Erfahrungsheilkunde 2021; 70(05): 246-248
DOI: 10.1055/a-1606-8914
Wissen
Interview

Schüßler-Salze in der modernen Regulationstherapie

„Schüßler-Salze sind eine Domäne bei funktionellen und Befindlichkeitsstörungen.“ Ein Gespräch mit Peter Emmrich
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(© Gerhard Seybert/stock.adobe.com)

„Mit Schüßler-Salzen können wir bei funktionellen Störungen regulativ eingreifen.“

Lassen Sie uns mit einer grundlegenden Frage starten: Was genau versteht man unter der Therapie mit Schüßler-Salzen?

Unter der Therapie mit Schüßler-Salzen versteht man die praktische Anwendung von Mineralsalzverbindungen, die in jedem Organismus vorkommen. Wilhelm Heinrich Schüßler deutete Krankheitssymptome als eine Fehlverteilung von Mineralien außerhalb und innerhalb der Zellwand. Er ging davon aus, dass der Mineralstoffhaushalt wieder ins Gleichgewicht gebracht werden muss und dadurch ein Regulationsprozess in Gang gebracht wird, der zur Heilung führen kann.Deshalb bezeichnete Schüßler seine Mittel auch als „biochemische Funktionsmittel“: Es handelt sich um Mineralien, die in jeder Körperzelle vorkommen.

Wie unterscheidet sich die Therapie mit Schüßler-Salzen von der Homöopathie?

Schüßler selbst war zunächst homöopathisch tätig. Er verabreichte seine biochemischen Funktionsmittel wie in der Homöopathie potenziert, weil er der Ansicht war, sie sind im Körper vorhanden und müssten lediglich wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Anders als in der Homöopathie wählte er die Mittel aber nicht nach dem Ähnlichkeitsprinzip aus, sondern abhängig von der physiologisch-biochemischen Verteilungsstörung. Er selbst bezeichnete seine Therapie zunächst als eine „verkürzte homöopathische Therapie“, da er sich auf 12 Mittel beschränkte. Später positionierte er sie als eine biochemische Therapie.

Und wo liegt der Unterschied zur orthomolekularen Therapie?

Die orthomolekulare Medizin geht zum einen über die Mineralien hinaus. Es werden also auch Vitamine, Spurenelemente usw. eingesetzt. Zum anderen werden Nährstoffe, die im Defizit liegen, substanziell substituiert. Durch moderne Messmethoden können wir heute anders als Schüßler Defizite diagnostizieren und fehlende Nährstoffe auffüllen.

Sie haben gemeinsam mit dem Historiker Gert Oomen eine Biografie über Dr. Wilhelm Heinrich Schüßler geschrieben. 2021 wäre sein 200. Geburtstag. Was hat Sie am Thema, am Menschen, am Arzt Schüßler fasziniert?

Schüßler war ein Mensch, der in alle Richtungen dachte. Er war ein „Querdenker“ im positiven Sinne. Er dachte anders, als die damals bestehenden Leitvorgaben in der etablierten Medizin es vorsahen. Schüßler hatte z. B. erkannt, dass Kalium, Kalzium, Magnesium, Natrium ganz wichtig sind. Heute wissen wir, dass jede Zelle eine Natrium-Kalium-Pumpe hat. Man kann sagen, er war ein Pionier der ersten Stunde. Er bezog in seine Überlegungen die damals bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse ein. Beispielsweise die Erkenntnisse des niederländischen Arztes Jacob Moleschott zum Zusammenhang zwischen Phosphor und Gehirnleistung. Sein Satz „Ohne Phosphor kein Gedanke“ faszinierte ihn. Stark beeinflusst hat ihn auch der Pathologe Rudolf Virchow mit seiner Zellularpathologie. Seine Erkenntnisse zur Bedeutung der Zelle als kleinste funktionsfähige Einheit, die für alle Lebensvorgänge und für die Entstehung von Krankheiten verantwortlich ist, prägten Schüßler. Bis dahin galt ja noch die Humoralpathologie, die eine gestörte Verteilung der vier Säfte als krankmachende Ursache postulierte und die seit Hippokrates Bestand hatte.

Warum begann Schüssler sich von der Homöopathie abzuwenden?

