Z Sex Forsch 2021; 34(02): 118-119
DOI: 10.1055/a-1476-9188
Buchbesprechungen

Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes

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Robert Koch-Institut, Hrsg. Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis. Berlin: RKI 2020. doi:10.25646/6585. 392 Seiten, kostenloses Online-Dokument

Die Gesundheitsberichterstattung (GBE) hat die Aufgabe, diverse Aspekte der Gesundheit (z. B. Gesundheitsverhalten, Risikofaktoren, Krankheiten, Gesundheitsversorgung, Gesundheitskosten) mit Blick auf die Allgemeinbevölkerung zu erfassen und zu interpretieren. Ziel der GBE ist es, Politik, Gesundheitswesen, Wissenschaft und interessierte Öffentlichkeit umfassend und aktuell zu informieren. Als Datengrundlage stützt sich die GBE auf Monitoring-Studien, amtliche Statistiken, Krankheitsregister, Krankenkassenberichte und Ergebnisse der medizinischen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Das Robert Koch-Institut (RKI) und das statistische Bundesamt (Destatis) sind maßgeblich mit der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland befasst (www.rki.de/gbe). So liegen vom RKI einschlägige Berichte unter anderem zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen (KiGGS-Studie: www.kiggs-studie.de), zur Erwachsenen-Gesundheit (DEGS-Studie: www.degs-studie.de) sowie speziell zur gesundheitlichen Lage von Männern (RKI 2014) und von Frauen (RKI 2020) vor. Vor allem der letztgenannte aktuelle Bericht ist Gegenstand dieser Besprechung. Alle Berichte sind kostenlos im Internet abrufbar. Aus sexualwissenschaftlicher Sicht interessant ist die Frage, inwiefern die GBE in ihren zentralen Berichten auch auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit der Bevölkerung eingeht und welche Befunde sie dazu vorlegt.

Die KiGGS-Studie und die DEGS-Studie widmen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit relativ wenig Aufmerksamkeit. In den Männer- und Frauengesundheitsberichten nimmt sie jedoch größeren Raum ein.

Der Bericht zur gesundheitlichen Lage der Männer (RKI 2014; Download über www.rki.de) gliedert sich in 8 Kapitel, wobei vier Unterkapitel auf Sexualität Bezug nehmen: Thematisiert werden Sexual- und Fertilitätsstörungen (Kapitel 2.6), sexuell übertragbare Infektionen (Kapitel 2.7), sexualisierte Gewalt als eine Unterform von Gewalt (Kapitel 3.6) und gleichgeschlechtliche Lebensformen (Kapitel 5.2.4). Der Bericht geht nicht nur darauf ein, wie verbreitet die genannten Phänomene bei Männern in Deutschland sind, sondern thematisiert auch mögliche Ursachen sowie Effekte auf die Lebensqualität.

Der neue Bericht zur gesundheitlichen Lage der Frauen (RKI 2020; Download über www.rki.de) ist in zehn Kapitel aufgeteilt und fast doppelt so lang wie der Männergesundheitsbericht. Er bezieht sich auf alle Menschen, die sich als Mädchen oder Frauen identifizieren und adressiert ausdrücklich auch transgeschlechtliche Frauen, obwohl die Datenlage zur geschlechtlichen Vielfalt oft noch sehr unbefriedigend ist. Besonderheiten der Frauengesundheit werden in einem bio-psycho-sozialen Modell behandelt, das heißt, gesellschaftliche Verhältnisse und Geschlechterrollen werden einbezogen. Auch wird betont, dass aus der Perspektive der Frauengesundheit nicht nur die Unterschiede zur Männergesundheit interessieren (differences between), sondern es im Sinne von Intersektionalität auch um die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Frauen geht (differences within). Eigene Kapitel sind jüngeren sowie älteren Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund und Frauen mit Behinderungen gewidmet.

Der sexuellen und reproduktiven Gesundheit wird im Frauengesundheitsbericht relativ viel Aufmerksamkeit geschenkt: Kapitel 7 behandelt auf rund 40 Seiten ganz allgemein die sexuelle Gesundheit von Frauen einschließlich sexueller Funktionsstörungen und sexuell übertragbarer Infektionen, Familienplanung und Verhütung, Schwangerschaftsabbruch, ungewollter Kinderlosigkeit, Schwangerschaft und Geburt. Zudem wird die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Mädchen (Kapitel 3.3) sowie von Frauen mit Behinderungen (Kapitel 9.6) in einzelnen Unterkapiteln herausgearbeitet. Bedauerlich ist, dass entsprechende Unterkapitel zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund und älteren Frauen fehlen. Sexuelle Gewalt wird umfassend behandelt (Kapitel 3.3.4; Kapitel 8).

