Psychiatr Prax 2021; 48(08): 397-398
DOI: 10.1055/a-1402-6447
Debatte: Pro & Kontra

Die Konzeption von Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin wird zum Hindernis für die Weiterentwicklung – Kontra

The Concept of Psychiatry as a Medical Speciality Becomes an Obstacle for its Future Advancement – Contra
Thomas Pollmächer
Zentrum für psychische Gesundheit, Klinikum Ingolstadt
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    Im Kanon der medizinischen Fächer hat es die Psychiatrie immer schon ein wenig schwer gehabt. Welcher Konsiliarius kennt nicht die freundlich verwunderte Begrüßung der Stationsschwester: „Sind Sie der Psychologe? Gut, dass Sie da sind, die Galle auf Zimmer 17 ist sowas von komisch!“ Und der ärztliche Kollege, dem man nach der Untersuchung „der Galle“ erklärt, was eine Somatisierungsstörung ist, spürt sofort, dass sich das Tor zu einer fremden Welt öffnet. „Verstehe …“, sagt er, „psychogen. Aber Sie nehmen ihn schon gleich mit!?“

    Zählt man diejenigen Kollegen mit, die den Zusatztitel Psychotherapie führen, dann gibt es etwa 28 000 ärztliche Spezialisten für psychische Gesundheit, aber der überwiegende Teil der 400 000 Mediziner sieht doch die Diagnostik und Behandlung psychiatrischer Patienten am anderen Ufer des Flusses, ohne „Landverbindung“ zur somatischen Medizin. Die zunehmende Technisierung hat in den vergangenen 3 Jahrzehnten diese scheinbare Kluft zwischen Somatik und Psychiatrie weiter vertieft, auch deshalb, weil Neuroimaging und -genetik zwar beeindruckende Ergebnisse erzielt und die pathogenetische Komplexität psychiatrischer Erkrankungen dokumentiert haben, aber neurobiologisch getriggerte Fortschritte der Behandlung bisher weitgehend ausgeblieben sind. Dies steht in deutlichem Kontrast zu anderen Fachgebieten, wie z. B. der Onkologie oder auch der Neurologie, wo in immer rascherer Folge neue „präzisionsmedizinische“ Ansätze auf molekulargenetischer Basis die klinische Praxis erreichen. Behandlungsfortschritte in den letzten Dekaden haben sich in der Psychiatrie hingegen im Wesentlichen im psychotherapeutischen und psychosozialen Bereich entwickelt; sie waren selten durch medizinisch-naturwissenschaftliche Konzepte inspiriert.

    Wird es also Zeit für einen Paradigmenwechsel? Behindert die Konzeption von Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin ihre Weiterentwicklung? Wäre den Menschen mit psychischen Erkrankungen besser damit gedient und würde es den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu diesen Erkrankungen befördern, wenn man die Psychiatrie konzeptionell und strukturell aus der Medizin herauslösen würde?

    Nein, definitiv nicht. Im Gegenteil, klinische und wissenschaftliche Rückschritte in der gesamten Medizin wären die Folge, und zwar aus mindestens drei gewichtigen Gründen:

    1. Die konzeptuelle Trennung psychischer von somatischen Erkrankungen ist genauso wenig überzeugend wie der kartesische Dualismus von Leib und Seele. Messbare Körperfunktionen, Denken, Fühlen und Verhalten sind so eng miteinander verknüpft, dass Krankheit immer ein ganzheitliches Geschehen ist. Es gibt zwar gute praktische Gründe dafür, dass Chirurgen Patienten operieren, Onkologen ausgeklügelte Chemotherapien verabreichen und Psychiater multimodale Therapiekonzepte zur Behandlung von Depressionen anwenden. Und in diesem Sinne überzeugt es auch, von „chirurgischen“, „internistischen“ und „psychischen“ Erkrankungen zu sprechen. Aber dafür, letztere als seelische Erkrankungen konzeptuell von körperlichen Krankheiten abzugrenzen und aus der Medizin auszugliedern, gibt es weder naturwissenschaftliche noch soziologische oder philosophische Evidenz. Auch der langsame Fortschritt naturwissenschaftlicher Forschung im Bereich der Psychiatrie beweist nicht, dass es sich um rein psychosoziale Erkrankungen handelt, genauso wenig wie die rasanten Fortschritte der Tumortherapie dazu berechtigen würden, eine Krebserkrankung als ausschließlich biologisches Phänomen zu betrachten. Alle Patienten haben ein Recht auf ganzheitliche Medizin, selbst wenn sie „nur“ psychiatrisch erkrankt sind.