1858 veröffentlichte Rudolf Virchow seine Zellularpathologie, im gleichen Jahr eröffnete Schüßler seine Praxis in Oldenburg. Er arbeitete 14 Jahre lang homöopathisch, stieß aber immer wieder an Grenzen.Neben Moleschott und Virchow war der Chemiker Prof. Justus von Liebig die dritte Person, von der Schüßler besonders in seinem Denken beeinflusst wurde. Liebig hatte erkannt, dass Pflanzen, die nie gedüngt werden, immer weniger Ertrag bringen. Er sah die Bedeutung von Nährstoffen für lebende Organismen, aber auch den Zusammenhang zur Existenzgrundlage der Menschen, nämlich auf diese Weise Hungersnöte vermeiden zu können. Das führte Schüßler zu der Überlegung, wie er seine Patienten sozusagen „düngen“ könnte.

Schüßler kehrte der Homöopathie dann den Rücken?

Er ist ganz einfach an Grenzen gestoßen. Schüßler verfasste auch kritische Schriften zur Homöopathie, in denen er seine Überlegungen und Beobachtungen veröffentlichte. Er ging davon aus, dass Krankheiten entstehen, wenn eine Mangelsituation oder etwas Überflüssiges, Schädliches vorliegt. Er kritisierte an der Homöopathie, dass sie Mangelsituationen nicht berücksichtigt und man in solchen Fällen auf zellulärer Ebene behandeln müsse. Daraus ergab sich die Frage, ob es möglich sei, Krankheiten mit natürlich im Organismus vorkommenden Substanzen zu heilen, den physiologischen Funktionsmitteln.Er hatte z. B. einen Patienten, der unter einer Rückenmarksschwindsucht litt, erfolglos homöopathisch behandelt. Schüßler hat daraufhin Rückenmark vom Schwein aufbereitet, eine Organsubstanz hergestellt und dem Patienten verabreicht. Der Patient wurde gesund. Schüßler führte die Genesung darauf zurück, dass das erkrankte Rückenmark durch die Zuführung des Fehlenden heilen konnte.

Wie hat er dann die Schüßler-Salze entwickelt?

Er hat durch Beobachtung viele Erfahrungen gesammelt und auch durch Anwendung an Patienten, bei denen er mit der etablierten Therapie an Grenzen gestoßen war. Und er hat mit verschiedenen „Dosierungen“ experimentiert. Zum Beispiel gab er Eisen zunächst als D3, dann als D6 und fand heraus, dass Eisen nicht zu niedrig dosiert gegeben werden darf. Schüßler handelte nach dem Grundsatz, dem Patienten nicht zu schaden. Deshalb verabreichte er potenziell schädliche Substanzen potenziert als D12.Heute wissen wir, dass Eisen bei jeder Entzündung im Körper mobilisiert wird, wir können im Blut das Serumeisen bestimmen, bei Entzündungen ist es erhöht. Dauert eine Entzündung lange an, kann ein Patient in einen Eisenmangel geraten. Das können wir heute messen, zur Zeit Schüßlers war das noch nicht möglich.

Haben Sie ein Beispiel, wie er seine Beobachtungen umgesetzt hat?

Wir wissen heute, dass Kalzium das Mineral ist, das am meisten im Körper vorkommt, v. a. im Knochen, aber nur zu einem Prozent als freies Kalzium. Das heißt, es liegt zum größten Teil in gebundener Form vor. Diesen Zusammenhang hat Schüßler vermutet. Er erkannte, dass Kalzium ein tief wirkendes Mittel ist, insbesondere bei chronisch-entzündlichen Prozessen, die wir heute als „Inflammation“ bezeichnen. Diese Prozesse hat Schüßler damals bereits beobachtet und schloss daraus, dass es Mittel braucht, die tiefer in das Gewebe eindringen.Heute kennen wir die Ursache einer Silent Inflammation, nämlich dass sich der Körper in einem Dauerentzündungszustand befindet. Dabei fließt Kalzium verstärkt in die Zelle ein, was wiederum die Entzündung immer wieder neu anfacht, das Kalziumion in die Zelle fließen lässt – ein Circulus vitiosus. Wir wissen heute auch, dass etwa 6–8 Wochen nach einem grippalen Infekt die meisten Herzinfarkte auftreten. Man vermutet, dass entzündliche Prozesse an der Intima dafür verantwortlich sind.Das hat Schüßler natürlich noch nicht gewusst, aber er hat dem Kalzium eine große Bedeutung beigemessen und deshalb von seinen zwölf Salzen drei als Kalziumverbindungen gewählt.

