Es gibt viele gute Gründe für partizipative Forschung (auch Public and Patient Involvement [PPI]), deren Ziel die Integration von Patienten und Angehörigen als Mitgestalter in den
Forschungsprozess ist: Es ist ethisch und rechtlich geboten [1], eine Mitsprache zu gewähren und Forschung wird durch sie qualitativ besser, relevanter,
glaubwürdiger und z. T. sogar billiger [2]. Konsequenterweise fordern zunehmend wissenschaftliche Journale und Forschungsförderer
die Beteiligung von Erfahrungsexperten (EE), wie z. B. die BMBF-Initiativen zur Förderung
klinischer Studien mit hoher Relevanz für die Patientenversorgung und des Deutschen
Zentrums für Psychische Gesundheit (DZP). Trotz allem wird PPI in der psychologisch-psychiatrischen
Mainstreamforschung in Deutschland – vor allem, wenn sie mit wirklicher Entscheidungsmacht
von EE einhergeht – bisher kaum realisiert [3]. Die Gründe hierfür sind u. a., dass PPI kosten- und zeitintensiv ist und dass Macht
über den Forschungsprozess ungern geteilt wird.
Unter den Ausnahmen befindet sich die PPI-Gruppe Autismus-Forschungs-Kooperation (AFK),
im Rahmen derer mehr als 30 autistische Personen gemeinsam mit autistischen und nicht-autistischen
Wissenschaftlern seit 2007 Fragestellungen erforschen, die autistische Menschen als
relevant identifizieren (http://www.autismus-forschungs-kooperation.de). Thematische Schwerpunkte sind u. a. autismusspezifisches Wissen relevanter Berufsgruppen
(z. B. Hausärzte, Jobcentermitarbeiter) und dessen Auswirkung auf die Inklusion sowie
Möglichkeiten einer verbesserten psychologischen Versorgung [4]. Die Dissemination der Forschungsergebnisse erfolgt durch wissenschaftliche Publikationen
und Tagungsbeiträge sowie unter gesellschaftlichen Stakeholdergruppen mittels leicht
verständlichem Aufklärungsmaterial wie z. B. Flyern oder Videos; für ihre Arbeit erhielt
die AFK 2016 den Anti-Stigma-Preis der DGPPN. Basis der erfolgreichen Zusammenarbeit,
die Entscheidungsmacht in allen Schritten des Forschungsprozesses teilt, ist die Begegnung
der Beteiligten auf respektvoller Augenhöhe sowie Vertrauen und Offenheit für gegenseitiges
Lernen.
Die jüngst erstarkte Aufmerksamkeit für PPI bedeutet eine historische Chance, Forschung
und Versorgung im Bereich psychische Gesundheit in Deutschland zu verbessern. Es gilt
nun, Infrastrukturen zu etablieren, die PPI nachhaltig fördern und ein besonderes
Augenmerk auf die Qualität der Maßnahmen zu legen, um vergangene Fehler zu vermeiden,
die zu Scheinbeteiligung (sog. Tokenism) führten [5].
Die Dokumentation der Erfolge und Fehlschläge von Good-Practice-Beispielen wie der
AFK, wurde als wichtig identifiziert, um zukünftige PPI-Projekte zu informieren. Es
wird hier der Versuch unternommen, aus Erfahrungen mit der AFK Kernkomponenten für
den Erfolg von PPI zu identifizieren und Empfehlungen abzuleiten für zukünftige PPI-Unterfangen
in Deutschland.
Respekt und Vertrauen sind Grundvoraussetzungen, die aktiv hergestellt werden müssen
Respekt und Vertrauen sind Grundvoraussetzungen, die aktiv hergestellt werden müssen
In der Literatur zu PPI wird die Wichtigkeit einer von Respekt und Vertrauen geprägten
Grundhaltung der Akteure herausgestellt [3]. Anleitung dazu, wie diese sich herstellen lässt, findet man jedoch in den wenigen
praktischen PPI-Leitfäden kaum. Auf der Sachebene alleine ist sie nicht zu erreichen;
sie erfordert kontinuierliche menschliche Begegnungen.
