Nervenheilkunde 2021; 40(10): 747-749
DOI: 10.1055/a-1484-0622
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Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Andrés Ceballos-Baumann
 
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Prof. Dr. med. Andrés Ceballos-Baumann Schön Klinik München Schwabing Quelle: ©privat

Parkinson-Therapie: Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden

Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom handelt es sich um eine hochkomplexe und vielschichtige Erkrankung. Sie hat verheerende Auswirkungen auf die Lebensqualität. Langsam schränkt sie die körperliche, soziale und psychische Gesundheit der Patienten immer mehr ein. Schon nach einigen Jahren des guten Ansprechens auf die Dopamin-Substitutionstherapie können sich mit fortschreitender Erkrankung schwere motorische und nicht motorische Symptome, Levodopafluktuationen, unvorhersehbare On- und Off-Schwankungen sowie Dyskinesien entwickeln. Aspekte dieser Probleme und wie wir ihnen therapeutisch begegnen können, werden in den Beiträgen dieses Themenheftes der Nervenheilkunde von Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet, alle vernetzt über eine Parkinson-Fachklinik. Dabei berührt der Themenkreis Probleme, wo das Einstein zugeordnete Zitat die Situation gut trifft: „Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.“

Mario Paulig beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der neuropsychiatrischen Domäne der nicht motorischen Symptome, insbesondere den kognitiven, affektiven und Impulskontrollstörungen. Die Auswirkungen der Symptome betreffen nicht nur die Lebensqualität, sondern belasten das soziale Umfeld, führen Beziehungen an ihre Grenzen oder zerstören Grundlagen der Erwerbsfähigkeit. Zwar ist die Datenlage zur Wirksamkeit und Sicherheit einzelner Therapiemaßnahmen schlecht, allerdings zeigt sich in der Versorgung, dass bestimmte medikamentöse und nicht medikamentöse Ansätze durchaus wirksam sind.

Dass die Erkrankung im Verlauf zu teilweise erheblichen Veränderungen im gesamten sozialen Umfeld führt, trägt eine große Anzahl an aktuellen Studien zum Thema „Angehörigenarbeit bei Parkinson“ bzw. „caregiver burden“ Rechnung. Das Thema wird in dem Beitrag von Steffi Tucha und Bernd Leplow beleuchtet. Interessante typische „Angehörigen-Charaktere“ werden beschrieben. Ein Überblick über entsprechende Interventionsmöglichkeiten im Einzel- bzw. Gruppensetting, die hilfreich sein können, Bewältigungsstrategien für einen besseren Umgang mit den komplexen biopsychosozialen Effekten der Erkrankung zu finden, wird präsentiert.

Der Bedarf an neuen Versorgungskonzepten bei Parkinson, an interdisziplinärer, berufsgruppenübergreifender Zusammenarbeit über die Grenzen des stationären und ambulanten Sektors hinaus wird am Beispiel des Münchner Parkinson-Netzwerkes von Kerstin Ziegler und Kollegen dargestellt. Im Großraum München sollen Parkinson-Patienten in einem wissenschaftlich evaluierten Modellvorhaben der AOK – Parkinson Netzwerk Therapie (PaNTher) – die Möglichkeit eines sektorenübergreifenden Angebots erhalten. Dazu wird ein Netzwerk von ambulant tätigen Neurologen und neu in Parkinson geschulter Physiotherapeuten aufgebaut.

Michael Messner bearbeitet das Restless-legs-Syndrom (RLS) bei Parkinson. Wenn gleich das RLS losgelöst von Parkinson viel beachtet und behandelt wird, vernachlässigt man das RLS bei Parkinson-Patienten, obwohl dessen Prävalenz beim idiopathischen Parkinson-Syndrom im Vergleich zur Kontrollpopulation um ein Vielfaches höher ist. Parkinson-Patienten mit RLS sind stärker betroffen und weisen höhere Scores in Depression, Angst, Schlafstörungen, Fatigue und Apathie sowie reduzierte Transferrin- und Ferritinwerte im Serum auf. Behandlungsansätze sind vorhanden. Selbst die tiefe Hirnstimulation soll sich positiv auf das RLS bei Parkinson-Patienten auswirken.

