Nervenheilkunde 2021; 40(08): 654-655
DOI: 10.1055/a-1467-0639
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

 

Demoralisierung und Suizidalität bei Clusterkopfschmerz-Patienten

***Koo BB, Bayoumi A, Albanna A, et al. Demoralization predicts suicidality in patients with cluster headache. The Journal of Headache and Pain 2021; 22 (1): 28


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Hintergrund

Clusterkopfschmerz-Patienten zeigen oftmals deutliche Beeinträchtigungen ihrer psychischen Gesundheit, wie vermehrte depressive Episoden und Suizidalität [1], [2]. Unklar ist, ob Suizidgedanken eher die Folge einer Depression oder Ausdruck des Wunsches, die Schmerzen zu beenden, sind. In der hier vorliegenden Studie untersuchten die Autoren zunächst das Auftreten von Suizidgedanken und Suiziden in Clusterkopfschmerz-Patienten im Vergleich zu gematchten Kontrollprobanden, um in einem weiteren Schritt mögliche Ursachen hierfür bestimmen zu können.


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Zusammenfassung

Die Patienten wurden zwischen Oktober 2019 und Januar 2021 rekrutiert, die Teilnahme erfolgte anonym mittels eines online-basierten Fragebogens. Kontrollprobanden wurden aus einem Register identifiziert und zur Teilnahme eingeladen. Zunächst wurden die ICHD-3-Kriterien für Clusterkopfschmerz und die Lebensqualität der Patienten mittels dem CH-QOL (CH Quality of Life Questionnaire) erhoben. Eine Depression, Panikstörung oder bipolare Erkrankung wurde nach eigener Angabe der Patienten festgestellt. Schwere Depressionen in der Vorgeschichte wurden mittels der Brief Lifetime Depression Scale (BLDS) untersucht. Eine „Demoralisierung“ wurde mittels Diagnostic Criteria for use in Psychosomatic Research – Demoralization (DCPR-D) und der Kissane Demoralization Scale (KDS) [3] untersucht. Der DCPR-D umfasst Fragen hinsichtlich eigenen oder Erwartungen von anderen nicht gerecht zu werden, fehlenden Copingstrategien und einer Hilf- oder Hoffnungslosigkeit [4]. Suizidalität sowie passive und aktive Suizidgedanken wurden mittels dem Suicidal Behavior Questionnaire-revised (SBQ-R) und dem Columbia Suicide Severity Rating Scale (C-SSRS) evaluiert.

100 Clusterkopfschmerz-Patienten (53,0 % männlich) und 135 Kontrollprobanden (57,0 % männlich) wurden eingeschlossen. Die Gruppen waren vergleichbar hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Familienstand, Beruf und Einkommen. Nach eigenen Angaben hatten Clusterkopfschmerz-Patienten häufiger eine Panikstörung (12,0 % vs. 3,0 %; p = 0,007) oder bipolare Störung (15,0 % vs. 3,0 %; p = 0,0008). Hinsichtlich einer bestehenden Depression oder der Einnahme von Antidepressiva zeigten sich keine Unterschiede. Allerdings berichteten deutlich mehr Clusterkopfschmerz-Patienten von einer depressiven Episode in der Vorgeschichte (67,0 % vs. 32,6 %; p < 0,00001).

