Nervenheilkunde 2021; 40(11): 924
DOI: 10.1055/a-1654-1851
Gesellschaftsnachrichten

Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.

 

Der besondere Fall

In loser Folge möchte die Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie zukünftig an dieser Stelle besondere Fälle aus dem Fachgebiet präsentieren. BGPN-Mitglieder sind herzlich eingeladen, eigene kurz gefasste Fälle einzusenden (info@bgpn.de). Die schriftliche Zustimmung des Patienten muss vorliegen oder die Fälle müssen so verändert werden, dass ein Rückschluss auf die Identität unmöglich ist.


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Berufsunfähig wegen Labor-Normalbefund?

Ein 38-jähriger Familienvater berichtet von einer seit mehreren Jahren bestehenden übermäßigen Erschöpfung, Müdigkeit und Kraftlosigkeit, die dauerhaft bestehen und sich nach geringster Belastung verschlimmern würden. Diese habe sich infolge einer Ebstein-Barr-Virus-(EBV-)Infektion entwickelt, was labordiagnostisch festgestellt worden sei; er leide an einem postviralen chronic Fatiguesyndrom. Die Symptomatik bestünde ferner in Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen und Konzentrationsmangel. Seiner Tätigkeit als Versicherungsberater sei er nicht mehr gewachsen, weshalb er bei seinen verschiedenen Versicherungen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit beantragt habe. Der Betroffene ist seit über 12 Monaten krankgeschrieben und legt verschiedene AU-Bescheinigungen mit den Diagnosen „fortbestehende Erschöpfung; Pfeiffersches Drüsenfieber“ vor. Ein HNO-Facharztattest bescheinigt eine langanhaltende EBV-Infektion mit der Folge eines chronic Fatiguesyndroms, ein urologisches Attest eine labordiagnostisch nachgewiesene chronische Mononukleose, ein Untersuchungsbericht eines Instituts für Immunologie ein postinfektiöses chronic Fatiguesyndrom.

Körperliche Untersuchung einschließlich neurologischem Status, HNO-Untersuchungsbefund, Röntgen des Thorax, Echokardiografie, Belastungs-EKG, Kipptischuntersuchung, Spirometrie, Bodyplethysmografie, cMRT, HWS-MRT und Abdomensonografie hatten unauffällige Befunde ergeben. Auch der psychopathologische Befund war unauffällig und ohne objektivierbare Hinweise auf kognitive oder konzentrative Defizite mit verschiedenen Anhaltspunkten für Aggravation, die sich auch in einer ausführlichen neuropsychologischen Testung ergaben. Die gezielte Anamnese ergab, dass der Patient nie wissentlich an einer Infektion mit dem EBV erkrankt war. Das EBV verursacht die infektiöse Mononukleose (Pfeiffersches Drüsenfieber). Der Patient erinnerte keine hierfür typische Erkrankung mit wegweisenden Symptomen wie zervikaler Lymphadenopathie, und es waren nie EBV-IgM-Antikörper oder eine charakteristische Leukozytose mit mononukleären Zellen nachgewiesen worden.

Basis für die Annahme einer EBV-bedingten Fatigue war ein 2 Jahre zurückliegender Nachweis von EBV-IgG-Antikörpern. Hierbei handelte es sich aber um einen Normalbefund, da die Durchseuchung der Bevölkerung mit EBV nahezu 100 % ist. Mit dem Ende des 40. Lebensjahr haben 95 bis 98 % aller Menschen eine EBV-Infektion durchlebt, überwiegend bereits in der Kindheit. Diese ist meistens, wie offensichtlich auch beim Patienten, so symptomarm, dass sie nicht bemerkt oder weiter beachtet wird. IgG-Antikörper persistieren im Anschluss meist lebenslang, weshalb nur IgM-Antikörper eine Akutinfektion anzeigen. IgM-Antikörper sind typischerweise für 8-10 Wochen nachweisbar.

Das Besondere des geschilderten Falls ist die Verselbständigung einer aus einem Normalbefund resultierenden unzutreffenden Diagnose, die von mehreren der behandelnden Ärzte unkritisch aus der eigenanamnestischen Schilderung oder ärztlichen Zeugnissen übernommen und zur Grundlage eigener AU-Bescheinigungen und Atteste gemacht wurde, zum Teil explizit mit der Attestierung einer Berufsunfähigkeit. Die S3-Leitlinie Müdigkeit warnt vor der vorschnellen Akzeptanz pathologischer Laborwerte als ausreichende Erklärung für Fatiguesymptomatik.

Prof. Dr. Tom Bschor, Berlin

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Der deutsche Kinderarzt Emil Pfeiffer (1846-1921), Erstbeschreiber des Pfeifferschen Drüsenfiebers. (Quelle: Wikipedia; https://de.wikipedia.org/wiki/Emil_Pfeiffer_(Mediziner))
IMPRESSUM

Prof. Dr. Tom Bschor

Redaktion: Dr. Anja M. Bauer

Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.

Schlosspark-Klinik, Abteilung für Psychiatrie

Heubnerweg 2, 14059 Berlin

info@bgpn.de, www.bgpn.de


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
02. November 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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Der deutsche Kinderarzt Emil Pfeiffer (1846-1921), Erstbeschreiber des Pfeifferschen Drüsenfiebers. (Quelle: Wikipedia; https://de.wikipedia.org/wiki/Emil_Pfeiffer_(Mediziner))