Schlüsselwörter
Sekundärdatenanalyse - Trendanalyse - Versorgungsforschungsanalyse - Versorgungsprogramme - medizinische - kompetitive
Key words
secondary data analysis - trend analysis - health services research analysis - Competitive Health Plan
Einleitung
Das deutsche Gesundheitssystem wird im internationalen Vergleich als durchschnittlich
beurteilt [1]. Um die
Leistungsfähigkeit zu erhöhen, wurde mit der Gesundheitsreform im
Jahr 2000 die Möglichkeit der Gestaltung besonderer Versorgungsformen
(§ 140a des fünften Sozialgesetzbuches) erweitert. Besondere
Versorgungsformen können sich jedoch nur durchsetzen, wenn ihr Mehrwert mit
belastbaren Evaluationsergebnissen nachgewiesen werden kann [2]. Schwerpunkte der Versorgungsforschung
liegen dabei in der Beschreibung der Versorgungssituation und der Trends unter
Alltagsbedingungen, um Fehlentwicklungen zu erklären und
Optimierungspotentiale aufzuzeigen [3]. In
Deutschland werden Versorgungsformen jedoch selten evaluiert. Bei der Evaluierung
von Versorgungsformen ist die Frage, inwieweit die Versorgungsqualität
tatsächlich auch langfristig verbessert wird, entscheidend. Einen
Goldstandard zur Einschätzung der Versorgungsqualität im zeitlichen
Verlauf gibt es derzeit nicht. Häufig werden Patienten- bzw.
Ärztebefragungen durchgeführt. Diese Methoden sind anfällig
für systematische Verzerrungen und gehen mit einem hohen Erhebungsaufwand
einher [4]. Die Nutzung von
Sekundärdaten ist indes besonders vorteilhaft, da die Forschungsfrage keinen
Einfluss auf die Daten hat. Administrative Datenbanken der gesetzlichen
Krankenversicherungen (GKV) sind dabei aufgrund des Stichproben-und Variablenumfangs
sowie der zeitnahen Verfügbarkeit eine wichtige Datenquelle. Durch die
Datenverfügbarkeit über mehrere Jahre und die Verknüpfung
versichertenbezogener Daten mit Informationen aus unterschiedlichen
Leistungssektoren haben sich neue Möglichkeiten für die
Längsschnittdatenanalyse ergeben [5].
Das longitudinale Studiendesign ist in der Versorgungsforschung weit verbreitet, da
es sich besonders für die Analyse von Qualitätsentwicklungen eignet.
Dieses Design beinhaltet wiederholte Messungen, bei denen für ein Individuum
mehrere Beobachtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasst werden und somit eine
Abhängigkeit innerhalb der Messwiederholungen entsteht. Diese Korrelation
sollte adäquat berücksichtigt werden. Die von Liang und Zeger [6] eingeführten generalisierte
Schätzungsgleichungen (englisch generalized estimating equations, GEE)
bieten dabei die Möglichkeit, die Abhängigkeitsstruktur der
Messungen zu berücksichtigen.
Ziel dieser Studie ist anhand der GEE-Methode die Qualitätsunterschiede
zwischen den Versorgungsformen der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) und der
Regelversorgung hinsichtlich dichotomer Zielgrößen über die
Zeit abzubilden. Diese werden hier aus Platzgründen beispielhaft anhand des
Qualitätsindikators der Verordnung von potenziell inadäquater
Medikation (PIM) bei älteren Versicherten dargestellt.
Methoden
Datengrundlage
Auf der Basis von Routinedaten der AOK Baden-Württemberg als
größten regionalen Anbieter der HZV wurde eine
Längsschnittanalyse durchgeführt. Der Datenpool umfasst
pseudonymisierte Daten über Ärzte, Betriebsstätten,
Versicherte, Pflegegrad sowie die Teilnahme an der HZV und an den Disease
Management Programmen. Weiterhin enthält der Pool Daten zu
Leistungsausgaben der stationären und ambulanten Behandlungen,
Arzneimittelabrechnungsdaten, Verordnungen sowie Diagnosen. Für die
Analyse standen Daten der Jahre 2011 bis 2018 zur Verfügung. Die
Rohdaten wurden an das aQua-Institut übermittelt und die Datenkonsistenz
überprüft. Betrachtet wurden Versicherte, die die Ein-und
Ausschlusskriterien zu Beginn des jeweiligen Beobachtungsjahres
erfüllten (Supplement Abb. 1). Der Umfang und die Zusammensetzung
der Kohorte variierten daher von Jahr zu Jahr (dynamische Kohorte).
