III Methodik
Grundlagen
Die Methodik zur Erstellung dieser Leitlinie wird durch die Vergabe der Stufenklassifikation vorgegeben. Das AWMF-Regelwerk (Version 1.0) gibt entsprechende Regelungen vor. Es wird zwischen der niedrigsten Stufe (S1), der mittleren Stufe (S2) und der höchsten Stufe (S3) unterschieden. Die niedrigste Klasse definiert sich durch eine Zusammenstellung von Handlungsempfehlungen, erstellt durch eine nicht repräsentative Expertengruppe. Im Jahr 2004 wurde die Stufe S2 in die systematische Evidenzrecherche-basierte (S2e) oder strukturelle konsensbasierte Unterstufe (S2k) gegliedert. In der höchsten Stufe S3 vereinigen sich beide Verfahren.
Diese Leitlinie entspricht der Stufe: S2k
Empfehlungsgraduierung
Die Evidenzgraduierung nach systematischer Recherche, Selektion, Bewertung und Synthese der Evidenzgrundlage und eine daraus resultiertende Empfehlungsgraduierung einer Leitlinie auf S2k-Niveau ist nicht vorgesehen. Es werden die einzelnen Statements und Empfehlungen nur sprachlich – nicht symbolisch – unterschieden ([Tab. 3]):
Tab. 3 Graduierung von Empfehlungen.
Beschreibung der Verbindlichkeit
|
Ausdruck
|
starke Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit
|
soll/soll nicht
|
einfache Empfehlung mit mittlerer Verbindlichkeit
|
sollte/sollte nicht
|
offene Empfehlung mit geringer Verbindlichkeit
|
kann/kann nicht
|
Statements
Sollten fachliche Aussagen nicht als Handlungsempfehlungen, sondern als einfache Darlegung Bestandteil dieser Leitlinie sein, werden diese als „Statements“ bezeichnet. Bei diesen Statements ist die Angabe von Evidenzgraden nicht möglich.
Konsensusfindung und Konsensusstärke
Im Rahmen einer strukturierten Konsenskonferenz nach dem NIH-Typ (S2k/S3-Niveau) stimmen die berechtigten Teilnehmer der Sitzung die ausformulierten Statements und Empfehlungen ab. Der Ablauf war wie folgt: Vorstellung der Empfehlung, inhaltliches Nachfragen, Vorbringen von Änderungsvorschlägen, Abstimmung aller Änderungsvorschläge. Bei Nichterreichen eines Konsensus (> 75% der Stimmen) Diskussion und erneute Abstimmung. Abschließend wird abhängig von der Anzahl der Teilnehmer die Stärke des Konsensus ermittelt ([Tab. 4]).
Tab. 4 Einteilung zur Zustimmung der Konsensusbildung.
Symbolik
|
Konsensusstärke
|
prozentuale Übereinstimmung
|
+++
|
starker Konsens
|
Zustimmung von > 95% der Teilnehmer
|
++
|
Konsens
|
Zustimmung von > 75 – 95% der Teilnehmer
|
+
|
mehrheitliche Zustimmung
|
Zustimmung von > 50 – 75% der Teilnehmer
|
–
|
kein Konsens
|
Zustimmung von < 51% der Teilnehmer
|
Expertenkonsens
Wie der Name bereits ausdrückt, sind hier Konsensusentscheidungen speziell für Empfehlungen/Statements ohne vorige systemische Literaturrecherche (S2k) oder aufgrund von fehlenden Evidenzen (S2e/S3) gemeint. Der zu benutzende Expertenkonsens (EK) ist gleichbedeutend mit den Begrifflichkeiten aus anderen Leitlinien wie „Good Clinical Practice“ (GCP) oder „klinischer Konsensuspunkt“ (KKP). Die Empfehlungsstärke graduiert sich gleichermaßen wie bereits im Kapitel Empfehlungsgraduierung beschrieben ohne die Benutzung der aufgezeigten Symbolik, sondern rein semantisch („soll“/„soll nicht“ bzw. „sollte“/„sollte nicht“ oder „kann“/„kann nicht“).
