Nervenheilkunde 2021; 40(12): 1017-1020
DOI: 10.1055/a-1467-7092
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

Vera Nieswand
,
Gudrun Goßrau
,
Thomas Dresler
,
Katharina Kamm
,
Lars Neeb
 

Jugendliche mit Migräne haben im Verlauf der nächsten 10 Jahre ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen und weitere Schmerzerkrankungen

**** Gerstl L, Tadych N, Heinen F, et al. Migraine and the development of additional psychiatric and pain disorders in the transition from adolescence to adulthood. Cephalalgia 2021. doi: 10.1177/03331024211021792

Hintergrund

Das zeitgleiche Auftreten von primären Kopfschmerzerkrankungen und weiteren medizinischen Problemen wurde bereits in einigen Studien untersucht. Dabei zeigte sich eine Assoziation von Kopfschmerzen bei Jugendlichen zu psychiatrischen Komorbiditäten und dem Auftreten weiterer Schmerzsyndrome. Bisher unbeantwortet ist die Frage nach chronologischen Aspekten oder Ursache-Wirkungsbeziehungen.


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Zusammenfassung

Diese Studie untersucht die Frage, ob Jugendliche mit Migräne ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von psychiatrischen Komorbiditäten oder Schmerzsyndromen über einen zeitlichen Verlauf von 10 Jahren aufweisen. Hierzu wurde eine retrospektive Analyse durchgeführt, welche Krankenversicherungsdaten von Versicherten umfasste, die im Jahr 2006 15 Jahre alt waren und im Zeitraum von 2006–2016 bei der BARMER versichert waren. Alle Analysen erfolgten auf Basis der ICD-10-Kodierung. Zu den analysierten Komorbiditäten gehörten im Einzelnen affektive Störungen, neurotische, belastungs- und somatoforme Störungen, Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, Rückenschmerzen und Reizdarmsyndrom. Es erfolgte die Einteilung in eine Migränegruppe (n = 431) und in eine Kontrollgruppe (n = 22368). Zu den Einschlusskriterien in die Migränegruppe zählten eine Migränediagnose im Indexjahr 2006 sowie mindestens weitere 3 Migränediagnosen bis 2016. Ein Ausschlusskriterium bestand in der Diagnose einer weiteren Kopfschmerzerkrankung wie Spannungskopfschmerzen oder unspezifischen Kopfschmerzen. Weiterhin wurden Patienten ausgeschlossen, die im Indexjahr eine der untersuchten Komorbiditäten aufwiesen. Zur Kontrollgruppe zählten Versicherte, bei denen in den Jahren 2006–2016 keine Kopfschmerzdiagnose bestand und keine der untersuchten Komorbiditäten im Jahr 2006 vorlag.

Es zeigte sich, dass Patienten mit Migräne ein insgesamt 1,3-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer der untersuchten Komorbiditäten aufwiesen (p < 0,001). Dementsprechend entwickelte sich im 10-Jahres-Follow-Up bei 69,7 % der Versicherten in der Kontrollgruppe bzw. 88,4 % der Patienten in der Migränegruppe eine entsprechende Komorbidität. Im Einzelnen zeigte sich ein 2,1-faches Risiko für das spätere Auftreten einer affektiven Störung sowie ein 1,8-fach höheres Risiko für neurotische, belastungs- oder somatoforme Störungen und für Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (jeweils p < 0,001). Weitere Komorbiditäten wie Rückenschmerzen (p < 0,001) und das Reizdarmsyndrom (p < 0,022) entwickelten sich bei Patienten mit Migräne mit einer 1,6-fach bzw. 1,5-fach erhöhten Wahrscheinlichkeit. Ein Unterschied zwischen Patienten mit einer Migräne ohne Aura und einer Migräne mit Aura konnte nicht festgestellt werden, wobei hier kleine Fallzahlen, unspezifische Kodierung sowie mögliche Änderungen in der Migränediagnose im Verlauf bedacht werden müssen.


