Schlüsselwörter
Sozialer Status - Settingansatz - Rettungsdienstdaten - GKV-Daten - Sekundärdatenanalyse - Versorgungsforschung
Key words
setting approach - rescue service data - statutory health insurance data - secondary data analysis - health services research - social status
Einleitung
Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und der Gesundheit von
Bevölkerungsgruppen wird seit vielen Jahren in unterschiedlichen
sozialepidemiologischen Studien bestätigt [1]
[2]
[3]
[4]
[5]. Einige dieser
Soziallagenabhängigkeiten sind z. B. auf Unterschiede im
Gesundheitsverhalten zurückzuführen, andere auf die unmittelbaren
Wohn- und Lebensbedingungen [6]. Der Wohnort
eines Menschen – und damit auch die soziostrukturellen Merkmale des
unmittelbaren Wohnumfeldes (‚Quartier‘) – hat neben der
individuellen soziökonomischen Position einen eigenständigen
Einfluss auf das Auftreten von Gesundheitskompetenz, Gesundheitsverhalten,
gesundheitlichen Beschwerden oder Krankheiten. Daraus begründen sich
kleinräumige Lebenswelt- und Settingansätze zur Verringerung
soziallagenbezogener gesundheitlicher Ungleichheit [2]
[7]
[8]
[9].
Auf Datenebene sind regionale Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung oder
der Inanspruchnahme von gesundheitsbezogenen Leistungen bislang primär auf
der Ebene von Landkreisen, Postleitzahlengebieten und kreisfreien Städten
untersucht worden [3]
[7]
[10].
Neben den genannten räumlichen Abgrenzungen ist das Quartier, das als
Interventions- und Planungsgrundlage insbesondere im Bereich der
Gesundheitsförderung und Prävention etabliert ist, ein weiteres
Setting, in dem „(…) Menschen in ihren [unmittelbaren,]
alltäglichen Lebenszusammenhängen erreicht werden können
(…)“ [11]
[12]
[13]
[14]. Das Quartier als
kleinräumige Ebene standardisierter Auswertungen, wie sie bspw. im Rahmen
von Monitorings oder Gesundheitsberichterstattung in Sozialräumen verwendet
werden, ist in sozial-epidemiologischen Studien bislang allerdings nicht verbreitet.
Vor allem in Großstädten wie Hamburg, die in regionalen Analysen mit
wenigen Ausnahmen zumeist als eine große, vermeintlich homogene
Entität erscheinen [15]
[16]
[17],
ist jedoch davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand und auch der
Sozialstatus nicht nur in unterschiedlichen Bezirken oder Stadtteilen unterscheidet,
sondern im Sinne des Setting-Ansatzes insbesondere auch innerhalb von heterogenen
Stadtteilen im unmittelbaren Lebensumfeld von Personen [8]
[9].
Hierzu fehlt bislang aber die empirische Basis, sowohl bzgl. der
kleinräumigen Darstellung von Indikatoren von Gesundheit, Krankheit und
Inanspruchnahme als auch deren Zusammenhang mit quartiersbezogenen Indikatoren der
sozialen Lage.
Wenn es daher gelänge, diese beiden Lücken zu schließen und
damit eine soziallagensensitive Analyse gesundheitsbezogener Daten auf
Quartiersebene zu etablieren, ergäbe sich ein gesteigertes Potenzial
für die Versorgungsforschung zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit,
für eine Versorgungsplanung und -steuerung ebenso wie für die
Gesundheitsberichterstattung und weitere Analysen auf kleinräumiger Ebene
[10]
[18]. Für derartige Überlegungen bieten sich vor allem
Sekundärdaten an, speziell solche der gesetzlichen Krankenversicherungen.
