Alles Krise, oder was?
Der Krisenbegriff hat in den vergangenen Monaten, bedingt durch die Corona-Pandemie,
wieder viel Beachtung gefunden. Unter dem Motto „Alles Krise, oder was?“ fand beispielsweise
im Oktober 2020 die „Woche der seelischen Gesundheit“ in der bayerischen Landeshauptstadt
München statt, die verschiedene Aspekte von Krise und Krisenversorgung beleuchtet
hat. In diesem Themenheft der Nervenheilkunde werden Krisen aus unterschiedlichen
Blickwinkeln dargestellt.
Die Geschichte des Krisenbegriffs geht bis in die Antike zurück; Krise als Chance,
Krise als Wendepunkt wurde wiederholt dargestellt [1]. Die Soziologie und Psychologie der Krise ist seit den 1970er-Jahren wiederbeginnend
mit Ölkrise allgegenwärtig, und seitdem haben wir Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Umweltkrise,
Klimakrise, Corona-Krise und eine Vielzahl von politischen Krisen erlebt. Warum also
ein Themenheft zum Thema Krise in dieser Zeitschrift?
Der Krisenbegriff verändert den Blick auf die psychiatrische Versorgung! Wenn ich
Akutbehandlung mit dem Blick auf die Krise definiere, dann wird das Verständnis psychischer
Störungen bedürfnisorientierter und geht über eine eng gefasste medizinische Sichtweise
hinaus. Eindrücklich wurde das in letzter Zeit im Bereich Suizidprävention erarbeitet.
Tobias Teismann, Thomas Forkmann und Heide Glaesmer stellen diesen Aspekt in ihrem
Beitrag dar: Moderne psychotherapeutische Interventionen zur Suizidprävention gehen
nicht davon aus, dass die Behandlung spezifischer Krankheiten im Vordergrund stehen
sollte, sondern, dass sich Präventionsmaßnahmen am besten unmittelbar an die sich
durch suizidale Gedanken und Handlungen ausdrückende persönliche Not der Betroffenen
richten.
Es gibt heute eine breite Diskussion, dass durch die Engführung der Suizidprävention
auf eine bessere medizinische Versorgung psychischer Erkrankungen zahlreiche Suizidkonstellationen
nicht erreicht werden [2] – beispielsweise vom CDC, der amerikanischen Gesundheitsbehörde [3]. Dort wird angemahnt, dass die Prävention den Krankheitsbegriff als einen Aspekt
unter mehreren sehen sollte – wie es auch die Perspektive der Krise in der Psychiatrie
beinhaltet. Stefan Weinmann stellt das ausführlich dar und lotet aus, welche Chancen
im Krisenbegriff für die Psychiatrie stecken: Von der Krise zu sprechen ist deutlich
ressourcen- und recoveryorientierter als von der Krankheit oder Störung. Michael Frey
stellt den Aspekt für die Kinder und Jugendlichen dar, Michael Welschehold berichtet,
wie die Umsetzung des Krisendienstes in Bayern erfolgt. Nils Greve ergänzt dies um
die gemeindepsychiatrische Perspektive. Der Artikel von Imke Heuer, Candelaria Mahlke,
Gwen Schulz und Thomas Bock fassen all dies nochmals aus der Sicht der Betroffenen
wunderbar zusammen.
Unser Fazit für dieses Heft ist: Die Perspektive auf die Krise tut der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Versorgung gut. Sie wirkt entstigmatisierend und sieht das Individuum in seinen jeweiligen
Bedürfnissen. Bedauerlich ist es bis heute, dass die Krankenkassen bei der Versorgung
der Krisen, beispielsweise über Krisendienste, sich vornehm „heraushalten“. Hier wäre
es dringlich, dass sie ihren gesetzlichen Auftrag übernehmen, wie es beispielsweise
der Psychiatriedialog des Bundesministerium für Gesundheit diskutiert (www.psychiatriedialog.de).
Wir wünschen viel Freude und viele Erkenntnisse bei der Lektüre dieses Heftes.