Wie war die Resonanz seiner ärztlichen Kollegen auf seine Entwicklungen?

Am Anfang waren sie entsetzt, auch weil Schüßler seine Entwicklungen als abgekürzte Therapie bezeichnete. Die Kollegen warfen ihm vor, die Lehre Hahnemanns und seiner Nachfolger mit einem Federstrich zu beenden. Besonders kritisierten sie die fehlende Arzneimittelprüfung. Damals war beispielsweise Magnesium noch nicht geprüft, was ihm die Kollegen ankreideten. Aber Schüßler fand heraus, dass Magnesium das wichtigste Mittel bei Muskelkrämpfen und Schmerzen ist. Er entgegnete, dass es nicht auf die Arzneimittelprüfung ankomme, sondern dass er er sich rein auf die physiologische Verteilungsstörung eines Minerals beziehe.Schüßler erhielt allerdings Unterstützung von zwei Professoren aus dem fernen Amerika: Prof. William Boericke und Prof. Willis Alonso Dewey. Die beiden Homöopathen standen der Methode Schüßlers sehr aufgeschlossen gegenüber. In einem Buch haben sie ihre Erfahrungen und Fallberichte von Ärzten aus aller Welt zusammengetragen, mit großem Erfolg. Das von ihnen verfasste Lehrbuch zu den 12 Schüßler-Salzen wurde zum weltweit meistgelesenen Buch zur Schüßler-Salz-Therapie. Das hat zu Schüßlers Rehabilitierung beigetragen.

Die Therapie mit Schüßler-Salzen wird bis heute angewendet. Hat sie noch ihre Berechtigung in der modernen Praxis?

Auf jeden Fall. Ihr Einsatz ist eine Domäne bei sog. funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen. Also immer dann, wenn organisch keine Veränderungen nachweisbar sind und wir eine funktionelle Störung auf zellulärer Ebene haben. Hier können wir mit Schüßler-Salzen regulativ eingreifen.Nehmen wir z. B. die Nummer 7 (Magnesium phosphoricum). Ein akuter Hexenschuss oder Menstruationsbeschwerden sind funktionelle Störungen, bei denen ich bei zahlreichen Patient*innen erfolgreich Schüßler-Salz Nummer 7 eingesetzt habe. Ein anderes Beispiel ist der akut auftretende Infekt: Hier ist in den ersten 24 Stunden die Nummer 3 (Ferrum phosphoricum) das ideale Mittel. Bei einer Chronifizierung, z. B. bei Blasenentzündung, wenn im Urin keine atypischen Keime nachweisbar sind, sagte Schüßler, ist die Nummer 4 (Kalium chloratum) das Mittel der Wahl.

Mit welcher Erklärung für den Wirkmechanismus arbeitet man in der Praxis?

Nehmen wir das Beispiel des Eisenmangels bei Frauen, der häufiger auftritt. Bei Einnahme von Eisentabletten treten öfter Durchfälle auf, bei anderen Frauen dagegen Verstopfung. Es lässt sich nicht vorhersagen, wie eine Patientin reagiert. Misst man dann nach ein paar Wochen die Eisenspiegel, hat sich kaum etwas verändert. Das heißt, es wird genügend Eisen zugeführt, es gelangt aber nicht in die Zelle. Gibt man dann für etwa 6–8 Wochen die Nummer 3 (Ferrum phosphoricum), kann das System reguliert werden: Eisen wird an der Darmwand in Vesikel eingeschlossen, durch die Darmwand geschleust und wieder ausgepackt. Die Schüßler-Salze wirken als signalvermittelnde Stoffe auf die Eisen-Rezeptoren, die für den Eisentransport in die Zellen verantwortlich sind.

Gibt es dazu wissenschaftliche Untersuchungen bzw. Studien?