IV Leitlinie
9 Fehlbildungen des Uterus
Uterus arcuatus/Uterus subseptus/Uterus septus
(VCUAM U1a – c; ESHRE/ESGE Class U 1 – 2)
9.1 Definition
Die Fusion der Müllerʼschen Gänge hat stattgefunden, jedoch ist bei singulärem Gebärmutterkörper die Resorption des sagittal verlaufenden Septums entweder gar nicht oder partiell abgelaufen. Der Uterus subseptus ist definiert als ein äußerlich fast normal geformter, meist etwas breiter ausladender Uterus mit einem sagittalen Septum, welches nicht die gesamte Länge des Cavum uteri unterteilt. Dieses Septum ist länger als beim Uterus arcuatus, aber kürzer als beim Uterus septus. Als Uterus septus wird der Uterus bezeichnet, bei dem das Septum über die Hälfte des Kavums hinaus oft bis in die Cervix uteri hinabzieht.
9.2 Bildgebende Diagnostik
Mittels zweidimensionalem Ultraschall wird häufig die Verdachtsdiagnose gestellt. Per 3-D-Vaginalsonografie und Magnetresonanztomografie (MRT) ist eine genauere Differenzierung möglich. Als invasive Methoden stehen Hysteroskopie und Laparoskopie zur Verfügung. Als diagnostische Kriterien gelten die äußere Uteruskontur, die myometrane Wanddicke, die Fundusdicke, das Vorhandensein und die Ausprägung einer zentralen Funduseinziehung sowie die Form des Cavum uteri. Zentraler Punkt ist dabei die Abgrenzung zum Uterus bicornis.
9.3 Uterus arcuatus
(VCUAM U1a; ESHRE/ESGE Class U1)
Der Uterus arcuatus kann als die kleinste Form eines uterinen Septums interpretiert werden.
9.3.1 Besonderheiten
Es gibt keine gesicherten Daten darüber, ob der Uterus arcuatus eine Sterilitätsursache darstellt.
9.3.2 Therapie
Bei Patientinnen mit habituellen Aborten sollte die operative Korrektur eines Uterus arcuatus erfolgen. Dabei wird das in der Regel breit ausladende Septum in der Medianlinie mit der hysteroskopischen Schere oder mit der Nadelelektrode des Resektoskops inzidiert.
9.4 Uterus subseptus
(VCUAM U1b; ESHRE/ESGE Class U2)
9.4.1 Besonderheiten
Der Uterus subseptus wirkt sich durch die erhöhte Rate früher und später Aborte negativ auf die Fertilität aus. Dazu kommen vermehrt Lageanomalien, eine erhöhte Rate an Wachstumsretardierungen, Totgeburten und Dystokien. Frauen mit einem Uterusseptum und idiopathischer Sterilität profitierten von einer Septumdissektion.
9.4.2 Spezielle Diagnostik
Nichtinvasiv ermöglichen 3-D-Ultraschall und MRT eine Differenzierung. Das Ausmaß des intrakavitären Septums wird mittels Hysteroskopie beurteilt. Eine Laparoskopie zur äußeren Beurteilung des Uterus mit Abgrenzung zum Uterus bicornis ist anzuraten.
9.4.3 Therapie
Aufgrund der heute einfachen Form der operativen Korrektur mittels Hysteroskopie sollte eine präventive Septumdurchtrennung bei Frauen mit Kinderwunsch in Erwägung gezogen werden. Vor Einleitung von Maßnahmen der assistierten Reproduktion und bei habituellem Abortgeschehen sollte eine Dissektion erfolgen. Das Septum wird mit der hysteroskopischen Schere oder der Nadelelektrode des Resektoskops durchtrennt. Die Inzision wird soweit ausgeführt, bis eine normal erscheinende Form des Cavum uteri resultiert. Es hängt von der Erfahrung des Operateurs ab, ob dies unter simultaner laparoskopischer Kontrolle stattfindet. Die Durchführung empfiehlt sich bei gering proliferiertem Endometrium.
9.4.4 Spezifische Nachsorge
Eine spezifische Nachbehandlung nach der operativen Korrektur ist nicht notwendig. Eine sichere Antikonzeption für die Dauer der Heilungsphase von 3 Monaten erscheint ratsam.
9.5 Uterus septus
(VCUAM U1c; ESHRE/ESGE Class U2)
9.5.1 Besonderheiten
Der Uterus septus wirkt sich durch eine erhöhte Rate früher und später Aborte negativ auf die Fertilität aus. Weiterhin werden vermehrt Lageanomalien, eine erhöhte Rate an Wachstumsretardierungen, Totgeburten und Dystokien beobachtet Es gibt keine gesicherten Daten, aber Hinweise darauf, dass ein Uterus septus eine Sterilitätsursache darstellt. Hier gilt die oben für den Uterus subseptus genannte Studienlage.
