Schlüsselwörter
MIS-A - SARS-CoV-2 - Fieber - Immunglobulin-Therapie - Hydrokortison
Key Words
MIS-A - SARS-CoV-2 - fever - immunoglobulin therapy - hydrocortisone
Einleitung
Seit der ersten Krankheitswelle der SARS-CoV-2-Pandemie in Europa im April 2020 wurden Fälle eines neuen hyperinflammatorischen Krankheitsbildes mit Schocksymptomatik und Beteiligung verschiedener Organsysteme bei Kindern beobachtet. Diese Symptomatik trat typischerweise 2–4 Wochen nach symptomatischer oder asymptomatischer SARS-CoV-2-Infektion auf. Initial wurde häufig der Verdacht auf ein Kawasaki- oder toxisches Schocksyndrom gestellt, bis der Symptomkomplex schließlich als eigene Entität im zeitlichen Kontext einer SARS-CoV-2-Infektion als „Multisystem Inflammatory Syndrome in Children“ (MIS-C) oder „Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome“ (PIMS) zusammengefasst wurde [1]
[2].
Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) schloss als Diagnosekriterien folgende Charakteristiken des MIS-C ein: Fieber > 48 h, erhöhte Inflammationsparameter, Fehlen einer anderen Ursache sowie 2 der folgenden Symptome: Exanthem/Konjunktivitis, Hypotension/Schock, kardiale Beteiligung, Koagulopathie, gastrointestinale Symptomatik, hämatologische Auffälligkeiten. Bisher wurden im Register der DGPI 40 MIS-C-Fälle in Deutschland bestätigt (https://dgpi.de/pims-survey-anleitung/). Bis Januar 2021 waren keine Fälle des „Multisystem Inflammatory Syndrome in Adults“ (MIS-A) in Deutschland bekannt [3].
In einer internationalen Fallserie wurden jedoch 16 Fälle von MIS-A aus Großbritannien und den USA veröffentlicht. Bei diesen Fällen, die von März bis August 2020 beobachtet wurden, bestanden kaum oder keine pulmonalen Symptome. Stattdessen wurden gastrointestinale, hepatische, renale und neurologische Beteiligungen beobachtet.
Obwohl die genaue Pathophysiologie bisher nicht geklärt ist, werden eine inadäquate Immunantwort auf eine SARS-CoV-2-Infektion, endotheliale Dysfunktion, Thromboinflammation und Beteiligung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems vermutet [4]. Ein systematischer Review von 662 pädiatrischen Patienten zeigte eine Mortalität von 1,7 % bei MIS-C [2].
Kasuistik #1
Anamnese
Es stellte sich ein bislang gesunder, 27-jähriger Patient mit Fieber bis 40 °C, Erbrechen, Diarrhö, Peritonismus, Kopf- und Gliederschmerzen vor.
Klinische Untersuchung
Bei Aufnahme bestand Fieber (38,1 °C) sowie ein gespanntes Abdomen mit Druckschmerzhaftigkeit im rechten Unterbauch. Im weiteren Verlauf zeigten sich eine beidseitige Konjunktivitis sowie Arthralgien der großen Gelenke mit wechselnder Lokalisation.
Befunde
Laborchemisch fielen ein deutlich erhöhtes CRP (max. 51 mg/dl; Normwert: < 0,5 mg/dl) und Procalcitonin (max. 22 ng/ml; Normwert: < 0,4 ng/ml), eine Thrombozytopenie (118/nl), eine milde Anämie (13 g/dl), Lymphozytopenie (6 %, normal: 20–55 %), Granulozytose (89 %, normal: 37–75 %) und erhöhte Transaminasen auf. Serielle PCR-Tests auf SARS-CoV-2 waren negativ, ein SARS-CoV-2-Antikörpertest war positiv (beide Roche Diagnostics, Mannheim).