Aus der Arbeit der AFK wissen wir, dass die Etablierung von Respekt und Vertrauen
durch aufmerksames gegenseitiges Zuhören und Berücksichtigung aller Meinungen, die
Bereitschaft, immer wieder demokratisch abzustimmen, und sich auf gewünschten Sprachgebrauch
einzustellen, aber auch der erwartungsfreien Akzeptanz von Grenzen bezüglich zeitlichem
und inhaltlichem Mitwirken etc. entsteht. Aus gegenseitigem Respekt ist mit der Zeit
durch die gemeinsamen Projekterfahrungen, die eine Art Prüfsteine darstellen, gegenseitiges
Vertrauen erwachsen. Es besteht der Rahmen dafür, mögliche Verletzungen angstfrei
zu thematisieren und zeitnah Klärung herbeizuführen. Vertrauen sehen wir in der AFK
insbesondere durch Transparenz ermöglicht: Sämtliche Informationen werden für alle
zugänglich geteilt – ggf. über mehrere Medien. Wir identifizieren Transparenz als
einen Aspekt von gelebtem Respekt und Katalysator von Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“.
Soll PPI in größerer Skalierung stattfinden, scheint eine initiale Erarbeitung von
Zielen bezüglich Grundhaltungen geboten. Aus gemeinsamer Reflexion sollten Operationalisierungen
und Methoden zu deren Realisierung hervorgehen und in einem Basic Framework festgehalten
werden. Dabei sollte insbesondere die Berücksichtigung heterogener Bedürfnisse für
barrierefreie Partizipation als selbstverständlich gewährleistet werden.
Macht und Entscheidungsfindung
Macht und Entscheidungsfindung
Zentrales Charakteristikum von PPI ist echte Entscheidungsmacht von EE im Forschungsprozess.
Gerade im Kontext von historischem oder selbst erlittenem Machtmissbrauch im Zusammenhang
mit psychologischer/psychiatrischer Versorgung haben EE häufig eine erhöhte Sensibilität
für Machtstrukturen [6]. Die Organisatoren von PPI stehen hier konsequent in der ethischen Verpflichtung,
gerechte Machtverhältnisse herzustellen.
In der AFK werden historische und aktuelle (Ohn)Machterfahrungen der EE entlang von
aktuellen Erlebnissen im „Tagesgeschäft“ thematisiert und validiert. Gleichzeitig
berichten auch Forschende kritisch über hierarchische oder dem Wissenschaftssystem
immanente Schieflagen in der Machtverteilung. Die Entscheidungsmacht wird zwischen
den Beteiligten geteilt. Von der Forschungsfrage bis zur peer-reviewten Publikation
der Ergebnisse mit gemischten Autorenlisten wird alles demokratisch verhandelt und
gemeinsam umgesetzt. Diese Stufe von PPI (Kokreation) wird in Deutschland bisher selten
realisiert und kann somit als ein Good-Practice-Beispiel gelten.
Vor allem in der immer noch größtenteils klar hierarchisierten Psychiatrie und konkurrenzgeprägten
quantitativen biomedizinischen Forschung lastet fortdauernd Druck auf den Beteiligten,
die eigene Verortung im Machtgefälle zu sichern. Diese gewohnte Struktur für PPI zu
verlassen, indem Macht abgegeben wird, dürfte eine der größten Hürden für das Zustandekommen
von PPI sein. Um geteilte Entscheidungsprozesse trotzdem breit und nachhaltig möglich
zu machen, empfiehlt sich die regelmäßige Reflexion und ein verschriftlichtes Gerüst,
das verbindliche Formate für Beteiligungsmöglichkeiten definiert (z. B. Abstimmungsverfahren,
Zeiträume für Entscheidungen). Diese sollten sich in Fördermechanismen spiegeln, indem
z. B. Finanzierungsausschüttungen an deren Einhaltung gekoppelt werden [7].
Lernen
Im Rahmen von PPI kommen Personen mit oft sehr unterschiedlichen akademischen Kompetenzen
und Erfahrungswissen zusammen. Damit Interaktion und Zusammenarbeit trotzdem gelingen
können, gilt es, von anderen zu lernen – das betrifft Forschungsabläufe und Methoden
sowie Expertisen und Sichtweisen aus gelebter Erfahrung. Das Konzept von PPI beinhaltet
daher auch die Befähigung von EE, sich an Entscheidungen und Forschungsaktivitäten
überhaupt erst beteiligen zu können. Quantitative Forschung, in der Beteiligung deutlich
seltener ist als in qualitativer Forschung, ist davon nicht ausgenommen.
