Psychiatr Prax 2021; 48(06): 283-285
DOI: 10.1055/a-1545-9441
Editorial

Long-COVID/Post-COVID – Epidemiologie, mögliche Ursachen und Rehabilitationsbedarf psychischer Probleme

Long Covid/Post Covid – Epidemiology, Possible Causes and Need for Rehabilitation for People with Mental Health Problems
Dirk Richter
1   Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit, Bern, Schweiz
2   Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Zentrum Psychiatrische Rehabilitation, Bern, Schweiz
3   Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bern, Schweiz
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Simeon Zürcher
2   Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Zentrum Psychiatrische Rehabilitation, Bern, Schweiz
3   Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bern, Schweiz
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Dirk Richter
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Simeon Zürcher

„Das postvirale Syndrom ist eine Mischung aus organischer und psychiatrischer Erkrankung, und die definitive Bestätigung einer viralen Ätiologie wird die psychiatrischen Symptome der Betroffenen nicht verringern.“ Zu diesem Schluss kam bereits ein Übersichtsartikel über psychische Probleme nach einer Viruserkrankung aus dem Jahr 1987 [1]. Und auch nach der letzten großen Ebola-Epidemie wurde berichtet, dass ungefähr ein Viertel aller Überlebenden dieser sehr tödlichen Infektion unter Angst- und Depressionssymptomen sowie unter erheblichen kognitiven Problemen litten [2]. Allerdings wurde allgemein von einer Unterschätzung der psychischen Auswirkung der Epidemie ausgegangen. Im Großen und Ganzen haben diese Befunde Gültigkeit für die Long-COVID-Problematik.

Das Long-COVID-Syndrom (auch Post-COVID-/Post-Akut-Syndrom genannt) ist also keine Besonderheit im Rahmen des weltweiten Infektionsgeschehens mit SARS-CoV-2. Postvirale Probleme generell sowie psychische Probleme im Speziellen waren vorherzusehen. Umso überraschender ist die initial geringe Aufmerksamkeit für diese Thematik, die auch bei den Begründungen des Lockdowns im Jahr 2020 keine Rolle spielte [3]. Möglicherweise jedoch wird das Long-COVID-Syndrom eine der großen Herausforderungen für die Gesundheitssysteme und Sozialversicherungen in den kommenden Jahren werden.

Epidemiologie psychischer Long-COVID-Probleme

Das Long-COVID-Syndrom ist ein Krankheitsgeschehen, das nahezu sämtliche Organe des menschlichen Körpers befallen kann. Neben dem respiratorischen System sind insbesondere das Nervensystem, das kardiovaskuläre System und das gastrointestinale System betroffen [4]. Bemerkenswert sind darüber hinaus die Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität, die extrem vermindert sein kann. Ein entscheidender Faktor ist hier neben den Erkrankungen der bereits genannten Organsysteme die für Infektionserkrankungen typische Erschöpfung und Müdigkeit, welche üblicherweise als Fatigue bezeichnet wird. Auch die Fatigue, die oft zusammen mit körperlichen Problemen und psychischen Störungen auftritt, ist von früheren Epidemien bereits bekannt gewesen [5].

Bezüglich der Epidemiologie postviraler psychischer Probleme stellen sich diverse methodische Herausforderungen. Zunächst einmal muss geklärt sein, ab welchem Zeitpunkt von Long-COVID gesprochen werden kann. Einem kürzlichen Vorschlag aus Großbritannien folgend, halten wir eine Phasenfolge von akut (bis 4 Wochen), andauernd (4–12 Wochen) und Post-Erkrankung (mehr als 12 Wochen) für angemessen [6]. Weitgehend fehlend sind klare Standardisierungen bezüglich Assessment und Diagnostik von Long-COVID. Diese würden sowohl für die Forschung als auch für die Dokumentation in Behandlung und Rehabilitation von großer Bedeutung sein, wo gegenwärtig zum Teil widersprüchliche Daten berichtet werden. Sodann besteht eine weitere Herausforderung darin, die erheblichen Qualitätsunterschiede in den epidemiebezogenen Psychiatriepublikationen zu minimieren. Epidemiologische Übersichten haben hier sowohl hinsichtlich früherer Epidemien [7] als auch bei COVID-19 [8] massive Diskrepanzen berichtet.

Im Rahmen einer als Preprint veröffentlichten Metaanalyse haben wir die in [ Tab. 1 ] dargestellten gepoolten Prävalenzen für postvirale psychische Probleme ermittelt [9]. Milde psychische Probleme (z. B. Cut-offs PHQ-9 oder GAD-7 ≥ 5) wurden in der Post-Erkrankungsphase von 39 % der infizierten Personen berichtet. Schwerere psychische Probleme (Cut-off ≥ 10) wurde bei 19 % der infizierten Patientinnen und Patienten nach 12 und mehr Wochen festgestellt. Die Resultate für einen Long-COVID-Verlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus unterschieden sich nicht generell von früheren Epidemien. Speziell über Long-COVID-Verläufe ist jedoch bekannt, dass es einen Zusammenhang mit der Schwere der COVID-19-Erkrankung gibt (beispielsweise Hospitalisation und Intensivbehandlung) und dass Frauen eher davon betroffen sind [10] [11].

