Parkinson-Therapie: Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden
Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom handelt es sich um eine hochkomplexe und vielschichtige
Erkrankung. Sie hat verheerende Auswirkungen auf die Lebensqualität. Langsam schränkt
sie die körperliche, soziale und psychische Gesundheit der Patienten immer mehr ein.
Schon nach einigen Jahren des guten Ansprechens auf die Dopamin-Substitutionstherapie
können sich mit fortschreitender Erkrankung schwere motorische und nicht motorische
Symptome, Levodopafluktuationen, unvorhersehbare On- und Off-Schwankungen sowie Dyskinesien
entwickeln. Aspekte dieser Probleme und wie wir ihnen therapeutisch begegnen können,
werden in den Beiträgen dieses Themenheftes der Nervenheilkunde von Autoren aus unterschiedlichen
Perspektiven bearbeitet, alle vernetzt über eine Parkinson-Fachklinik. Dabei berührt
der Themenkreis Probleme, wo das Einstein zugeordnete Zitat die Situation gut trifft:
„Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden
kann, zählt.“
Mario Paulig beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der neuropsychiatrischen Domäne
der nicht motorischen Symptome, insbesondere den kognitiven, affektiven und Impulskontrollstörungen.
Die Auswirkungen der Symptome betreffen nicht nur die Lebensqualität, sondern belasten
das soziale Umfeld, führen Beziehungen an ihre Grenzen oder zerstören Grundlagen der
Erwerbsfähigkeit. Zwar ist die Datenlage zur Wirksamkeit und Sicherheit einzelner
Therapiemaßnahmen schlecht, allerdings zeigt sich in der Versorgung, dass bestimmte
medikamentöse und nicht medikamentöse Ansätze durchaus wirksam sind.
Dass die Erkrankung im Verlauf zu teilweise erheblichen Veränderungen im gesamten
sozialen Umfeld führt, trägt eine große Anzahl an aktuellen Studien zum Thema „Angehörigenarbeit
bei Parkinson“ bzw. „caregiver burden“ Rechnung. Das Thema wird in dem Beitrag von
Steffi Tucha und Bernd Leplow beleuchtet. Interessante typische „Angehörigen-Charaktere“
werden beschrieben. Ein Überblick über entsprechende Interventionsmöglichkeiten im
Einzel- bzw. Gruppensetting, die hilfreich sein können, Bewältigungsstrategien für
einen besseren Umgang mit den komplexen biopsychosozialen Effekten der Erkrankung
zu finden, wird präsentiert.
Der Bedarf an neuen Versorgungskonzepten bei Parkinson, an interdisziplinärer, berufsgruppenübergreifender
Zusammenarbeit über die Grenzen des stationären und ambulanten Sektors hinaus wird
am Beispiel des Münchner Parkinson-Netzwerkes von Kerstin Ziegler und Kollegen dargestellt.
Im Großraum München sollen Parkinson-Patienten in einem wissenschaftlich evaluierten
Modellvorhaben der AOK – Parkinson Netzwerk Therapie (PaNTher) – die Möglichkeit eines
sektorenübergreifenden Angebots erhalten. Dazu wird ein Netzwerk von ambulant tätigen
Neurologen und neu in Parkinson geschulter Physiotherapeuten aufgebaut.
Michael Messner bearbeitet das Restless-legs-Syndrom (RLS) bei Parkinson. Wenn gleich
das RLS losgelöst von Parkinson viel beachtet und behandelt wird, vernachlässigt man
das RLS bei Parkinson-Patienten, obwohl dessen Prävalenz beim idiopathischen Parkinson-Syndrom
im Vergleich zur Kontrollpopulation um ein Vielfaches höher ist. Parkinson-Patienten
mit RLS sind stärker betroffen und weisen höhere Scores in Depression, Angst, Schlafstörungen,
Fatigue und Apathie sowie reduzierte Transferrin- und Ferritinwerte im Serum auf.