Auch Blutkulturen blieben ohne Erregernachweis. Im CT-Abdomen zeigten sich eine Ileitis terminalis und eine rechtsseitige Kolitis. Bei einem Nt-proBNP von 9765 ng/l (Normwert < 98 ng/l) zeigte die transthorakale Echokardiografie einen schmalen Perikarderguss ohne hämodynamische Relevanz bei erhaltener LVEF ohne Hinweis auf erhöhten pulmonalarteriellen Druck. Ein Quantiferon- und HIV-Test waren negativ. Die Stuhl-infektiologische Diagnostik war ebenfalls unauffällig, das Calprotectin war trotz der Durchfälle normwertig. Immunologisch waren das IFN-γ mit 253 pg/ml (normal: 322–10 000 pg/ml) sowie das C3- und C4-Komplement leicht erniedrigt (C3 750 mg/l; normal: 900–1800 mg/l und C4 80 mg/l; normal: 100–400 mg/l). ANA, pANCA, cANCA, Rheumafaktor und Anti-DS-DNA-Antikörper waren nicht nachweisbar.
Therapie und Verlauf
Bei initialem Verdacht auf einen schweren Morbus Crohn erfolgte die Einleitung einer oralen Prednisolon-Therapie und einer kalkulierten antibiotischen Therapie (Ceftriaxon und Metronidazol). Der Patient wurde dann in unsere Klinik als Tertiärzentrum für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen weiter verlegt. Nach der Verlegung verschlechterte sich sein klinischer Zustand innerhalb 24 Stunden rasch. Die abdominellen Schmerzen exazerbierten und es entwickelte sich ein Subileus. Zudem kam es zu fast unerträglichen Gelenkschmerzen an beiden Knien, im linken Ellbogen und in der Schulter. Bei einer nach 2 Tagen auftretenden Somnolenz und Hypotonie (systolischer RR < 90 mmHg) erfolgte die Verlegung auf unsere Intensivstation. Bei einem weiteren Blutdruckabfall musste eine Katecholamin-Therapie begonnen werden. Es zeigten sich sonografisch beidseitige Pleuraergüsse, ein schmaler Perikarderguss und Aszites. Die Differenzialdiagnose eines M. Crohn wurde bei normwertigem Calprotectin, dem völlig atypischen klinischen Verlauf und einer normalen Koloskopie verworfen. Auch histologisch zeigte sich eine architekturell regelhafte, tumor- und entzündungsfreie enterale Schleimhaut.
Im Rahmen der vermuteten Sepsis und der fehlenden Verbesserung des Verlaufs durch die i. v.-Steroide hatten wir nach der Verlegung des Patienten auf unsere Intensivstation mit einer kontinuierlichen Hydrokortison-Therapie begonnen (200 mg/24 h). Nach 5 Tagen verbesserte sich der klinische Zustand des Patienten, die Katecholamine konnten ausgeschlichen werden und die Bauch- und Gliederschmerzen des Patienten waren regredient.
Die Diagnose des MIS-A wurde von uns an Tag 5 gestellt. Da sich der klinische Zustand des Patienten bereits signifikant verbessert hatte und die Entzündungswerte rückläufig waren, verzichteten wir auf eine Immunglobulin-Therapie. Wir begannen eine prophylaktische Thrombozytenaggregationshemmung mit 100 mg ASS. Der Patient konnte an Tag 15 beschwerdefrei aus der Klinik entlassen werden.
Kasuistik #2
Anamnese
Es stellte sich eine 21-jährige Patientin in deutlich reduziertem Allgemeinzustand mit okzipital betonten Kopf- und Nackenschmerzen, Fieber bis 40 °C, Bauchschmerzen und Diarrhö in einer Berliner Rettungsstelle vor. Die Patientin hatte keine Vorerkrankungen.
Klinische Untersuchung
Bei Aufnahme bestanden eine Somnolenz, Fieber von 38,9 °C, Nackensteifigkeit, diffuser abdomineller Druckschmerz sowie ein stammbetontes Exanthem.