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Kommentar

Den hier dargestellten Ergebnissen zufolge liegt es nahe, dass das Vorliegen einer Migräne in der vulnerablen Übergangsphase zwischen Jugend- und Erwachsenenalter mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung psychiatrischer Erkrankungen und weiterer Schmerzsyndrome assoziiert ist. Wie die Autoren der Studie anmerken, stellt sich die Frage, inwieweit die Migräne durch veränderte zerebrale Aktivitätsmuster zu psychiatrischen Erkrankungen führt oder ob das Vorliegen chronischer Schmerzen im Allgemeinen eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Störungen mit sich bringt. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist jedoch zu bedenken, dass ein Bias aufgrund der hohen Dunkelziffer bei psychischen Erkrankungen möglich ist. Ebenso besteht im Kindes- und Jugendalter häufig Unsicherheit bezüglich der Migränediagnose, da sich die Erkrankung anders als im Erwachsenenalter präsentieren kann. Deshalb ist von einer unvollständigen Erfassung von Migräne als ICD-10-Diagnose auszugehen und ebenso von einer hohen Dunkelziffer. Eine Datenverzerrung könnte durch vorbestehende, nicht diagnostizierte Erkrankungen ebenso entstehen wie dadurch, dass Patienten mit Migräne aufgrund vermehrter Arztkontakte häufiger mit psychischen Erkrankungen auffallen als Patienten der Kontrollgruppe.

Für den klinischen Alltag legen die Daten nahe, dass besonderes Augenmerk auf die Vulnerabilität jugendlicher Patienten mit Migräne in Bezug auf die Entwicklung weiterer Schmerzsyndrome und psychischer Auffälligkeiten gelegt werden sollte. Diese Studie bestätigt die Ansicht, dass primäre Kopfschmerzerkrankungen wie die Migräne im Kindes- und Jugendalter ein relevantes Gesundheitsproblem mit potenziell weitreichenden Folgen sind. Es bedarf einer frühzeitigen Erkennung und adäquaten Therapie, um potenzielle Folgen der Erkrankung zu minimieren.

Vera Nieswand und Gudrun Goßrau, Dresden


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Soziale Unterstützung und Einsamkeit bei chronischen Kopfschmerzen

**** Westergaard ML, Lau CJ, Allesøe K, et al. Cephalalgia 2021; doi: 10.1177/03331024211020392

Hintergrund

Es gibt gute Belege für den Zusammenhang von Kopfschmerzen und Stress, chronischen Kopfschmerzen und Medikamentenübergebrauch sowie zwischen Kopfschmerzen und einem reduzierten Gesundheitszustand. Ein zusätzlicher Einfluss geringer sozialer Unterstützung und Einsamkeit speziell auf diese Zusammenhänge ist kaum untersucht worden; dies nahmen die Autoren hier in Angriff.


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Zusammenfassung

Datengrundlage für den Artikel war das Danish Capital Region Health Survey von 2017, bei dem die entsprechenden Informationen bei ca. 55000 Personen abgefragt wurden, die einen repräsentativen Ausschnitt der dänischen Bevölkerung darstellen. Von den Befragten hatten ca. 3 % chronische Kopfschmerzen (keine spezifische ICHD-3-Diagnose, durchschnittlich ≥ 15 Kopfschmerztage pro Monat im letzten Vierteljahr), zwei Drittel davon mit Medikamentenübergebrauch (Fragen an ICHD-3-Kriterien angelehnt). Stresserleben wurde mit der Perceived Stress Scale (PSS) erhoben, der Gesundheitszustand mit einer Frage („Wie würden Sie Ihren Gesundheitszustand einschätzen?“). Soziale Unterstützung wurde mit 3 Fragen erhoben (z. B. „Haben Sie bei Problemen eine Ansprechperson?“), Einsamkeit mit der Three-Item Loneliness Scale (T-ILS) (z. B. „Wie oft empfinden Sie, dass Sie keine Gesellschaft haben?“), diese Werte wurden anhand von Cut-off-Werten dichotomisiert. Für die Analyse wurden 3 logistische Regressionen verwendet, wobei der Einfluss von chronischen Kopfschmerzen auf Stresserleben, auf Medikamentenübergebrauch und auf den Gesundheitszustand untersucht wurden – sowohl ohne als auch mit Adjustierung demografischer Variablen wie Geschlecht, Altersgruppe, Bildung, usw. Zusätzlich wurde untersucht, inwieweit geringe soziale Unterstützung und Einsamkeit einen Einfluss haben, hier vor allem, ob diese Variablen die Einflüsse von chronischen Kopfschmerzen auf Stresserleben, Medikamentenübergebrauch und Gesundheitszustand verändern (Interaktionseffekt).