9.5.2 Spezielle Diagnostik
3-D-Ultraschall und MRT ermöglichen eine genauere Differenzierung, um nichtinvasiv eine Abgrenzung zwischen einem septierten Uterus und einem Uterus bicornis zu ermöglichen. Eine direkte Visualisierung ist mittels der Hysteroskopie möglich. Eine Laparoskopie zur äußeren Beurteilung des Uterus mit Abgrenzung zum Uterus bicornis ist dringend anzuraten.
9.5.3 Therapie
Ergänzend zur Therapie des Uterus subseptus (9.4.3) ist beim Uterus septus das Septum meist durchgehend vom Fundus bis zur Zervix ausgebildet. Der zervikale Septumanteil sollte nicht durchtrennt werden, da sonst bei einer späteren Schwangerschaft eine Zervixinsuffizienz denkbar ist. Es erfordert eine besondere Expertise des Operateurs, um bei fehlender Visualisierbarkeit des kontralaterelen Kavums die korrekte Dissektionsebene zu finden. Zu Vermeidung von Komplikationen wird dringend anzuraten, den Eingriff unter simultaner laparoskopischer Kontrolle durchzuführen. Der Eingriff sollte bei gering proliferiertem Endometrium durchgeführt werden. Gegebenenfalls ist eine hormonsuppressive Vorbehandlung mittels GnRH-Agonisten oder die Ovulationshemmereinnahme zum Timing der Operation zu überlegen. Die Technik der abdominalen Metroplastik ist vollkommen durch die operative Hysteroskopie ersetzt worden und damit heute obsolet.
9.5.4 Spezifische Nachsorge
Eine spezifische Nachbehandlung nach der operativen Korrektur ist nicht notwendig. Eine sichere Antikonzeption für die Dauer der Heilungsphase von 3 Monaten erscheint ratsam. Die Entbindung kann vaginal erfolgen. Die entbindende Klinik ist über den erfolgten Eingriff in Kenntnis zu setzen.
Konsensbasierte Empfehlung 9.E22
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die prophylaktische Operation eines Uterus arcuatus sollte nicht erfolgen.
Bei Patientinnen mit habituellen Aborten sollte die operative Korrektur eines Uterus arcuatus erfolgen.
Die Entscheidung zu einer prophylaktischen Operation soll individuell diskutiert werden, abhängig vom Alter und der Dringlichkeit des Kinderwunsches. Bei Uterus septus ist sie aufgrund relativ häufiger Schwangerschaftskomplikationen eher anzuraten.
Bei Sterilitätspatientinnen oder bei Patientinnen mit habituellen Aborten sollte ein Uterus subseptus/Uterus septus hysteroskopisch operiert werden.
Eine hysteroskopische Septumdissektion sollte im Zustand des flachen Endometriums durchgeführt werden. Dies kann am einfachsten erreicht werden mittels postmenstrueller Durchführung des Eingriffs. Eine medikamentöse Vorbehandlung ist nicht grundsätzlich notwendig, kann aber zum Timing des Eingriffs vertretbar durchgeführt werden.
Konsensbasiertes Statement 9.S24
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Definition des Uterus arcuatus ist unscharf und beruht in der Regel auf einer subjektiven Einschätzung des Untersuchers.
Die Bedeutung des Uterus arcuatus in Bezug auf das Reproduktionsvermögen ist unklar.
Für Eingriffe bei Uterus subseptus und septus liegt in Bezug auf Schwangerschaftsraten keine ausreichende Evidenz vor.
Konsensbasiertes Statement 9.S25
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Einlage eines intrauterinen Fremdkörpers nach Septumdissektion bietet keine erwiesenen Vorteile. Es ist unklar, ob eine hormonelle medikamentöse Nachbehandlung zur Förderung der Wundheilung sinnvoll und/oder notwendig ist.
Eine transzervikale Septumdissektion stellt keine Kontraindikation für eine vaginale Geburt dar.
9.6 Uterus bicornis
(VCUAM U2; ESHRE/ESGE Class U 3)
9.6.1 Besonderheiten
Eine Störung in der Fusion der beiden Müller-Gänge führt zur Ausbildung eines Uterus bicornis uni- oder bicollis mit oder ohne Verdoppelung der Vagina. Der Uterus bicornis unicollis kommt am häufigsten vor.