Befunde
Laborchemisch zeigten sich deutlich erhöhte Entzündungsparameter (CRP 16,4 mg/dl; Normwert: < 0,5 mg/dl, PCT 7,5 ng/ml; Normwert: < 0,4 ng/ml). Auch bei ihr waren serielle PCR-Tests auf SARS-CoV-2 negativ und ein SARS-CoV-2-Antikörpertest positiv (beide Roche Diagnostics, Mannheim). In der kranialen CT ergab sich kein Hinweis auf erhöhten Hirndruck, eine Blutung oder eine Ischämie. Mittels Lumbalpunktion konnte eine Meningitis ausgeschlossen werden. Eine Thorax-CT, eine abdominelle Sonografie und die Urindiagnostik waren ohne pathologischen Befund. Auch diese Patientin hatte mit 2376 ng/l ein erhöhtes Nt-proBNP. Die transthorakale Echokardiografie zeigte eine leichtgradig reduzierte LVEF von 50 % bei normalem sPAP (23 mmHg) ohne Verdacht auf eine Endokarditis. Interessanterweise waren der TNF-α-Spiegel mit 7 pg/ml (normal: 40–1717 pg/ml), IFN-γ mit 38 pg/ml (normal: 322–10 000 pg/ml) und Interleukin-2 mit 1 pg/ml (normal: 27–467 pg/ml) im Serum deutlich erniedrigt.
Therapie und Verlauf
Nach Meningitisausschluss und Einleitung einer Breitbandantibiose wurde die Patientin in unsere Klinik verlegt, 3 Tage nach der Aufnahme von Fall #1. Innerhalb von 24 Stunden entwickelten sich ebenfalls rasch eine Hypotension (systolischer Blutdruck < 80 mmHg) und Somnolenz. Es erfolgte eine Übernahme der Patientin auf unsere Intensivstation. Aufgrund der Parallelität der Fälle konnten wir jetzt rasch bei erfüllten Diagnosekriterien ein MIS-C/MIS-A diagnostizieren und leiteten umgehend eine Therapie mit Hydrokortison, ASS und hochdosierten Immunglobulinen (2 g/kg KG über 12 Stunden) ein. Unter diesen Maßnahmen stabilisierte sich der Zustand innerhalb von 24 Stunden. Katecholamine waren nicht notwendig und die Patientin klarte rasch auf. Die LVEF normalisierte sich im Verlauf, Exanthem, Kopfschmerzen und abdominelle Symptomatik waren an Tag 3 nach Therapiebeginn verschwunden. Die Patientin konnte nach 17 Tagen beschwerdefrei aus der Klinik entlassen werden.
Diskussion
Während MIS-C mittlerweile bei hunderten Kindern weltweit beschrieben wurde, sind Fälle von MIS-A in Deutschland bisher unbekannt [5]
[6]
[7]. Die hier beschriebenen Fälle zeigen jedoch, dass auch bei Erwachsenen, die sich mit Fieber, erhöhten Entzündungswerten ohne Infektfokus sowie Erkrankungen verschiedener Organsysteme vorstellen, ein zeitlicher Zusammenhang mit einer möglicherweise asymptomatischen SARS-CoV-2-Infektion in Betracht gezogen werden muss. Es ist mit einer Zunahme solcher Fälle auch bei Erwachsenen zu rechnen. Ein nationales Register, das auf das bestehende PIMS-Register aufbaut, ist daher in Planung [3].
Die klinische Präsentation des MIS-A ist äußerst heterogen. Während sich in unserem ersten Fall initial das klinische Bild eines Morbus Crohn zeigte, bestand beim zweiten Fall zunächst ein begründeter Meningitisverdacht. Ein dritter junger MIS-A-Patient, den wir nach Fertigstellung dieser Fallberichte behandelten, präsentierte sich mit einer fulminanten Myokarditis und einer Ejektionsfraktion < 20 %, passend zur einer Fallserie von Hékimian et al., die 11 MIS-C-Patienten mit ausgeprägter kardialer Symptomatik vorstellte [8].
Trotz der erheblichen Unterschiede in der klinischen Präsentation sahen wir auch entscheidende Gemeinsamkeiten, die eine Diagnosestellung ermöglichten. Bei beiden Fällen zeigten sich ein mehr als 5 Tage anhaltendes Fieber, eine ausgeprägte Hypotonie, massiv erhöhte Entzündungsparameter ohne Fokusnachweis, ein erhöhter Nt-proBNP sowie Bauchschmerzen ([Tab. 1]).
Tab. 1
Vergleich der PIMS-Kriterien nach DGPI mit Fallpräsentationen.