In der quantitativ arbeitenden AFK gibt es immer wieder Treffen mit expliziten Lerninhalten,
z. B. zu verwendeten Statistiken, Abläufe bei der Publikation, Präsentation von Postern.
Im Gegenzug erhalten die Forschenden durch mit ihnen geteilte Innenansichten wertvolles
Wissen, um relevante Fragestellungen zu finden, Werkzeuge (z. B. Experimentabläufe
oder Items) besser auf die Zielgruppe anzupassen und damit die Forschungsergebnisse
valider zu machen. Es entsteht eine holistische Sicht auf die realmenschliche Bedeutung
der von ihnen studierten Phänomene – über Buchwissen oder Begegnungen in meist krisenhaften
Situationen hinaus.
Daher sollten in neu zu konstituierenden PPI-Strukturen Lernmöglichkeiten, z. B. in
Workshops, geschaffen werden. Obwohl es bereits Curricula für Fortbildungen gibt,
richten sich diese bisher meist entweder an Forschende oder EE. Empfehlenswert wären
gemeinsame Formate, in denen Austausch von Wissen und Perspektivübernahme ermöglicht
werden.
Gut Ding will Weile haben
Gut Ding will Weile haben
PPI ist zeitintensiv. Unter anderem erfordert das Aufeinandertreffen heterogener Gruppen
einen hoch individualisierten Ansatz. Kommen EE aus den unterschiedlichen Kontexten
von Betroffenen- und Angehörigen-/Eltern-Communities zusammen, erschweren zum Teil
historisch gewachsene Interessendivergenzen den Forschungsprozess.
Die Realisierung der verschiedenen Forschungsstudien der AFK der letzten 15 Jahre
benötigte erheblich mehr Zeit als Studien mit vergleichbaren quantitativen Untersuchungsdesigns
aus dem klinischen Mainstream. Vor allem das kontinuierliche bidirektionale Lernen
und die gemeinsame Entscheidungsfindung durch transparente Aufarbeitung sämtlicher
Inhalte mit ausreichendem zeitlichen Kontingent sowie hochfrequente Aushandlungsrunden
sind zeitintensiv.
Gerade wenn PPI in biomedizinischen Forschungskontexten etabliert werden soll, besteht
die Gefahr, dass die Charakteristiken dieses Paradigmas, wie das Streben nach Effizienz
– und damit nach Geschwindigkeit – sowie der Fokus auf Outcomes – eher als auf die
Prozesse selbst – PPI-Prozesse vereinnahmen. In diesen Kontexten wird PPI häufig mit
dem Impact der Maßnahmen im Sinne eines epistemischen Mehrwerts gerechtfertigt und
nicht sosehr mit der ethischen Verpflichtung einer Beteiligung (vgl. [8]). Für PPI kann das implizieren, dass EE instrumentalisiert und in ein nicht leistbares
Arbeitstempo gedrängt werden, was letztlich Scheinbeteiligung begünstigt. Das Berücksichtigen
der besonderen Bedürfnisse bezüglich zeitlicher Kontingente der verschiedenen Akteure
ist folglich kritisch wichtig für PPI und ermöglicht erst ein gesundes Wachsen in
eine geteilte Entscheidungsfindung.
Interne und externe PPI-Infrastruktur
Interne und externe PPI-Infrastruktur
Die Bereitstellung von zentralen Strukturen für PPI, inkl. Materialien und Mitarbeiter
zur Unterstützung und Qualitätskontrolle für PPI, wurde in internationalen Beispielen
als kritisch wichtig identifiziert [9]. In Deutschland gibt es im Bereich psychische Gesundheit im Vergleich zu Ländern
mit starker PPI-Tradition wie England oder Australien kaum etablierte Infrastrukturen
jenseits von Patientenbeiräten, die meist nur eine beratende Funktion haben. Erst
seit 2019 existiert die erste Abteilung für Patient and Stakeholder-Engagement mit
eigener Referentin am BIH QUEST Center der Berliner Charité.