9.6.2 Spezielle Diagnostik
Es werden dieselben Methoden analog zum Uterus mit innerer Septierung eingesetzt. 3-D-Ultraschall und MRT ermöglichen eine genauere Differenzierung, um nichtinvasiv eine Abgrenzung zwischen einem septierten Uterus und einem Uterus bicornis zu ermöglichen. Eine Laparoskopie zur äußeren Beurteilung des Uterus ist dringend anzuraten.
9.6.3 Therapie
Konsensbasiertes Statement 9.S26
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei Patientinnen mit habituellen Aborten bzw. Frühgeburten ist bei einem Uterus bicornis eine abdominale Metroplastik mit einer Verbesserung der Geburtenrate und Reduktion der Abort- und Frühgeburtenrate assoziiert. Die Operationsindikation sollte unter sorgfältiger Abwägung der nicht eindeutigen Datenlage zum Nutzen und der Risiken gestellt werden.
Beim Vorliegen einer Hämatometra bei einem gleichwertigen Uterushorn beim Uterus bicornis mit Beschwerden sollte eine Metroplastik auch bei unauffälliger geburtshilflicher Anamnese durchgeführt werden.
Nach einer abdominalen Metroplastik soll eine primäre Sectio caesarea erfolgen.
9.7 Uterus unicornis
(VCUAM U4a; ESHRE/ESGE Class U 4)
9.7.1 Besonderheiten
Der Uterus unicornis kann mit einer Beeinträchtigung der Fertilität einhergehen. Die Therapie hängt in erster Linie von den Besonderheiten des rudimentären Horns ab. Liegt ein kommunizierendes oder nicht kommunizierendes rudimentäres Horn mit Endometriumanteilen vor, so ist eine Entfernung notwendig. Eine Schwangerschaft im rudimentären Horn führt oft im 2. Trimenon zur dramatischen Situation einer Uterusruptur und ist somit für die Patientin potenziell lebensbedrohend.
Konsensbasierte Empfehlung 7.E23
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Schwangerschaften im rudimentären Horn müssen unter Mitnahme des Horns entfernt werden.
Konsensbasiertes Statement 9.S27
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Abort- und Fehlgeburtenrate sind beim Uterus unicornis erhöht.
Eine Indikation zur Therapie (Resektion des rudimentären Horns) besteht nur bei endometriumenthaltenden, kommunizierenden oder nicht kommunizierenden Hörnern zur Vermeidung von Dysmenorrhöen, Hämatometra und Endometriose sowie zur Vermeidung von Problemen im Falle einer Schwangerschaft.
10 Fehlbildungen der Adnexe
(ESHRE/ESGE freie Beschreibung; VCUAM A1 – 3)
Konsensbasiertes Statement 10.S28
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
-
Angeborene Fehlbildungen im Bereich der Adnexe sind selten.
-
Einseitige Fehlbildungen bedürfen häufig keiner Behandlung.
-
Bei einer ovariellen Insuffizienz aufgrund Ovarfehlbildung soll eine Hormonsubstitution überlegt und individuell indiziert werden.
-
Zur Sterilitätstherapie sind die Methoden der assistierten Reproduktion Standard.
-
Ein Versuch der operativen Rekonstruktion ist nur in Einzelfällen indiziert.
Konsensbasierte Empfehlung 10.E24
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei Verdacht auf eine angeborene Fehlbildung im Bereich der Adnexe sollte eine Vorstellung zur weiteren Diagnostik und/oder Therapie in einer hierfür entsprechend erfahrenen Einrichtung erfolgen.
11 Komplexe urogenitale Fehlbildungen
Dieser Abschnitt widmet sich weiblichen genitalen Fehlbildungen des Säuglings. Fehlbildungen des Sinus urogenitalis, Kloakenfehlbildungen sowie der Blasenekstrophie-Epispadie-Komplex sind hier von Epidemiologie über Therapie bis hin zur Nachsorge abgebildet. Weitere Ausführungen zu Kapitel 11 bitte der Langversion auf der Seite der AWMF zu entnehmen.