PIMS-Kriterium nach DGPI
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Fall #1
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Fall #2
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Fieber > 48 h (obligat)
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ja
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ja
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erhöhte Inflammationsparameter (obligat)
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ja
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ja
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SARS-CoV-2-Exposition (vermutet)
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Antikörper-positiv
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Antikörper-positiv
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Exanthem/Konjunktivitis
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Konjunktivitis
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Exanthem
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kardiale Beteiligung
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NtproBNP erhöht, Perikarderguss
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NtproBNP erhöht, reduzierte LVED
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Hypotension/Schock
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Katecholamin-pflichtig
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Hypotonie syst. bis 80 mmHg
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Koagulopathie
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nein
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nein
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gastrointestinale Symptomatik
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Ileitis terminalis im CT, Peritonismus, Diarrhö
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Diarrhö, Bauchschmerzen
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hämatologische Auffälligkeiten
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Thrombozytopenie, Anämie, Lymphopenie, Granulozytose
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Anämie, Lymphopenie, Granulozytose
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bisher kein PIMS-Kriterium
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Arthralgien,
Somnolenz
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starke Zephalgien, Somnolenz
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Nach Diagnosestellung muss eine Therapie mit Steroiden, Immunglobulinen und – aufgrund möglicher koronararterieller Beteiligung – eine ASS-Prophylaxe evaluiert werden. Diese Therapie entspricht im Wesentlichen den Therapieempfehlungen beim Kawasaki-Syndrom bei Kindern. Bei kardialer Beteiligung mit signifikant reduzierter LVEF muss neben einer Herzinsuffizienztherapie in Einzelfällen auch eine Antikoagulation durchgeführt werden [9]. In einigen Fällen mit schwerem Verlauf ist auch die Notwendigkeit einer maschinellen Beatmung bis hin zur extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) beschrieben [10].
Obwohl die Pathophysiologie des PIMS noch ungeklärt ist, lassen die klinischen Parallelen zum Kawasaki-Syndrom eine Vaskulitis mit autoimmunologischer Genese vermuten [11].
Während beim Kawasaki-Syndrom eine erhöhte IL-17-vermittelte Hyperinflammation festgestellt wurde, zeigten sich beim MIS-C vermehrt Autoantikörper gegen Immunzellen sowie Hinweise auf eine diffuse endotheliale Beteiligung [11]. Die These der Autoantikörper-vermittelten Reaktion wird durch die gute Wirksamkeit von Immunglobulinen gestützt. Auch ein rekombinanter IL-1-Rezeptor-Antagonist (Anakinra) sowie IL-6-Inhibitoren wie Tocilizumab und Siltuximab wurden erfolgreich bei MIS-C eingesetzt [11]
[12]. Auch in unseren Fällen zeigten sich Hinweise auf eine Beteiligung des Komplementsystems.
Unsere Patientin hatte deutlich reduzierte TNF-α-Spiegel, eine Beobachtung, die sich mit erniedrigten TNF-α-Spiegeln beim MIS-C im Gegensatz zur SARS-CoV-2-Infektion deckt [11]. TNF-α-Inhibitoren sollten daher beim PIMS nicht eingesetzt werden.
In beiden Fällen konnten die Patienten nach Abschluss der Therapie das Krankenhaus nach gut 2 Wochen beschwerdefrei verlassen. Auch in einer klinischen Verlaufskontrolle konnten keine Residuen festgestellt werden. Dies lässt auf eine gute Prognose unter optimaler Therapie und intensivmedizinischer Betreuung hoffen.
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Das Multisystem Inflammatory Syndrome ist eine seltene Erkrankung nach SARS-CoV-2-Infektion, die sowohl bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen auftreten kann.
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Bei Fieber und erhöhten Entzündungsparametern ohne klaren Entzündungsfokus muss eine zurückliegende asymptomatische SARS-CoV-2-Infektion eruiert werden.
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Der klinische Verlauf kann auch bei jungen Erwachsenen ohne Vorerkrankungen dramatisch sei, sodass eine frühzeitige intensivmedizinische Betreuung in Betracht gezogen werden muss.
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Unter Therapie mit Hydrokortison, Immunglobulinen und ASS besteht eine gute Prognose.