Die deskriptiven Analysen zeigten zu erwartende Ergebnisse beim Vergleich von Personen mit und ohne chronische Kopfschmerzen (mehr Stress, schlechtere Gesundheit, weniger soziale Unterstützung, mehr Einsamkeit), wobei ein zusätzlicher Medikamentenübergebrauch zumeist zu ausgeprägteren Werten führte. Die logistischen Regressionen zeigten für alle abhängigen Variablen (Stresserleben, Medikamentenübergebrauch, Gesundheitszustand) signifikant höhere Odds-Ratios für Personen mit im Vergleich zu Personen ohne chronische Kopfschmerzen (Haupteffekt). Ebenso zeigten sich höhere Odds-Ratios für geringere soziale Unterstützung und für Einsamkeit (Haupteffekt). Diese Effekte auf Stresserleben, Medikamentenübergebrauch und Gesundheitszustand waren größtenteils unabhängig voneinander, wobei sich ein signifikanter Interaktionseffekt in den adjustierten Regressionen zeigte: Der Zusammenhang von chronischen Kopfschmerzen und Medikamentenübergebrauch war ausgeprägter bei Personen mit geringer Einsamkeit im Vergleich zu Personen mit hoher Einsamkeit. Dies erklären die Autoren durch die Möglichkeit, dass Patienten Schmerzmittel brauchen und möglicherweise nutzen, um soziale Kontakte pflegen zu können. Hierfür verweisen Westergaard et al. auf eine qualitative Studie aus Schweden, in der Personen mit Medikamentenübergebrauch an ihren „unverzichtbaren“ Medikamenten festhielten, um nicht noch ihrer sozialen Interaktionen beraubt zu werden.


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Kommentar

Die Studie kann an einer großen repräsentativen Stichprobe wichtige Zusammenhänge aufzeigen und die bekannte Bedeutung von chronischen Kopfschmerzen für Stresserleben, Medikamentenübergebrauch und Gesundheitszustand erneut unterstreichen. Der Zusammenhang mit Medikamentenübergebrauch ist etwas trivial, da chronische Kopfschmerzen ja einer der wichtigsten Faktoren für Übergebrauch sind. Wichtig ist, dass fehlende soziale Unterstützung und Einsamkeit vor allem additiv die Effekte verstärken. Deshalb ist die Frage nach sozialer Unterstützung oder Einsamkeit in therapeutischen Settings wichtig. Die Kombination chronischer Kopfschmerzen mit fehlender sozialer Unterstützung bzw. Einsamkeit hat deutlich schlechtere Auswirkungen, im Sinne einer doppelten Beeinträchtigung. Als Limitationen werden von den Autoren aufgeführt, dass die Zusammenhänge komplex und häufig bidirektional sind und kausale Zusammenhänge in einer Survey-Umfrage nicht analysiert werden können.