Außerdem identifizierte das aQua-Institut den Index-Hausarzt nach einem
gesondert festgelegten Algorithmus. Auf Basis einer vordefinierten
Indikatorenliste bereitete das aQua-Institut Ausgangsdatensätze mit
Zielvariablen vor.
Vergleichsgruppen
Die Versorgungform der HZV und der Regelversorgung wurden im Vergleich
betrachtet. Die HZV wurde zur Stärkung der hausärztlichen
Primärversorgung durch den Gesetzgeber eingeführt (§ 73b
des fünften Sozialgesetzbuches). Die AOK Baden-Württemberg hat
die HZV bereits im Jahr 2008 angefangen zu implementieren. Für die
Auswertung erfolgte die Gruppenzuordnung zur HZV-Gruppe, wenn Versicherte in der
HZV eingeschrieben waren und eine hausärztliche Leistung in Anspruch
genommen hatten; Versicherte wurden in die Gruppe der Regelversorgung
zugeordnet, wenn sie einen nicht an der HZV teilnehmenden Hausarzt besuchten und
eine hausärztliche Leistung in der Regelversorgung in Anspruch genommen
wurde.
Potenziell inadäquate Medikation (PIM)
Die Arzneimittelversorgung von älteren Menschen ist häufig durch
eine Polypharmazie geprägt, die das Risiko für PIM
erhöhen kann [7]. Datengrundlage
für die Auswertung des Qualitätsindikators Verordnung von PIM
bei älteren Versicherten waren alle zu Lasten der AOK
Baden-Württemberg ausgestellten Rezepte, die über
öffentliche Apotheken abgerechnet wurden. Als ältere Versicherte
wurden Personen jenseits des 65. Lebensjahres betrachtet. Die Medikamente wurden
mittels der deutschen PIM-Liste, der PRISCUS-Liste, gewählt [8]. Die PRISCUS-Liste führt 83
Wirkstoffe aus 18 Arzneistoffklassen auf, die für ältere
Menschen potenziell inadäquat sind. Zur Operationalisierung wurden
diesen Wirkstoffen die jeweiligen ATC-Codes zugeordnet.
Statistische Analyse
Neben der deskriptiven Auswertung wurden in einer Trendanalyse die
Qualitätsunterschiede der beiden Versorgungsformen hinsichtlich
dichotomer Zielgrößen, hier speziell der Verordnung von PIM bei
älteren Versicherten, herausgearbeitet. Die Parameterschätzungen
erfolgen mithilfe von GEEs unter Annahme einer Binomialverteilung und mit einer
Logit-Link-Funktion. Dazu war neben der Modellspezifikation die Festlegung der
Abhängigkeitsstruktur (unabhängige, austauschbare, AR1 oder
unstrukturierte) erforderlich, für die hier eine autoregressive
Kovarianzstruktur angenommen wurde (AR1). Diese eignet sich besonders gut, falls
es sich um äquidistante Messzeitpunkte handelt. An Einflussvariablen
wurden eine dichotome Gruppenvariable (X1 mit 1=HZV und
0=Regelversorgung), die Zeitperiode als stetige Variable
(X2=0,12,3,.. als Jahr nach Beginn der Beobachtungsperiode) und eine
Interaktion aus diesen beiden Variablen (X1*X2) berücksichtigt.
Die resultierenden Schätzer lieferten die Auskunft, wie das
Chancenverhältnis (Odds Ratio) der beiden Gruppen (HZV versus
Regelversorgung zu Beginn der Beobachtungsperiode war (exp(β1) und wie
sich das Chancenverhältnis sowohl in der Regelversorgung (exp(β2
pro Beobachungsjahr) als auch in der HZV im Verhältnis zur
Regelversorgung (exp(β3 ) über die Zeit entwickelten. Um die
Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen sicherzustellen, erfolgte
zusätzlich eine Adjustierung für Versicherten-und
Praxismerkmale, die jährlich erfasst wurden (Supplement Tabelle
2, Im Internet). Das Modell stellte sich wie folgt dar:
Y=logit(p)=log(p/(1-p))=β0
+β1*X1+β2*X2+β3*X1*X2a
Das p gab dabei die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des Ereignisses
an.