12 Angeborene Gefäßmalformationen
Konsensbasiertes Statement 12.S57
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
-
Angeborene Gefäßanomalien im weiblichen Genitaltrakt sind sehr selten. Dazu gibt es nur sehr wenige Literaturberichte, meist in Form von Case Reports.
-
Uterine vaskuläre Malformationen scheinen bei präklimakterischen Blutungsstörungen in einer Frequenz von 3 – 4% aufzutreten. Die Datenlage ist aber ungenügend.
Konsensbasierte Empfehlung 12.E54
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Therapeutisch ist das abwartende Verhalten zu empfehlen. Bei größeren Malformationen kann die Katheterembolisation diskutiert werden.
Alternativ: Konservative Therapie bei Hämagiomen bei Kindern sollte mittels Betablocker erfolgen.
13 Assoziierte Fehlbildungen
Durch die zusammenhängenden Entwicklungsprozesse der paramesonephrischen (Müller), mesonephrischen (Wolff) Gänge und des Urogenitalsinus kommt es bei Malformationen der Müller-Gänge zu assoziierten Fehlbildungen [1], [2].
Der Prozess der weiblichen Urogenitalentwicklung beruht auf einem komplex ablaufenden Signaltransduktionssystem. Wnt- und Hox-Gene sowie BMP-(bone morphogenetic protein-) und WT-1-(Wilms-Tumor-)Suppressor-Gene spielen eine Schlüsselrolle [3], [4], [5]. Die mesonephrischen Gänge und ihre zeitliche Interaktion mit dem Sinus urogenitalis beeinflussen die korrekte Entwicklung der paramesonephrischen Gänge und deren anatomische Beziehung zu den Harnwegen. Die Störung dieser Entwicklung kann zu einer großen Anzahl von Begleitfehlbildungen führen, wie z. B. im Bereich der Nieren, ableitenden Harnwege, Blase, Skelettsystem oder anorektalen Fehlbildungen.
Konsensbasiertes Statement 13.S58
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei ca. 30% der weiblichen genitalen Fehlbildungen ist mit assoziierten Malformationen (vor allem renales System, Skelett, Adnexe, Leistenhernien) zu rechnen.
Konsensbasierte Empfehlung 13.E55
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Im Rahmen der Fehlbildungsabklärung soll eine Sonografie der Nieren durchgeführt werden.
Weitere Abklärungen sollten in Abhängigkeit von der Ausprägung der Befunde, dem Beschwerdebild und geplanten Vorgehen bei der Patientin entschieden werden.
14 Geburtshilfliches Management
Bei genitalen Anomalien stellt sich die Frage, ob eine vaginale Geburt möglich ist. Häufig ist eine Spontangeburt möglich. Grundsätzlich gilt, dass der Geburtshelfer zusammen mit der Schwangeren die Wahl des Geburtsmodus treffen sollen. Je nach Fehlbildung und Ausprägung sind spezifische, individuelle Gegebenheiten zu berücksichtigen und dem geburtshilflichen Management anzupassen. Im Folgenden wird zu den jeweiligen Fehlbildungen Stellung genommen [4], [6], [7].
14.1 Kloake
Konsensbasiertes Statement 14.S59
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Kloakenfehlbildung und die daraus resultierenden Operationen stellen per se keine Kontraindikation für eine Schwangerschaft dar. Die Schwangerschaft soll prinzipiell als Risikoschwangerschaft gewertet werden. Eine Entbindung per Kaiserschnitt wird empfohlen für diese Patientinnen, insbesondere nach vaginalen rekonstruktiven Eingriffen.
Konsensbasierte Empfehlung 14.E56
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Eine prinzipiell mögliche Schwangerschaft sollte als Risikoschwangerschaft gewertet werden und die Entbindung per Kaiserschnitt erfolgen.
14.2 Blasenekstrophie
Konsensbasiertes Statement 14.S60
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Schwangerschaften sind sowohl bei Patientinnen mit primärer Rekonstruktion der Blasenekstrophie sowie nach primärer oder sekundärer Harnableitung möglich. Die Fehlbildung und die daraus resultierenden Operationen stellen per se keine Kontraindikation für eine Schwangerschaft dar. Die Schwangerschaft soll prinzipiell als Risikoschwangerschaft gewertet werden.
Konsensbasierte Empfehlung 14.E57
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Eine prinzipiell mögliche Schwangerschaft sollte als Risikoschwangerschaft gewertet werden und die Entbindung per Kaiserschnitt erfolgen.