Interessant ist, dass es bei allen Regressionen zumindest marginal signifikante Interaktionseffekte mit Einsamkeit gibt (auch wenn von den Autoren primär der signifikante Effekt auf Medikamentenübergebrauch diskutiert wird). Der Interaktionseffekt besteht jeweils in der Form, dass bei vorhandener Einsamkeit im Vergleich zu geringer Einsamkeit der Einfluss von chronischen Kopfschmerzen auf Stresserleben, Medikamentenübergebrauch und Gesundheitszustand mind. 30 % geringer ist. Hier fällt es mir schwer, eine genaue Erklärung zu geben, aber die Konsistenz könnte eine weitergehende Untersuchung lohnend erscheinen lassen. Auch stelle ich mir die Frage, warum fehlende soziale Unterstützung und Einsamkeit bei Personen ohne chronische Kopfschmerzen mit erhöhtem Medikamentenübergebrauch assoziiert sind. Die Assoziierung mit Stresserleben und Gesundheitszustand ist plausibel, bei fehlenden chronischen Kopfschmerzen bleibt offen, warum einsame Menschen einen höheren Medikamentenübergebrauch zeigen (andere Schmerzen? schlechterer Gesundheitszustand?). Auch wenn einige Fragen offen bleiben, eine gute und relevante Studie. Meine Hauptbotschaft an die Praxis lautet: Achten Sie neben der Kopfschmerzsymptomatik auch auf Hinweise für (fehlende) soziale Unterstützung und Einsamkeit.

Thomas Dresler, Tübingen


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Ist Ketamin eine potenzielle prophylaktische Medikation für den Clusterkopfschmerz?

***(*)Moisset X, Giraud P, Meunier E, et al. Ketamine-Magnesium for refractory chronic cluster headache: a case series. Headache 2020; 60(10): 2537–2543

*Granata L, Niebergall H, Langner R, et al. Ketamin i. v. zur Behandlung von Clusterkopfschmerz. Eine Beobachtungsstudie. Schmerz 2016; 30: 286–288

2 Fallstudien berichten über die positive Wirkung von Ketamin als prophylaktische Behandlung für den Clusterkopfschmerz.

Ketamin, das in den 1960er-Jahren entwickelt und in den 1970er-Jahren unter dem Namen „special K“ als Droge bekannt wurde, ist das einzige dissoziative Anästhetikum. Aufgrund seiner anästhetischen Wirkung bei erhaltenen Schutzreflexen sowie den psychoaktiven Nebenwirkungen wird es als dissoziativ bezeichnet. Ketamin zeigt bereits bei niedriger Dosierung eine ausgeprägte analgetische Wirkung [1]–[3]. Die anästhetische, amnestische und analgetische Wirkung beruht auf der nicht kompetitiven Hemmung des NMDA-Rezeptors, wobei Ketamin mit zahlreichen anderen Rezeptoren und Kanälen interagiert, die eventuell auch für die zentralnervösen Wirkungen verantwortlich sind. Es blockiert die monoaminerge Wiederaufnahme, was eine Steigerung von Blutdruck und Herzfrequenz zur Folge hat. Ketamin verteilt sich schnell im Körper, zeigt eine niedrige Plasmaproteinbindung und eine kurze Halbwertszeit (2–4 Stunden). Bereits 30–90 Sekunden nach einer intravenösen narkotischen Dosierung setzt der Bewusstseinsverlust ein.Typische Nebenwirkungen können Hypersalivation, Tachykardie und Blutdrucksteigerung sowie psychiatrische Nebenwirkungen wie Halluzinationen und Wahrnehmungsveränderungen, aber auch Depersonalisierung sein. Im Allgemeinen wird angenommen, dass bei einer Bolusgabe unter 0,5 mg/kg KG das Auftreten von psychotropen Nebenwirkungen gering ist [1].