Bisherige Suizidversuche waren in beiden Gruppen ähnlich, allerdings zeigte die Clusterkopfschmerz-Gruppe ein höheres Selbstmordrisiko im SBQ-R (38,0 % vs. 18,5 %; p = 0,0009). Passive und aktive Selbstmordgedanken waren ebenfalls in der Clusterkopfschmerz-Gruppe deutlich häufiger (passive Suizidgedanken: 59,0 % vs. 34,8 %; p = 0,0002, aktive Suizidgedanken: 47,0 % vs. 26,7 %, p = 0,001) und Clusterkopfschmerz-Patienten hatten ein 2-fach höheres Risiko für Suizidgedanken als Kontrollprobanden. Demoralisierung war in Clusterkopfschmerz-Patienten häufiger als in der Kontrollgruppe (28,0 % vs. 15,6 %; p = 0,02) und mit einem ca. 3-fach höheren Risiko für Suizidgedanken in Clusterkopfschmerz-Patienten assoziiert. In der Clusterkopfschmerz-Gruppe waren 56 Patienten mit einem episodischen und 44 Patienten mit einem chronischen Clusterkopfschmerz. Die beiden Gruppen waren ähnlich hinsichtlich der Lebensqualität (CH-QOL p = 0,18) sowie dem Auftreten einer Depression in der Vorgeschichte (p = 0,13). Demoralisierung war allerdings häufiger in chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten (40,9 vs. 17,9 %; p = 0,01). Auch Suizidgedanken (36,4 % vs. 16,1 %; p = 0,02) und Suizidversuche (13,6 % vs. 3,6 %; p = 0,07) traten signifikant häufiger in chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten auf.


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Kommentar

Wie zu erwarten, zeigen Clusterkopfschmerz-Patienten eine erhöhte Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit, so z. B. in Bezug auf Depressionen in der Vorgeschichte, aber auch hinsichtlich suizidaler Gedanken und Suizidversuchen. Die Belastung ist in chronischen Patienten nochmals höher als in episodischen Patienten. Die Autoren schlussfolgerten, dass eine Ursache für Suizidalität in Clusterkopfschmerz-Patienten in einer Demoralisierung liegt. Demoralisierung ist ein Begriff aus der Psychologie, der die Hoffnungslosigkeit aufgrund der Unkontrollierbarkeit und des zermürbenden Charakters einer Erkrankung und den Verlust des persönlichen Lebenssinns in den Vordergrund stellt [4]. Demoralisierung und Depression teilen gemeinsame Charakteristika wie Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle. Demoralisierung kann keinen Teilaspekt der Depression darstellen, aber auch unabhängig davon auftreten.

Die Untersuchung von psychischen Belastungsfaktoren von Clusterkopfschmerz-Patienten wurde in den letzten Jahren mehr fokussiert und die tatsächliche Beeinträchtigung wird immer deutlicher. Insofern reihen sich die Ergebnisse in die bisherigen Untersuchungsergebnisse ein und tragen sicherlich zu einem besseren Verständnis bei. Einschränkend muss aber erwähnt werden, dass die Studie nur eine kleine Probandenzahl untersucht hat. Auch die Online-Befragung und Selbstauskunft bezüglich einiger Diagnosen könnte zu einer Verzerrung beitragen. Für eine bessere Interpretation hätte zusätzlich zumindest die aktuelle Attackenfrequenz, die Wirksamkeit der Akutmedikation und die Häufigkeit der Episoden erfragt werden sollen. Trotz dieser Einschränkungen macht die Studie die Beeinträchtigung der Clusterkopfschmerz-Patienten deutlich, und es kann geschlussfolgert werden, dass zum einen eine wirksame Behandlung unbedingt angestrebt werden sollte. Zum anderen sollten Patienten aktiv nach Depressionen und Suizidalität befragt werden und ggf. eine entsprechende Therapie begonnen werden.

Katharina Kamm, München, mit Unterstützung von Thomas Dresler, Tübingen

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377 München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de

Sie wird dabei unterstützt von Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz), PD Dr. Gudrun Goßrau, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Clusterkopfschmerz).

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.


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  • Literatur

  • 1 Louter M. et al Neurology 2016; 87 (18) 1899-1906
  • 2 Ji Lee M. et al Cephalalgia 2019; 39 (10) 1249-1256
  • 3 Kissane D. et al Journal of palliative care 2004; 20 (04) 269-276
  • 4 Tecuta L. et al Psychological medicine 2015; 45 (04) 673

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
04. August 2021

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Louter M. et al Neurology 2016; 87 (18) 1899-1906
  • 2 Ji Lee M. et al Cephalalgia 2019; 39 (10) 1249-1256
  • 3 Kissane D. et al Journal of palliative care 2004; 20 (04) 269-276
  • 4 Tecuta L. et al Psychological medicine 2015; 45 (04) 673