Leider nicht. Studien sind sehr teuer. Die Schüßler-Salze hingegen kosten nicht viel, es rechnet sich nicht für die Unternehmen, eine teure Studie zu finanzieren.

Trotzdem sind die Schüßler-Salze verbreitet.

Ja, es ist eine Erfahrungsheilkunde. Genau das, was wir unter dem Begriff verstehen.

Die Stärken der Therapie mit Schüßler-Salzen liegen bei funktionellen Erkrankungen. Wo liegen die Grenzen?

Die Therapie mit Schüßler-Salzen ist keine Substitutionstherapie. Sie kann dann Erfolge bringen, wenn genügend Mineralien im Körper vorhanden sind. Ein nachgewiesener Mangel lässt sich mit Schüßler-Salzen nicht ausgleichen. Dem Organismus werden ja keine Mineralien zugeführt, sondern es wird lediglich die Position der vorhandenen Mineralien verändert.Liegt beispielsweise ein Eisenmangel vor, weil eine Frau während der Menstruation viel Blut verliert, muss dem Körper substanzielles Eisen zugeführt werden. Genau da sind die Grenzen.

Lässt sich die Therapie mit Schüßler-Salzen auch in einer Kassenpraxis integrieren? Mit welchem Zeitaufwand und welchen Kosten für die Patienten?

Natürlich! Ich praktiziere es seit über 20 Jahren. Nach GOÄ beträgt der Stundensatz ca. 120 Euro. Für die Beratung benötige ich ca. eine Viertelstunde, also kostet sie um die 20–30 Euro, je nachdem, wie viel Beratung ein Patient benötigt.

Was würden Sie sagen, wie ist das Ansehen der Therapie in der Welt der Mediziner bei uns heute?

Es kommt darauf an, wo. In unserem Verband für Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin sind die Kolleg*innen sehr offen. Bei einigen Hardlinern beispielsweise an Universitäten beißt man sich hingegen zum Teil immer noch die Zähne aus. Aber ich beobachte ein allmähliches Umdenken.

Und bei den Patient*innen, fragen sie Schüßler-Salze gezielt nach?

Ja, aber natürlich nicht nur Schüßler-Salze, sondern sie wünschen sich immer mehr naturheilkundliche regulative Behandlungsverfahren.

Was würden Sie sich in der Medizin für die Zukunft wünschen?

Wir sind ja zunächst Schulmediziner mit einer vollwertigen Ausbildung. Ich kann ein Antibiotikum einsetzen, kann aber auch erst einmal sagen: Lassen Sie uns versuchen, zuerst die Selbstheilungskräfte über das unspezifische Immunsystem zu stimulieren. Wenn das nicht gelingt, kann ich jederzeit das Antibiotikum einsetzen. Wenn es um Leben und Tod geht, haben wir natürlich die unverzichtbare Notfallmedizin. Aber wir haben auch 80 % chronisch Kranke. Und genau hier sollte ein Umdenken erfolgen. Das wäre ein Wunsch von mir, dass wir mit naturheilkundlichen Methoden in diesem Bereich zeigen können, wo unsere Stärken liegen und dass wir hier etwas zu bieten haben, das an der Ursache ansetzt und zusätzlich noch das Gesundheitssystem entlasten kann.

„Ein nachgewiesener Mangel lässt sich mit Schüßler-Salzen nicht ausgleichen. Genau da sind die Grenzen der Therapie.”

Vielen Dank für das Interview!

Das Gespräch führte Anke Niklas.

VITA
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Peter Emmrich ist Allgemeinarzt, Dipl. Biologe und M.A. mit den Zusatzbezeichnungen Homöopathie, Naturheilverfahren, Manuelle Medizin, Akupunktur. In seiner Pforzheimer Praxis behandelt er seine Patient*innen integrativ, u. a. auch mit Schüßler-Salzen. Emmrich hat dazu mehrere Bücher geschrieben, aktuell ist eine Biografie über Wilhelm Heinrich Schüßler erschienen.


Die Therapie mit Schüßler-Salzen hat auch heute noch ihre Berechtigung in der Praxis und lässt sich gut integrieren, sagt Emmrich im Interview.



Publication History

Article published online:
12 October 2021

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