An dieser Stelle möchten wir 2 Veröffentlichungen vorstellen, die die Wirkung von Ketamin in Clusterkopfschmerz-Patienten untersuchten. Granata et al. prüften die intravenöse Gabe von Ketamin in 29 Clusterkopfschmerz-Patienten (episodischer Clusterkopfschmerz n = 16, männlich n = 27). Die Patienten in dieser Studie erhielten alle 2 Wochen bis zu 4 Applikationen (je nach Ansprechen) 0,5 mg/kg KG Ketamin über 40–60 Minuten. Alle 16 episodischen und 7 der 13 chronischen Patienten zeigten eine vollständige Attackenreduktion. Die Attackenfreiheit variierte zwischen 3 und 18 Monaten über einen Beobachtungszeitraum von maximal 18 Monaten. Ein chronischer Patient erreichte eine Reduktion der Attackenintensität und -frequenz, 4 chronische Patienten zeigten kein Ansprechen. Die Autoren berichteten von einer guten Verträglichkeit, wobei ca. ein Drittel der Patienten vor der Infusion Midazolam 2,5 mg i. v. erhielten, um psychiatrische Nebenwirkungen zu vermeiden. Überwiegend milde Derealisationen wurden beschrieben, 2 Patienten zeigten eine passagere Bradykardie, ein Patient entwickelte eine passagere arterielle Hypertonie. Alle Patienten berichteten über Müdigkeit im Anschluss an die Infusion.

Moisset et al. untersuchte die Wirksamkeit einer einmaligen Ketamin-Magnesium-Infusion auf die Kopfschmerzattackenfrequenz in chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten. Hintergrund für diese Fallserie waren zum einen Fallberichte über Ketamin als wirksame Behandlung für chronische Schmerzerkrankungen [2] und die vorherige erfolgreiche Behandlung zweier therapierefraktärer Clusterkopfschmerz-Patienten [4], die auch in die vorliegende Auswertung eingeschlossen wurden. In die hier vorliegende Studie wurden 17 Patienten (männlich n = 14, 35,2 ± 8,1 Jahre) mit einem seit mind. einem Jahr bestehenden therapierefraktären, chronischen Clusterkopfschmerz eingeschlossen. Als therapierefraktär definiert waren Patienten, die auf mind. 3 übliche prophylaktische Medikationen nicht ansprachen oder diese nicht tolerierten; davon musste Verapamil in einer Tagesdosis von mind. 360 mg eingenommen und mind. 3 Occipitalisnervenblockaden durchgeführt worden sein. Patienten sollten ein Kopfschmerzkalender führen und während der 4 Wochen vor Ketamingabe mussten mind. 2 Kopfschmerzattacken/Tag aufgetreten sein. Durchschnittlich wurden 4,3 ± 2,4 Clusterkopfschmerzattacken/Tag berichtet. Die Patienten erhielten einmalig eine Infusion mit Ketamin (0,5 mg/kg) über 2 Stunden und Magnesiumsulfat (3 g) über 30 Minuten und wurden für 60 Minuten nachbeobachtet.

Primärer Endpunkt der Studie war der Unterschied der täglichen Attackenhäufigkeit an Tag 7 und 8 nach der Infusion und während einer 2-wöchigen Phase vor Gabe der Medikation. Sekundärer Endpunkt war die Anzahl der Patienten, die eine mind. 50 %ige Reduktion der Attackenanzahl an Tag 7 und 8 erreichten. Der Beginn des analgetischen Effekts wurde definiert als der Tag, an dem erstmals eine 50 %ige Reduktion der Attackenzahl aufgetreten ist und diese in den folgenden Tagen auch anhielt. Nach Ketamingabe zeigte sich eine signifikante Attackenreduktion von 4,3 ± 2,4 auf 1,3 ± 1,0 Attacken/Tag (Differenz: –2,75, p < 0,001), insgesamt eine Reduktion um 63,2 %. 13 der 17 Patienten erfuhren eine ≥ 50 %ige Reduktion der Kopfschmerzattacken/Tag. Der analgetische Effekt setzte 1–6 Tage nach Infusion ein und dauerte im Median für 4 Wochen (2 bis 68 Wochen) an. 4 Patienten wurden als Non-Responder eingestuft, davon hatten 2 Patienten keine Response innerhalb der ersten Woche und 2 Patienten zeigten eine Reduktion von 20 bis 33,3 %. 7 Patienten (41,2 %) zeigten während der Infusion eine transiente Sedierung. Halluzinationen wurden nicht beschrieben, ebenso zeigte sich keine Bradykardie oder ein erhöhter Blutdruck.