14.3 Kongenitale Anomalien der Vulva
Konsensbasiertes Statement 14.S61
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Fehlbildungen und Synechien der Labia minora bzw. majora bedürfen selten einer chirurgischen Intervention. Häufiger muss beim AGS eine chirurgische Intervention erfolgen. Venöse Malformationen der Vulva müssen von einer Varikosis in graviditatem unterschieden werden. Das geburtshilfliche Management wird in der Regel nicht durch kongenitale Veränderungen der Labia minora bzw. majora bestimmt.
Konsensbasierte Empfehlung 14.E58
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Wurde beim AGS eine operative Korrektur des äußeren Genitales durchgeführt, hat sie selten einen Einfluss auf die Wahl des Geburtsmodus. Nur bei sehr ausgeprägten Gefäßveränderungen der Vulva ist eine individuelle Geburtsplanung vonnöten.
14.4 Vagina
Konsensbasiertes Statement 14.S62
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Transverse und longitudinale Vaginalsepten werden meist vor der Konzeption diagnostiziert. Zu beachten ist die Koinzidenz insbesondere der uterinen Anomalien.
Konsensbasierte Empfehlung 14.E59
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Bei bestimmten und bei ausgeprägten Formen sollte eine Entfernung der Septen erfolgen. Grundsätzlich ist eine vaginale Geburt möglich. Die Entscheidung kann nur individuell getroffen werden.
14.5 Kongenitale Anomalien des Uterus
Konsensbasiertes Statement 14.S63
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Geburtshilfliche Komplikationen sind häufiger beim Uterus septus und am geringsten beim Uterus arcuatus.
Postpartale Blutungen durch Plazentaretention können auftreten.
Bei begleitenden Nierenfehlbildungen oder einseitiger Nierenagenesie ist ein schwangerschaftsinduzierter Hypertonus häufiger.
Aborte treten gehäuft im 1. und 2. Trimenon auf.
Während einer Schwangerschaft bei einem Uterus mit obstruiertem oder rudimentärem Horn beträgt die Gefahr einer Uterusruptur fast 90%.
Konsensbasierte Empfehlung 14.E60
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Nach transzervikaler Dissektion eines uterinen Septums kann eine vaginale Geburt angestrebt werden.
Ein rudimentäres Horn sollte vor einer Schwangerschaft entfernt werden.
Die Entscheidung über das geburtshilfliche Vorgehen kann nur individuell und nach sorgfältiger Abwägung aller Optionen getroffen werden.
15 Psychosomatische Begleitung
15.1 Lebensqualität, psychische Komorbidität, belastende Themen
Konsensbasiertes Statement 15.S64
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Frauen mit genitaler Fehlbildung scheinen häufig psychisch belastet und weisen eine u. U. deutliche Einschränkung ihrer Lebensqualität auf. Dennoch scheinen sie im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung nicht häufiger an psychischen Erkrankungen zu leiden. Belastbare Aussagen zur psychischen Belastung von Frauen mit genitalen Fehlbildungen sind aufgrund bislang nicht ausreichender Studienlage schwierig.
Konsensbasierte Empfehlung 15.E61
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die zentralen belastenden Themen Weiblichkeit, Sexualität und (ggf. nicht erfüllbarer) Schwangerschaftswunsch sollten in der Begleitung der Mädchen bzw. Frauen durch die Primärbehandler (welche die Betroffenen wohnortnah in Vor- und Nachbehandlung begleiten) altersentsprechend angesprochen werden. Der Respekt vor der Intimität und die Verschwiegenheit sind auch bei Minderjährigen unbedingt zu gewährleisten. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung stehen medizinische Informationen sowie emotionales Erleben, Umgang mit der Fehlbildung und Kommunikation der Fehlbildung innerhalb der Familie sowie im Freundeskreis im Vordergrund.
Bei Bedarf soll ein passendes Hilfsangebot vermittelt werden.
15.2 Psychosomatische Aspekte im Diagnose- und Behandlungsverlauf
Konsensbasiertes Statement 15.S65
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Diagnose erfolgt häufig in der sensiblen Phase der Pubertät, welche durch Unsicherheit im Selbstbild, Entwicklung der eigenen Identität sowie physische, soziale und kognitive Veränderungen gekennzeichnet ist. Die behandelnden Ärzte sind sowohl für die Betroffene als auch ihre Begleiter ein erstes Rollenvorbild in der Kommunikation von und im Umgang mit der Fehlbildung.