Behandlungsansätze sind vorhanden. Selbst die tiefe Hirnstimulation soll sich positiv
auf das RLS bei Parkinson-Patienten auswirken.
Der Neurochirurg Walter Demmel und der Neurologe Robert Pfister bilden schon über
20 Jahre ein Team, das zunächst im Zentralklinikum Augsburg, seit 2010 im Städtischen
Krankenhaus München Schwabing und seit 2017 in der Schön Klinik Vogtareuth gemeinsam
über 300 beidseitige stereotaktische Elektrodenimplantationen durchgeführt hat. Sie
bereichern das Heft mit 2 Artikeln. In einem Artikel des Teams werden die Indikationen
für die tiefe Hirnstimulation und die Bedeutung von realistischen Therapiezielen erläutert,
denn letztere sind wesentlich für die postoperative Therapiezufriedenheit. Symptome,
die präoperativ nicht auf Levodopa ansprechen (z. B. Sprech-, Gang- und Gleichgewichtsstörungen
im On), werden auch nicht durch die tiefe Hirnstimulation gelindert. Einige nicht
motorische Symptome (Blasenstörungen, Schlafstörungen) können sich bessern, andere
(orthostatische Dysregulation, kognitive Symptome) nicht. Die Wirkung der tiefen Hirnstimulation
auf die Zielsymptome Rigor, Tremor und Hypokinese hält an, die Progredienz der neurodegenerativen
Erkrankung wird aber nicht aufgehalten. In dem weiteren illustrativen Beitrag des
Teams wird die gesamte OP-Prozedur behandelt, die in der Regel einen kompletten Arbeitstag
beansprucht, wovon allerdings nur ca. 3–4 Stunden auf die Elektrodenimplantation als
„Wach-OP“ entfallen.
Die tiefe Hirnstimulation gehört zusammen mit den Medikamentenpumpen zu den geräteunterstützten
Verfahren, die Patienten mit Levodopawirkungsfluktuationen als Behandlungsoption angeboten
wird. Der Druck ist hoch, denn Levodopawirkungsfluktuationen sind das am meisten störende
Symptom für viele Patienten schon nach wenigen Jahren eines guten Ansprechens auf
Levodopa. An diesem Punkt des Krankheitsverlaufs angekommen suchen Patienten auch
nach invasiven Therapien, die die Unabhängigkeit verlängern und optimieren können.
Um Patienten besser informieren zu können und am Entscheidungsprozess teilhaben zu
lassen, ist nicht nur das Wissen über das Vorgehen bei der tiefen Hirnstimulation
sowohl von neurologischer als auch von neurochirurgischer Seite wichtig, sondern auch
Kenntnisse zu den beiden anderen geräteunterstützten Therapien, den äußerlich tragbaren
Pumpen für die subkutane Apomophin- und die intestinale Levodopa-Infusion. Deshalb
wurde auf das mitunter stark industriegetriebene Thema der geräteunterstützten Therapien
in einem CME-Artikel vom Herausgeber mit besonderem Fokus auf das Spannungsfeld der
Indikation und Differenzialindikation eingegangen. Da ist der Ermessenspielraum für
den Patienten und Behandler groß. Bisher basiert die Wahl vielfach auf Faktoren wie
Verfügbarkeit, Wirtschaftlichkeit, lokale Expertise, Arztvorlieben sowie der Präferenzen
und Ängste der Patienten. Letztere sollten der Angelpunkt des Entscheidungsprozesses
sein. Jede geräteunterstützte Therapie hat spezifische Vor- und Nachteile. Die Wahl
einer Therapie erfordert daher einen sorgfältigen Beratungsprozess, bei dem die verfügbaren
wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Expertise des Klinikers sowie die Eigenschaften
und Präferenzen des einzelnen Patienten ausgewogen und gemeinsam die Entscheidung
leiten.
Ich wünsche eine anregende und fruchtbare Lektüre, neue Erkenntnisse, und dass diese
von Nutzen für die Behandlung unserer Patienten sind.
Andrés Ceballos-Baumann, München Schwabing