Kommentar

Neue therapeutische Ansätze für die Behandlung des Clusterkopfschmerzes sind nötig und insofern sind die beiden vorgestellten Fallserien interessant. Die Fallserie von Granata et al. kann für die Beurteilung der Wirksamkeit kaum herangezogen werden, da z. B. die genaue Attackenfrequenz vor und nach Ketamin-Gabe nicht beschrieben, prophylaktische Medikationen nur oberflächlich benannt und keine Statistik durchgeführt wurde. Auch bei der beschriebenen guten Wirkung in episodischen Clusterkopfschmerz-Patienten stellt sich die Frage, ob hier der natürliche Verlauf der Episode mitabgebildet sein könnte. Genauere Informationen liefert Moisset et al. Diese Studie überzeugt mit einem klaren Studienkonzept mit definierten Endpunkten und der Dokumentation der Kopfschmerzattacken. Einschränkend ist allerdings zu erwähnen, dass nicht alle Patienten den angesprochenen Kopfschmerzkalender ausfüllten, sodass die Attackenfrequenz in diesen Patienten „nur“ aus deren Erinnerung während eines Verlaufstermins 4–6 Wochen nach Infusion erhoben wurde.

Interessant ist der Vergleich der beiden Berichte hinsichtlich des Auftretens von Nebenwirkungen, was neben der Wirksamkeit ein zentraler Aspekt für die breite Anwendung darstellt. Im Vergleich zu Granata et al. berichten Moisset et al. von deutlich weniger Nebenwirkungen, was auf die längere Infusionsdauer zurückzuführen ist. Hinsichtlich dieser Ergebnisse scheint eine ambulante Durchführung möglich, wobei diese sicherlich in die Hände eines erfahrenen Arztes gehört. Positiv zu bewerten sind der schnelle Wirkeintritt und die lange Wirkdauer, was auch bezüglich einer guten Compliance ein Vorteil sein könnte. Dennoch wird aus beiden Fallberichten nicht klar, wie häufig die Medikation tatsächlich angewandt werden muss, um eine entsprechende Besserung zu erreichen. Moisset et al. schlussfolgern, dass bereits eine Infusion ausreichend ist. Allerdings zeigten die 13 Responder eine durchschnittliche Dauer der Symptombesserung von 9,38 ± 17,08 Wochen, sodass auch hier eine wiederholte Anwendung angenommen werden muss. Granata et al. wiederholten die Ketamingabe mehrmals, in den episodischen Clusterkopfschmerz-Patienten sogar mit kurzen Zeitabständen.

Unklar bleibt die Rolle von Magnesiumsulfat, das zusätzlich zu Ketamin in der Fallstudie von Moisset et al. verabreicht wurde. Rationale war ein früherer Fallbericht, der die intravenöse Gabe von 1 g Magnesiumsulfat als Akutmedikation in Migräne- und Clusterkopfschmerz-Patienten untersuchte und neben der akuttherapeutischen Wirkung in 80 % auch eine über 24 Stunden anhaltende Analgesie in 56 % der Patienten feststellte [5]. Inwiefern Magnesiumsulfat tatsächlich eine zusätzliche Wirkung zeigt, könnte nur in einer Vergleichsstudie „Ketamin-Magnesiumsulfat vs. Ketamin“ untersucht werden. In beiden Studien wurde keine Kontrollgruppe eingeschlossen. Aus Medikamentenstudien sind hohe Placeboraten erinnerlich, insofern ist eine abschließende Beurteilung der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Ketamin nicht möglich. Auf Grundlage der hier vorgestellten Fallserien erscheint die Durchführung einer entsprechenden, größeren placebokontrollierten Studie vorzugsweise in therapierefraktären chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten nach Abwägung der Vor- und Nachteile der Medikation lohnenswert.

Katharina Kamm, München, und Lars Neeb, Berlin

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377 München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de

Sie wird dabei unterstützt von Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz), PD Dr. Gudrun Goßrau, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Clusterkopfschmerz).

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.


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Publication History

Article published online:
06 December 2021

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