In der AFK wird die Unterstützungsstruktur – mangels finanzieller Mittel für eine
Stelle – durch die Gruppe selbst gebildet. Die Kernkompetenzen jeder Person dienen
als beratende oder umsetzende Ressource für bestimmte Aufgaben, z. B. für Schriftstücke,
Grafiken, Webauftritte, Statistiken oder Sprachkorrektur. Gleichzeitig ist die AFK
in ein Netzwerk mit Kompetenzen bezüglich Theorie über und Methoden zu PPI eingebunden,
dessen Input und Kooperation zur Verbesserung der Arbeit beigetragen hat (z. B. PartNet,
BIH QUEST). Um den Austausch zu PPI anzuregen und Initiativen im Bereich Klinische
Psychologie und Psychiatrie zu bündeln, haben die Autorinnen jüngst den Berliner Kreis
für Partizipative Forschung in der Klinischen Psychologie und Psychiatrie (B-Part)
gegründet.
Die Errichtung unterstützender PPI-Infrastrukturen ist von zentraler Relevanz, wenn
die Etablierung von PPI nachhaltig sein soll. Eine Einbindung in den aktuellen fachlichen
Diskurs zu PPI, die Etablierung eines Netzwerks und das Bündeln von Kompetenz im Bereich
PPI sowie die Bereitstellung von z. B. standardisierten Leitfäden, Curricula und Werkzeugen
sollte durch sie zeitnah und standortspezifisch ermöglicht werden.
The proof is in the pudding
The proof is in the pudding
Infrastrukturen können den Boden für PPI bereiten; wachsen kann PPI aber nur in der
Praxis. Erst der gelebte Respekt vor den jeweiligen Sichtweisen und Kompetenzen und
erlebte Emanzipation lässt das Vertrauen zueinander stabil werden. Mit jeder Gelegenheit,
unterschiedliche Kompetenzen bereichernd zusammenzutragen, bilden sich die Früchte
von PPI aus.
Die AFK hat vor fast 15 Jahren sehr kurz nach Initiierung der Gruppe mit einem Projekt
gestartet, das Vorurteile über Autismus in der Allgemeinbevölkerung untersuchte. Hier
wurden, damals noch händisch, gemeinsam Daten auf dem Alexanderplatz in Berlin gesammelt,
das erste wissenschaftliche Poster zusammen angefertigt und auf einer Konferenz präsentiert
sowie dessen Erfolg miteinander gefeiert. Obwohl die gemeinsamen Arbeitsschritte für
die meisten einen „Sprung ins kalte Wasser“ darstellten, waren es gerade das Ausprobieren
und die gegenseitige Unterstützung, aus denen rasch Vertrauen und Empowerment resultierten.
Wir leiten aus dieser Erfahrung ab, dass im Rahmen neu zu konstituierender PPI die
Durchführung gemeinsamer Projekte zeitnah realisiert werden sollte, um ein Hineinwachsen
in den Rahmen zu fördern und besondere Bedarfe bezüglich einer unterstützenden Infrastruktur
zu erfassen. Als besonders geeignet für die Initiierung von PPI-Projekten wurden partizipative
Studien identifiziert, die die Präferenzen von EE bezüglich Forschungsfragen großflächig
untersuchen [10]. Sie ermöglichen durch Online-Teilnahme eine besonders breite und niedrigschwellige
Einbindung weiterer EE und liefern im Sinne eines Crowdsourcings von Ideen patientenorientierte
Vorschläge für mögliche relevante Forschungsfragen.
Es sind vor allem solche Projekte mit hoher Beteiligungsoption für EE und geteilter
Entscheidungsmacht, die helfen, die Wissenschaft im Bereich Klinische Psychologie
und Psychiatrie in Deutschland weiter zu demokratisieren. Als wichtiger nächster Schritt
werden PPI-spezifische Infrastrukturen benötigt, die den niedrigschwelligen Einstieg
– für EE wie Forschende – in Forschungsinstitutionen fördert und damit auch die nachhaltige
Etablierung von PPI.