Aus den Modellberechnungen wurde für eine standardisierte Kohorte eine
Grafik zur Visualisierung des zeitlichen Trends erzeugt, indem für die
marginale Verteilung der Kovariaten in der zugrundeliegenden Stichprobe die sich
aus dem Modell ergebenden Kleinstquadrateschätzer(LSM) für die
Anteile der Patienten mit PIM-Verordnung pro Berichtsjahr in den Gruppen jeweils
durch eine Trendlinie verbunden wurden.
Die Spezifikation des Modells beruht grundsätzlich auf der Annahme, dass
es einen Trend gibt. Um zu prüfen, ob diese Annahme gerechtfertigt ist,
wurde in einer Sensitivitätsanalyse ein weiteres Modell angepasst, in
der die Zeitvariable unter Verwendung von Dummyvariablen für das
jeweilige Berichtsjahr als kategoriale Variable berücksichtigt wurde und
dadurch beliebige Entwicklungen über die Zeit in den beiden
Vergleichsgruppen modelliert werden konnten. Mithilfe der LSM aus der
Sensitivitätsanalyse, die ebenfalls in die Grafik aufgenommen wurden,
kann visuell beurteilt werden, ob das Modell mit der Annahme eines Trends
für die Analyse geeignet ist.
Die Studie folgte der Standardisierten Berichtsroutine für
Sekundärdaten
Analysen (STROSA). Für die Auswertungen wurde SAS in der Version 9.4 (SAS
Institute Inc., Cary, NC, USA) verwendet. Das Datenmanagement wurde mit IBM-SPSS
in der Version 25 (SPSS Inc., Chicago, IL, USA) umgesetzt.
Ergebnisse
Beispielhaft für das Beobachtungsjahr 2018 sind die Charakteristika der
insgesamt 628.523 aus den Routinedaten identifizierten Versicherte≥65 Jahre
in der Supplement
[Tab. 1, Im Internet] dargestellt.
Tab. 1 Deskriptive Statistik der älteren Versicherten
≥ 65 Jahre der AOK Baden-Württemberg mit
mindestens einer Verordnung von potenziell inadäquater
Medikation.
Ältere Versicherte
|
HZV
|
Regelversorgung
|
Gesamt
|
n (2011)
|
293 135
|
282 228
|
575 363
|
n (2018)
|
399 804
|
228 719
|
628 523
|
Verordnung von potenziell inadäquater Medikation in
2011
|
86 548 (29,5%)
|
86 284 (30,6%)
|
172 832 (30,0%)
|
Verordnung von potenziell inadäquater Medikation in
2018
|
83 775 (21,0%)
|
50 387 (22,0%)
|
134 162 (21,3%)
|
Deskriptiv
Der Anteil älterer Versicherter mit einer PIM-Verordnung war im Jahr 2011
in der Regelversorgungsgruppe höher als in der HZV ([Tab. 1]). Im Beobachtungsjahr 2018 blieb
diese Tendenz bestehen, bei einem beobachteten Rückgang des Anteils von
Patienten mit PIM-Verordnungen insgesamt.
Trendanalyse
Die Supplement Tabelle 3, Im Internet stellt die Ergebnisse der
GEE-Analyse dar. Die multivariable Modellierung zeigt über den gesamten
Beobachtungszeitraum einen Vorteil der HZV-Gruppe gegenüber der
Regelversorgung. Zu Beginn des Beobachtungszeitraums 2011 war die Chance einer
PIM-Verordnung in der HZV-Gruppe signifikant niedriger als in der
Regelversorgungsgruppe (Odds Ratio 0,978 pro Jahr;
95%-Konfidenzintervall 0,968–0,987). Im Verlauf zeigt sich
für die Regelversorgung eine abnehmende Chance für eine
PIM-Verordnung (Odds Ratio 0,928 pro Jahr; 95%-Konfidenzintervall
0,927–0,930). In der HZV-Gruppe war die Abnahme stärker
ausgeprägt als in der Regelversorgungsgruppe (Odds Ratio 0,986 pro Jahr;
95%-Konfidenzintervall 0,984–0,988). In der [Abb. 1] wird das Ergebnis der
Modellberechnungen visualisiert. Der Unterschied zwischen den Gruppen findet
sich im Abstand zwischen den Linien wieder. Die erkennbare Veränderung
dieses Abstands weist auf die unterschiedliche Entwicklung in den Gruppen
über die Beobachtungszeit hin. Die Geradendarstellung ergibt sich aus
den getroffenen Modellannahmen. Die Sensitivitätsanalyse zeige, dass die
Trendannahme gerechtfertigt erscheint.