Der RKI-Bericht zur gesundheitlichen Lage der Frauen in Deutschland und insbesondere seine Kapitel zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Mädchen und Frauen sind durchgängig sehr gut lesbar, wohlstrukturiert und enthalten teilweise auch Info-Boxen mit Begriffsklärungen (z. B. zu „asexuell“ oder „queer“) sowie Exkurs-Boxen (z. B. zu Körpermodifikationen). Viele Tabellen und Grafiken lockern den Text auf. Es wird umfassend auf wissenschaftliche Quellen verwiesen. Zum Nachschlagen und zur Orientierung ist das Werk sehr empfehlenswert. Als Limitation ist zu vermerken, dass bestimmte Gruppen von Frauen weitgehend oder gänzlich ausgeblendet bleiben. Bei einigen Bevölkerungsgruppen wird dieser Mangel zumindest angesprochen (z. B. queere Frauen, wohnungslose Frauen, drogengebrauchende Frauen, hochbetagte Frauen über 85 Jahre), andere Frauengruppen bleiben völlig unsichtbar (z. B. Sexarbeiterinnen, inhaftierte Frauen, Mädchen und Frauen in Flüchtlingslagern bzw. Erstaufnahmeeinrichtungen). Insgesamt ist es erfreulich festzustellen, dass im Kontext der allgemeinen Gesundheitsberichterstattung inzwischen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Mädchen und Frauen so viel Raum gegeben wird und hierbei geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Menschenrechte zunehmend konzeptuell einbezogen werden.

Abschließend seien drei kritische Anmerkungen erlaubt: Obwohl die Gesundheitsberichterstattung inzwischen einen explizit positiven Gesundheitsbegriff mit Konzepten wie Zufriedenheit und Lebensqualität aufgreift, wird die sexuelle Gesundheit leider immer noch nicht mit entsprechenden Konzepten bearbeitet. So bleibt im Frauengesundheitsbericht völlig offen, wie verbreitet sexuelle Zufriedenheit, Befriedigung und sexuelles Wohlbefinden unter Mädchen und Frauen in Deutschland sind. Das ist vermutlich ein Effekt der fehlenden Erfassung entsprechender „sexpositiver“ Basisdaten. Hier wird die neue bevölkerungsrepräsentative BZgA-Studie zur Erwachsenensexualität (GeSiD-Studie: www.gesid.eu) mehr Aufschluss bieten.

Der Frauengesundheitsbericht verweist an diversen Stellen auf gesundheitsbezogene Informations- und Selbsthilfeangebote im Internet und thematisiert vereinzelt auch Internetrisiken, etwa im Hinblick auf eine Verunsicherung des Körperbildes durch unrealistische Online-Vorbilder oder neue Formen der sexualisierten Online-Gewalt. Bedauerlich ist, dass es Gesundheits-Apps (z. B. Verhütungs-Apps) nicht in den Bericht geschafft haben. Auch die große – und nicht zuletzt anlässlich der Corona-Pandemie stark gewachsene – Bedeutung telemedizinischer Dienstleistungen bildet sich im Bericht nicht ab. Wie können Mädchen und Frauen besser versorgt und unterstützt werden, wenn sie während eines Lockdowns, in einer ländlichen Region oder bei mangelnder Mobilität rasch einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, sexuell viktimisiert und traumatisiert wurden, akut oder chronisch psychisch belastet sind oder eine komplizierte Schwangerschaft haben? Den in diesen und weiteren Kontexten nützlichen digitalen Möglichkeiten der gesundheitlichen Beratung und Versorgung würde man in einem aktuellen Frauengesundheitsbericht etwas mehr Gewicht wünschen.

Schließlich sind vereinzelt auch Inkonsistenzen und Lücken festzustellen. So moniert der Frauengesundheitsbericht an der einen Stelle, dass die Antibabypille der dritten und vierten Generation im Internet geradezu als „Lifestyle-Arzneimittel“ beworben wird (S. 194), was zu einer allzu positiven Wahrnehmung hormoneller Verhütung führen könne, konstatiert aber an anderer Stelle, dass vor allem bei jungen Frauen die Anwendung der Pille in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist (S. 264). Eine Auflösung dieser widersprüchlichen Informationen fehlt. Die gut belegte Pillenmüdigkeit der jungen Frauengeneration geht tatsächlich auch weniger mit einer idealisierenden Online-Pillen-Werbung einher, sondern mit einer Flut an reichweitenstarken pillenkritischen – bis geradezu „pillenphobischen“ – Beiträgen in Sozialen Medien, die im Bericht leider gar nicht erwähnt werden. Interessant wäre es auch gewesen, wenn der Frauengesundheitsbericht eine interpretative Brücke geschlagen hätte zwischen dem deutlichen Rückgang hormoneller Verhütung mittels Pille bei jungen Frauen (2011: 72 % auf 2018: 56 %; S. 277) und dem deutlichen Rückgang der Hormontherapie bei menopausalen Frauen (2000: 37 % auf 2018: 7 %; S. 271). Welche Rolle spielen „künstliche Hormone“ (v. a. Östrogene) im Leben von Mädchen und Frauen heute? Und ist es nicht erstaunlich, dass unter Frauen neuerdings das „hormonfreie“ Leben gefeiert wird (in Sozialen Medien z. B. unter dem Hashtag #hormonfrei), während sich Teilgruppen von Männern umgekehrt zunehmend freiwillig Hormone (v. a. Testosteron) künstlich zuführen? Die Gesundheitsberichte können derartigen Detail-Fragen natürlich nicht genauer nachgehen, sexualwissenschaftlich Interessierten aber durch ihre Fülle an spannenden und belastbaren Daten wertvolle Anhaltspunkte für weitere Überlegungen und Studien bieten.

Nicola Döring (Ilmenau)



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Article published online:
09 June 2021

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