scheint die klinische Psychiatrie, auch wenn wir dies ungern einräumen, gegenüber anderen medizinischen Fachgebieten eher im Rückstand zu sein. Manche Psychiater bezeichnen sich noch immer gerne als „klinische Neurowissenschaftler“, es gab eine „decade of the brain“ und von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms waren große Durchbrüche für das Verständnis psychischer Erkrankungen erwartet worden. Tatsächlich ist die direkte Verbindung vom Labor zur Klinik mit dem Ergebnis einer individualisierten Therapie in der Onkologie zunehmend eindrucksvoll realisiert, in der Psychiatrie jedoch noch immer eine Fiktion. Erkenntnisse und Verfahren aus der Grundlagenforschung haben auch heute noch, allen Ankündigungen der letzten drei Jahrzehnte zum Trotz, keinen Eingang in die Routineversorgung gefunden. Noch nicht (weil Psychiatrie einfach besonders kompliziert ist), oder vielleicht weil doch einige Grundannahmen nicht zutreffend waren und Psychiatrie doch anders ist als Onkologie? Ein „klinischer Neurowissenschaftler“ macht in einer psychiatrischen Klinik keine besonders gute Figur, weil er für Patienten wenig zu bieten hat und was er an Wirksamem zu bieten hat (sei es stationsäquivalente Behandlung oder spezifische Traumatherapie), stammt nicht aus seiner Werkstatt. Diese „Translationskrise“ ist nicht die einzige der gegenwärtigen Psychiatrie. Eine weitere ist die Finanzierungskrise. Die „Gleichstellung der Psychiatrie mit der somatischen Medizin“ war eine der wichtigsten Forderungen der Psychiatrie-Enquete. Darum ist es auffällig still geworden. Wollen wir das noch? Das hieße DRGs für die Psychiatrie und genau das wollten alle Fachgesellschaften mit guten Gründen vermeiden. Die Engführung auf „Medizin“ mit weitgehender Ignoranz der Komplexität psychiatrischer Behandlung kennt jeder Kliniker aus den Auseinandersetzungen mit dem Medizinischen Dienst, wenn die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit daran festgemacht wird, ob der Arzt eine Dosierung oder ein Medikament geändert hat, was sich dann in Arztbriefen widerspiegelt, in welchen zu lesen ist, dass der Patient „unter“ A, B und C keine Besserung zeigte, während es dann „unter“ der Kombination von C plus D schließlich zur Remission kam. Wir reden gerne von Rezidiven, aber viele Verläufe entsprechen überhaupt nicht dem onkologischen Modell von Remission und Rezidiv. Die Finanzierung in einem kostenrechtlich fragmentierten Gesundheitssystem erfolgt aber nach dieser Logik, nicht nachhaltig, sondern mit der Folge einer neuen Drehtürpsychiatrie. Zielführende Weiterentwicklungen wie Regionalbudgets und sektorübergreifende Versorgung folgen überwiegend anderen Überlegungen als in der übrigen Medizin und sprengen deren Rahmen [2]. Statt „Gleichstellung mit der somatischen Medizin“ lautet das Credo der psychiatrischen Versorgung heute eher „wir sind anders“.

Die dritte große Krise des medizinischen Modells ist zweifellos die Nachwuchskrise, und dies weltweit [3]. Anders als in der Zeit der großen Reformen gelingt es dem Fachgebiet offenbar heute deutlich weniger, kluge und kreative Köpfe anzuziehen und auch nur rein numerisch genügend Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie zu generieren. Der Mangel an klugen Köpfen mit Reflexions- und Gestaltungswillen ist allerdings nicht universell. Wir sehen viele engagierte und gut ausgebildete Psychologinnen und Psychologen an unseren Kliniken, die sich freilich mangels Aufstiegsmöglichkeiten in Leitungspositionen meistens in die Niederlassung verabschieden. Möglicherweise werden junge Menschen, die ein grundsätzliches Interesse für die Behandlung psychischer Erkrankungen mitbringen, sich künftig weit eher dem Direktstudiengang Psychotherapie als der Medizin zuwenden. Die „klinische Neurowissenschaft“ ist offenbar weder in der Patientenversorgung noch als Rollenvorbild besonders attraktiv.

Was folgt daraus? Erstens: Die Psychiatrie scheint derzeit in einem Neuorientierungsprozess zu sein, dessen Überschrift statt „der Mensch und sein Gehirn“ eher „der Mensch in seiner Umwelt“ lauten könnte. In einem solchen vielleicht am ehesten „ökologisch“ zu nennenden Ansatz [4] haben neurobiologische, psychotherapeutische und lebensumfeldbezogene Erklärungen und Therapieansätze gleichberechtigt (und nicht hierarchisch) Platz. Wenn das sich so entwickelt, steht auch die Hierarchie von Berufsgruppen zur Disposition. In einem solchen Fachgebiet gibt es Spezialisten für somatische Diagnostik und Therapie (Ärztinnen und Ärzte), psychotherapeutische Interventionen (verschiedene Berufsgruppen, je nach Ausbildung und Qualifikation), lebensumfeldbezogene Maßnahmen (Ergotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen) und evidenzbasierte Spezialangebote wie Sport, Biofeedback oder Musiktherapie. Ein solches im besten Sinne interdisziplinäres Betätigungsfeld könnte hoch attraktiv sein und vielen Berufsgruppen interessante Karrierewege eröffnen. Die Folge wird freilich sein, dass zunehmend infrage gestellt wird, ob die Leitung klinischer Einrichtungen unbedingt Ärztinnen und Ärzten obliegen muss und ob Psychiatrie als medizinische Disziplin zwar weiter besteht, aber nur ein Teilaspekt der Sorge für die psychische Gesundheit und der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist.


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Autorinnen/Autoren

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Tilman Steinert

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Marneros A, Pillmann F. Das Wort Psychiatrie … wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Stuttgart: Schattauer; 2005
  • 2 Schmid P, Steinert T, Borbé R. Systematische Literaturübersicht zur Implementierung der sektorübergreifenden Versorgung (Regionalbudget, integrierte Versorgung) in Deutschland. Psychiat Prax 2013; 40: 414-424
  • 3 Bhugra D, Sartorius N. Die Zukunft der Psychiatrie und des Psychiaters. Psychiat Prax 2015; 42: 413-414
  • 4 Steinert T. Psychiatry shifting to a new paradigm. Indian J Med Res 2020; 152: 329-331

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Tilman Steinert
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau), ZfP Südwürttemberg
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
05 November 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Marneros A, Pillmann F. Das Wort Psychiatrie … wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Stuttgart: Schattauer; 2005
  • 2 Schmid P, Steinert T, Borbé R. Systematische Literaturübersicht zur Implementierung der sektorübergreifenden Versorgung (Regionalbudget, integrierte Versorgung) in Deutschland. Psychiat Prax 2013; 40: 414-424
  • 3 Bhugra D, Sartorius N. Die Zukunft der Psychiatrie und des Psychiaters. Psychiat Prax 2015; 42: 413-414
  • 4 Steinert T. Psychiatry shifting to a new paradigm. Indian J Med Res 2020; 152: 329-331

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