Konsensbasierte Empfehlung 15.E62
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
In der somatischen Diagnostik und bei Diagnosemitteilung soll behutsam vorgegangen werden. Es soll besonders auf die Wortwahl in der Bezeichnung und Beschreibung der Fehlbildung geachtet werden, um einer möglichen Verunsicherung der Betroffenen in ihrem Selbstbild entgegenzuwirken. Gleichzeitig soll eine anzunehmende Belastung der Betroffenen angesprochen und ggf. aufgegriffen werden.
Es soll darauf geachtet werden, dass neben ausführlichen, altersgemäßen, laienverständlichen, medizinischen Informationen zur diagnostizierten Fehlbildung gleichwertig dargestellt wird, worin die Betroffene allen anderen Mädchen/Frauen gleicht.
Zur emotionalen und sozialen Unterstützung der Betroffenen soll je nach Alter den Eltern/Vertrauenspersonen sowie eventuellen Partnern/Partnerinnen bei Zustimmung der Betroffenen angeboten werden, bei Arztgesprächen anwesend zu sein. Auf ihre Themen und Fragen soll ebenfalls eingegangen werden.
15.3 Psychosomatische Diagnostik
Konsensbasierte Empfehlung 15.E63
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Patientinnen sollen bei anhaltender psychischer Belastung, bei vorhandenen Risikofaktoren für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung (psychosoziale Belastungen, frühere psychosomatische/psychiatrische Erkrankung), bei aktueller psychischer Komorbidität oder auf Wunsch der Betroffenen eine eingehende psychosomatische Diagnostik und ggf. psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung erhalten. Eine routinemäßige psychosomatische Untersuchung bzw. Behandlung aller Patientinnen scheint nicht notwendig.
15.4 Spezielle Vorgehensweisen/Situationen: Kinder und Jugendliche
Eine altersgemäße und wiederholte Besprechung der Diagnose mit Kindern und Jugendlichen ist wichtig und unterscheidet sich nach Zeitpunkt der Diagnosestellung und Auswirkungen der Fehlbildung:
15.5 Fehlbildung des äußeren Genitales
Durch die äußerliche Sichtbarkeit ist eine frühe Diagnosestellung möglich, i. d. R. in der frühen Kindheit. Hier ist eine kontinuierliche altersgemäße Unterstützung notwendig.
15.6 Fehlbildung des Genitales mit Auswirkungen auf die Pubertät und/oder Sexualität
Diese werden meist erst spät (in der Pubertät) diagnostiziert. Die Diagnosebesprechung sollte im Beisein einer Vertrauensperson erfolgen. Die Einbeziehung des Partners wird oft gewünscht und positiv erlebt.
Konsensbasiertes Statement 15.S66
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die Diagnose einer genitalen Fehlbildung kann insbesondere Kinder und Jugendliche verunsichern und belasten. Die Themen berühren die Intimsphäre der Betroffenen, was schambesetzt sein kann.
Konsensbasierte Empfehlung 15.E64
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Es soll auch bei minderjährigen Betroffenen die Anwesenheit der Eltern/Erziehungsberechtigten thematisiert und den Betroffenen ein vertrauliches Gespräch angeboten werden.
15.7 Spezielle Vorgehensweisen/Situationen: operative Behandlung zur Anlage einer Vagina
Für die operative Anlage einer Vagina ist eine emotionale bzw. sexuelle Reife eine wichtige Voraussetzung. Hierzu scheint ein Alter von 16 – 18 Jahren günstig zu sein.
Konsensbasiertes Statement 15.S67
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die emotionale bzw. sexuelle Reife ist für die Compliance der Betroffenen nach Operation einer Vaginalaplasie eine wichtige Voraussetzung.
Konsensbasierte Empfehlung 15.E65
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Die operative Behandlung zur Anlage einer Vagina soll mit den Betroffenen zusammen geplant werden. Dabei scheint weder eine frühe (vor emotionaler/sexueller Reife) noch späte Behandlung günstig.
Ein i. d. R. notwendiges Tragen eines Dilatators soll mit den Patientinnen vor Behandlungsbeginn ausführlich vorbesprochen und nach der Operation in der Klinik mit geschultem Fachpersonal eingeübt werden.