    2. Ebenso wie Menschen mit psychischen Erkrankungen Schaden nähmen, wenn deren Erforschung und Behandlung vom Rest der Medizin getrennt betrachtet würden, so würde Medizin ohne Psychiatrie auch alle anderen Patienten nicht gerecht. Zwar mag nichtärztliche Psychotherapie Medizin von außen bereichern. Not tut aber weiterhin und womöglich in Zukunft noch mehr ein starker Bereich innerhalb der Medizin, der psychosoziale Aspekte interdisziplinär in Forschung, Lehre und Krankenversorgung einbringt. Die ohnehin schon deutlichen Tendenzen der „Körpermedizin“, alles „Seelische“ zu externalisieren, würden zum Schaden der Patienten weiter zunehmen.

    3. Medizin ist die Wissenschaft von der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Erkrankungen. Eine Loslösung der Psychiatrie aus der Medizin, auch wenn sie nur teilweise erfolgen würde, zum Beispiel durch eine Beschränkung der „medizinischen“ Psychiatrie auf neuropsychiatrische Erkrankungen mit fassbaren (neuro-)biologischen Korrelaten, hätte erhebliche negative Folgen für die Mehrzahl der Betroffenen. Es stünde nämlich entweder ihr gesellschaftlich und sozialrechtlich ausgesprochen bedeutsamer Status als kranke Menschen grundsätzlich zur Disposition, mit allen negativen Folgen, oder aber es müsste verbindlich definiert werden, welche Krankheiten denn „nichtmedizinischen“ Charakter haben und wer für Vorsorge, Erkennung und Behandlung dieser Erkrankungen (und damit auch für Forschung, Lehre und Weiterbildung der zuständigen Heilkundigen) zuständig sein soll, wenn nicht die Medizin. Bereit stehen hierfür zwar nichtärztliche Psychotherapeuten, deren berufspolitischen Vertretung, die Bundespsychotherapeutenkammer, tatsächlich immer vehementer den Eindruck erweckt, psychische Gesundheit bedürfe nicht der Medizin. Aber spätestens dann, wenn der richtlinienpsychotherapeutische Stundentakt an der mangelnden Konzentrationsfähigkeit oder der Adhärenz der Patienten scheitert, scheitert auch der Versuch kläglich, eine einzelne Behandlungsmethode zum umfassenden heilkundlichen Konzept zu erklären. So wichtig Psychotherapie für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist, so kann sie doch immer nur Teil eines ganzheitlichen medizinischen Gesamtbehandlungsplans der Diagnostik und Therapie sein.

    Es sollte klar geworden sein, dass es zur Konzeption der Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin keine überzeugende Alternative gibt. In der Tat wird es aber notwendig sein, Zielrichtung und Konzepte der biologischen Forschung zu überdenken und sie zu intensivieren, und zwar gleichberechtigt und interaktiv mit psychosozialen und psychotherapeutischen Ansätzen. Dabei wird wahrscheinlich eine Binnendifferenzierung in Teilgebiete notwendig sein, die Psychiatrie als eines der großen medizinischen Fächer sowohl für vorwiegend naturwissenschaftlich orientierte Forscher interessant macht als auch für junge Menschen, die vor allem daran interessiert sind, psychotherapeutisch tätig zu sein.


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    Autorinnen/Autoren

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    Thomas Pollmächer

    Interessenkonflikt

    Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) 2021/22.


    Korrespondenzadresse

    Prof. Dr. Thomas Pollmächer
    Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit, Klinikum Ingolstadt
    Krumenauerstraße 25
    85049 Ingolstadt
    Deutschland   

    Publication History

    Article published online:
    05 November 2021

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