Der Neurochirurg Walter Demmel und der Neurologe Robert Pfister bilden schon über 20 Jahre ein Team, das zunächst im Zentralklinikum Augsburg, seit 2010 im Städtischen Krankenhaus München Schwabing und seit 2017 in der Schön Klinik Vogtareuth gemeinsam über 300 beidseitige stereotaktische Elektrodenimplantationen durchgeführt hat. Sie bereichern das Heft mit 2 Artikeln. In einem Artikel des Teams werden die Indikationen für die tiefe Hirnstimulation und die Bedeutung von realistischen Therapiezielen erläutert, denn letztere sind wesentlich für die postoperative Therapiezufriedenheit. Symptome, die präoperativ nicht auf Levodopa ansprechen (z. B. Sprech-, Gang- und Gleichgewichtsstörungen im On), werden auch nicht durch die tiefe Hirnstimulation gelindert. Einige nicht motorische Symptome (Blasenstörungen, Schlafstörungen) können sich bessern, andere (orthostatische Dysregulation, kognitive Symptome) nicht. Die Wirkung der tiefen Hirnstimulation auf die Zielsymptome Rigor, Tremor und Hypokinese hält an, die Progredienz der neurodegenerativen Erkrankung wird aber nicht aufgehalten. In dem weiteren illustrativen Beitrag des Teams wird die gesamte OP-Prozedur behandelt, die in der Regel einen kompletten Arbeitstag beansprucht, wovon allerdings nur ca. 3–4 Stunden auf die Elektrodenimplantation als „Wach-OP“ entfallen.

Die tiefe Hirnstimulation gehört zusammen mit den Medikamentenpumpen zu den geräteunterstützten Verfahren, die Patienten mit Levodopawirkungsfluktuationen als Behandlungsoption angeboten wird. Der Druck ist hoch, denn Levodopawirkungsfluktuationen sind das am meisten störende Symptom für viele Patienten schon nach wenigen Jahren eines guten Ansprechens auf Levodopa. An diesem Punkt des Krankheitsverlaufs angekommen suchen Patienten auch nach invasiven Therapien, die die Unabhängigkeit verlängern und optimieren können. Um Patienten besser informieren zu können und am Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen, ist nicht nur das Wissen über das Vorgehen bei der tiefen Hirnstimulation sowohl von neurologischer als auch von neurochirurgischer Seite wichtig, sondern auch Kenntnisse zu den beiden anderen geräteunterstützten Therapien, den äußerlich tragbaren Pumpen für die subkutane Apomophin- und die intestinale Levodopa-Infusion. Deshalb wurde auf das mitunter stark industriegetriebene Thema der geräteunterstützten Therapien in einem CME-Artikel vom Herausgeber mit besonderem Fokus auf das Spannungsfeld der Indikation und Differenzialindikation eingegangen. Da ist der Ermessenspielraum für den Patienten und Behandler groß. Bisher basiert die Wahl vielfach auf Faktoren wie Verfügbarkeit, Wirtschaftlichkeit, lokale Expertise, Arztvorlieben sowie der Präferenzen und Ängste der Patienten. Letztere sollten der Angelpunkt des Entscheidungsprozesses sein. Jede geräteunterstützte Therapie hat spezifische Vor- und Nachteile. Die Wahl einer Therapie erfordert daher einen sorgfältigen Beratungsprozess, bei dem die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Expertise des Klinikers sowie die Eigenschaften und Präferenzen des einzelnen Patienten ausgewogen und gemeinsam die Entscheidung leiten.

Ich wünsche eine anregende und fruchtbare Lektüre, neue Erkenntnisse, und dass diese von Nutzen für die Behandlung unserer Patienten sind.

Andrés Ceballos-Baumann, München Schwabing


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Article published online:
05 October 2021

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Prof. Dr. med. Andrés Ceballos-Baumann Schön Klinik München Schwabing Quelle: ©privat