15.8 Psychosomatische Interventionen
Während rückblickend Betroffene von einem hohen Unterstützungsbedarf direkt nach Diagnosestellung sprechen, scheint zu diesem Zeitpunkt die Hürde zur Inanspruchnahme hoch. Die regelhafte Vorstellung psychosomatischer Beratungs-und Unterstützungsangebote sowie die Herstellung des Kontakts zu (altersgleichen) Betroffenen scheint hilfreich [8], [9].
Konsensbasiertes Statement 15.S68
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Psychosomatische Interventionen können Betroffene unterstützen, mit der Fehlbildung besser zurechtzukommen. Die Schwelle, diese in Anspruch zu nehmen, scheint hoch.
Konsensbasierte Empfehlung 15.E66
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Für ein regelhaftes psychosomatisches Beratungs- und Behandlungsangebot sollte ein niederschwelliger Zugang gewählt werden. Auf Beratungsangebote sollte baldmöglichst nach Diagnosestellung hingewiesen werden.
Für belastete Frauen mit MRKHS sind 2 evaluierte spezifische psychotherapeutische Interventionen beschrieben, an welchen sich Unterstützungsangebote für belastete Patientinnen orientieren sollten. Für Frauen mit anderen genitalen Fehlbildungen fehlen bislang spezifische evaluierte Programme.
15.9 Selbsthilfeangebote/Vernetzung
Konsensbasiertes Statement 15.S69
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Es existieren Selbsthilfegruppen für verschiedene Fehlbildungen. Der Austausch mit anderen Betroffenen wird als sehr entlastend und hilfreich erlebt.
Konsensbasierte Empfehlung 15.E67
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Frauen mit genitalen Fehlbildungen sollen frühzeitig nach Diagnosesicherung mit anderen Betroffenen in Kontakt kommen können. Behandlungszentren sollen Kontakte von Betroffenen über z. B. Selbsthilfetage oder Onlineangebote (z. B. geschlossene Foren) ermöglichen.
16 Tumorrisiko
Risiko für Blasentumoren bei Extrophiepatienten
Konsensbasiertes Statement 16.S70
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Das Vorliegen einer genitalen Fehlbildung kann mit einem erhöhten Tumorrisiko (Blasenextrophie) assoziiert sein oder typische Symptome verschleiern (Endometriumkarzinom). Auch in einer Neovagina wurde die Entstehung eines Tumors beschrieben.
Konsensbasierte Empfehlung 16.E68
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
An die Möglichkeit einer Koinzidenz von uterovaginaler Fehlbildung und Endometriumkarzinom sollte gedacht werden.
Nach Neovaginaanlage sollte eine Vorsorge wie bei Patientinnen ohne Fehlbildung erfolgen.
Bei asymptomatischen Patientinnen mit genitaler Fehlbildung und Blasenaugmentation soll eine jährliche Nachsorge ab 10 Jahre postoperativ mit Endoskopie der Blase und Sonografie empfohlen werden. Liegen Symptome wie Makrohämaturie oder zunehmende Hydronephrose vor, soll eine zeitnahe diagnostische Abklärung erfolgen.
Tumorrisiko bei „Disorder of sex development“ (DSD)
Konsensbasiertes Statement 16.S71
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Aktuelle Untersuchungen bestätigen ein erhöhtes Risiko für TSPY-positive DSD-Varianten.
Siehe auch „174-001 Leitlinie variante Geschlechtsentwicklung“
Konsensbasierte Empfehlung 16.E69
Expertenkonsens
Konsensusstärke +++
Da sich viele Tumoren aber erst im Jugend- oder Erwachsenenalter entwickeln, sollten die Gonaden nicht mehr unreflektiert im Kindesalter entfernt werden. Im Kindesalter böte sich eine Biopsie im Rahmen einer Orchidopexie oder anderer chirurgischer Maßnahmen an. Wichtig ist dabei eine entsprechende Aufarbeitung der Proben wie in der Langfassung beschrieben, um Fehleinschätzungen zu vermeiden. Auch im Jugend- und Erwachsenenalter sollte jede Entscheidung zur Gonadektomie individuell erfolgen unter Berücksichtigung o. g. Risikofaktoren. Belässt man Gonaden, die ein erhöhtes Risiko für eine Tumorentwicklung haben, sollte ein jährliches Screening erfolgen mittels Palpation und Ultraschall.