Abb. 1 Ergebnisse der Längsschnittanalyse: Vorhersagen
für Anteile der älteren Versicherten
≥ 65 Jahre der AOK Baden-Württemberg mit
mindestens einer Verordnung einer potenziell inadäquaten
Medikation in einer standardisierten Kohorte für die
Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) sowie Regelversorgung.
Diskussion
Ziel der vorliegenden Studie war die Darstellung der zeitlichen Entwicklung von
Qualitätsunterschieden zwischen der HZV und Regelversorgung auf Basis von
Sekundärdaten. Das angewandte GEE-Modell enthält 3 Parameter: Die
Gruppenvariable HZV und die Trendvariablen Gesamttrend in der
Regelversorgungsgruppe sowie Relativer Trend der HZV-versus
Regelversorgungsgruppe. Dies erlaubt sowohl die Analyse des
Verhältnisses der beiden Versorgungsformen zu Beginn der Studie als auch die
Entwicklung der Gruppentrends individuell und im Verhältnis zueinander
über die Zeit zu beschreiben. Die Untersuchung der GKV-Versichertendaten
bzgl. des hier exemplarisch dargestellten Qualitätsindikators ergab sowohl
zu Beobachtungsbeginn als auch im zeitlichen Trend eine statistisch signifikante
niedrigere PIM-Verordnungschance bei den über 65-jährigen in der HZV
als in der Regelversorgung. Darüber hinaus zeigen die Auswertungen einen
allgemeinen Rückgang der PIM-Verordnung. Die Ergebnisse der
Längsschnittanalysen weiterer Qualitätsindikatoren sind unter [9] zu finden. Es konnte konstatiert werden,
dass die Versorgungsform der HZV in Baden-Württemberg mit ihrer
strukturierten und koordinierten Versorgung nachhaltig zur
Versorgungsqualität beiträgt.
Die hiesige Betrachtung einer offenen Kohorte über mehrere Zeitperioden
führt zur Verletzung der für die einfache logistische Regression
notwendigen Annahme der Unabhängigkeit zwischen den Beobachtungen. Es gibt
unterschiedliche Methoden zur Berücksichtigung der
Abhängigkeitsstruktur. [6]
[10]
[11].
Der einfachste Ansatz ist die Ancova mit Messwiederholung, die allerdings
vollständige Messungen für jeden Messzeitpunkt voraussetzt, was im
Widerspruch zur offenen Kohorte steht. Die Berücksichtigung
unvollständiger Messreihen ist auch in generalisierten linearen gemischten
Modellen (GLMM) möglich. Im Gegensatz hierzu weisen GEEs auch bei falsch
spezifizierter Korrelationsstruktur den Vorteil auf, zuverlässige
Parameterschätzungen und Standardfehler zu liefern [12]. Da sich zudem aus diesem Modellansatz
populationsgemittelte Schätzer ergeben [13], bieten GEEs großes Potenzial zur Bewertung komplexer
Interventionen wie neue Versorgungsformen. Da das GEE-Modell auf der Theorie der
großen Stichprobe basiert [13],
empfehlen wir ihre Anwendung bei ausreichend großen Stichproben.
Abschließend ist anzumerken, dass das GEE-Model unter Anpassung der
Link-Funktion auch für stetige oder Zählindikatoren geeignet
ist.
Als Limitationen sind zu nennen, dass die Analyse ausschließlich abgerechnete
Arzneimittel berücksichtigt. Eine zusätzliche Selbstmedikation ist
nicht auszuschließen. Des Weiteren waren klinische Daten nicht vorhanden und
ein Rückgriff auf Rezeptdaten oder Patientenakten nicht möglich.
Auch Self-Selection Bias war sowohl bei den Hausärzten als auch bei den
Versicherten in der HZV-Gruppe nicht auszuschließen. Ferner wäre
eine zusätzliche externe Validierung der Krankenkassendaten z. B.
Vollständigkeit und Korrektheit von Kodierungen und
Verschlüsselungen wie ATC erstrebenswert. Insgesamt bieten unsere
Auswertungen einen guten Einblick in die PIM-Verordnung im GKV-System. Es lassen
sich jedoch keine Aussagen für den privaten Gesundheitssektor treffen.
Der GEE-Ansatz auf Basis der hier verwendeten sektorenübergreifenden
Routinedaten der AOK Baden-Württemberg lässt eine solide Darstellung
der Qualitätsunterschiede zweier Versorgungsformen unter Alltagsbedingungen
über einen längeren Zeitraum zu.