Tab. 1

Gepoolte Prävalenzraten postviraler psychischer Probleme; Quelle: [9].

milde Symptomatik (Prozent, 95 %-Konfidenzintervall)

moderate bis schwere Symptomatik (Prozent, 95 %-Konfidenzintervall)

akut

46,3 (39,0–53,8)

22,3 (17,3–27,8)

andauernd

35,5 (18,7–54,3)

17,3 (10,7–25,1)

Post-Erkrankung

38,8 (33,6–44,1)

18,8 (23,4–25,0)


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Mögliche Ursachen psychischer Long-COVID-Probleme

Angesichts der Vielfältigkeit und der teils geringen Spezifität der Symptome, die sich auf ein allgemeines Unwohlsein und eine verminderte Lebensqualität beziehen, steht die Ursachenforschung noch am Anfang. Aktuell sehen wir die folgenden ursächlichen Konstellationen. (1) Auf der biologischen Ebene sind inflammatorische Prozesse als Reaktion auf die Infektion bekannt für neuropsychiatrische Konsequenzen. Ein solcher Zusammenhang ist verschiedentlich für depressive Störungen und kognitive Funktionseinbußen berichtet worden [12]. (2) Psychische und biologische Prozesse werden zusammen mit sozialen Erfahrungen gemeinhin für ein sog. Post-Intensivbehandlungs-Syndrom (Post-ICU-Care-Syndrome) verantwortlich gemacht. Dies beschreibt, unabhängig von der Pathophysiologie, die Auswirkungen nach einem lebensbedrohlichen Ereignis wie der Intensivbehandlung, die womöglich noch mit einer maschinellen Beatmung einhergeht. Angst, Depression, posttraumatisches Erleben, aber auch Delir und Demenz, können mit einem solchen Syndrom verbunden sein [13]. Die erhebliche Prävalenz covidbedingter Intensivbehandlungen trägt vermutlich sehr zu dieser Belastung bei. (3) Psychische Probleme können sich vermutlich jedoch auch ohne die zuvor genannten Konstellationen im Rahmen einer Long-COVID-Erkrankung entwickeln. Sie sind einer großen amerikanisch-britischen Studie zufolge weniger deutlich an Biomarker gebunden als etwa neurologische Krankheitsbilder [14]. Es ist leicht vorstellbar, dass die Erfahrung permanenter Atemprobleme, Erschöpfung, Müdigkeit und kognitiver Einschränkungen zu depressiven oder ängstlichen Reaktionen mit der Frage führen kann, ob das frühere Leben jemals wieder zurückkehrt. (4) Nicht unwahrscheinlich sind darüber hinaus verschiedene Kombinationen der zuvor genannten Konstellationen.


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Psychiatrischer Rehabilitationsbedarf bei Long-COVID

Die in der Literatur berichteten Daten über die Prävalenz und die andauernden Einschränkungen durch covidbedingte körperliche und psychische Probleme legen nahe, dass mit einer erheblichen Beeinträchtigung und vermutlich auch mit sozialrechtlich relevanter Behinderung gerechnet werden muss. Für Großbritannien wird etwa davon ausgegangen, dass 30 % der covidbedingten Krankheitslast (burden of disease) nicht durch Mortalität, sondern durch Behinderung verursacht wird [15]. In der Konsequenz bedeutet dies sowohl einen aufwendigen somatischen wie auch einen entsprechenden psychiatrischen resp. neuropsychiatrischer Rehabilitationsbedarf. Dieser bezieht sich gemäß einer schwedischen Studie insbesondere auf Problemlagen der Müdigkeit und Konzentrationsfähigkeit [16].

Angesichts der zu erwartenden Kosten für Krankheitsausfall, Rehabilitation und vermutlich Berentung ist mit einer massiven Diskussion um die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der psychischen Folgen des Long-COVID zu rechnen. Schon jetzt zeichnet sich dies analog zur Diskussion um das Chronic Fatigue Syndrome (CFS) im angelsächsischen Raum ab [17]. Aber auch die Psychiatrie im D-A-CH-Raum wird sich damit auseinandersetzen müssen, unter anderem aufgrund gutachterlicher Fragestellungen [18]. Es bleibt zu hoffen, dass die hohe Krankheitslast den Anstoß dazu gibt, hierzulande die notwendigen Forschungsanstrengungen zu finanzieren, die es braucht, um viele dieser Fragen zu Long-COVID zu klären.


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. phil. habil. Dirk Richter
Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit
Murtenstraße 10
3008 Bern
Schweiz   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. September 2021

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