Während sich die Nutzung von GKV-Abrechnungsdaten in den letzten
dreißig Jahren zu einer Art Goldstandard in der Versorgungsforschung mit
eigener Literatur für die Erhebung und Nutzung entwickelt hat [19]
[20]
[21], werden Einsatzdaten von
Rettungsdienst und Notarzt (Einsatzdaten) erst in den letzten Jahren für
wissenschaftliche Zwecke erschlossen [22]
[23]. Vor dem Hintergrund eines stetig
steigenden Einsatzaufkommens, überfüllter Notaufnahmen und
zunehmender sozialer Anforderungen an Rettungsteams [24]
[25] sind Einsatzdaten des
Rettungsdienstes jedoch eine sinnvolle und innovative Ergänzung von
für die Versorgungsforschung relevanten – auch kleinräumigen
– Fragestellungen, zumal Einsatzanlässe und -häufigkeiten
analog zu etablierten Erkenntnissen der Sozial-Epidemiologie auch einen sozialen
Gradienten erwarten lassen und sich auf die gesamte Bevölkerung
beziehen.
Im Rahmen des Verbundprojektes „Gesundheitsförderung und
Prävention im Setting Quartier“ (Gesunde Quartiere, Laufzeit:
2017–2021) wurde vor diesem Hintergrund GKV-Abrechnungsdaten und
Einsatzdaten des Rettungsdienstes ein Indikator für die soziale Lage der
Hamburger Bevölkerung auf Quartiersebene zugeordnet, um damit einen
innovativen Ansatz zur Verortung und kleinräumigen Analyse
gesundheitsbezogener Routinedaten mit Soziallagenbezug zu erproben [13]
[26].
Im vorliegenden methodischen Beitrag soll zunächst das Verfahren zur
Zuordnung des Indikators aufgezeigt werden. Es folgen erste Ergebnisse deskriptiver
Auswertungen zur Validierung der Datenverortung und des Indikators zur Darstellung
von sozialer Ungleichheit. Die Ergebnisdarstellung kann aufgrund des Datenumfangs
nur exemplarisch erfolgen, weshalb als datensatzübergreifende Thematik der
Bereich „stationäre Akutversorgung und Unfallgeschehen von Kindern
und Jugendlichen“ gewählt wurde. Studien belegen hier, dass Kinder
und Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus z. B. vermehrt von bestimmten
Unfallverletzungen betroffen sind oder nach dem Unfall für längere
Zeit stationär versorgt werden als Vergleichsgruppen mit höherem
sozialem Status [27]
[28]
[29].
In diesem ersten Schritt lässt sich eine Eignung des Indexes vermuten, wenn
sich bereits bestätigte Soziallagenabhängigkeiten anhand der
verwendeten Statusindexklassen ebenfalls abbilden lassen. Zuletzt werden auf Basis
der ersten Erkenntnisse Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens
diskutiert.
Methodik
Für die Erprobung des Ansatzes zur Datenverortung erfolgte eine einmalige
Lieferung von anonymisierten und aggregierten Abrechnungsdaten von 3 gesetzlichen
Krankenversicherungen (AOK Rheinland/Hamburg, DAK-Gesundheit, Mobil
Krankenkasse, ehem. BKK Mobil Oil) und Einsatzdaten des Rettungsdienstes der
Hamburger Feuerwehr für das Berichtsjahr 2017 [26]. Kassen und Feuerwehr werden im Weiteren
zusammenfassend als „Dateneigner“ bezeichnet. Die
Operationalisierung des Quartiers und die Zuordnung eines Proxys für die
soziale Lage wurden mithilfe sogenannter Statistischer Gebiete und sich darauf
beziehender Indexzuordnungen des Hamburger Sozialmonitorings umgesetzt. Nachfolgend
werden grundlegende Begrifflichkeiten und die Methodik des Monitorings aufgezeigt.
Es folgt eine Beschreibung zu Art und Umfang verwendeter Einsatzdaten und des
Verfahrens zur Datenverortung.
Das Hamburger Sozialmonitoring
Zur Beobachtung sozioökonomischer Prozesse auf kleinräumiger
Ebene existiert in Hamburg – ähnlich wie z. B. auch in
München und Berlin [30]
[31] – seit 2010 ein
Sozialmonitoring der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen.
Räumliche Ebene dieses Sozialmonitorings bilden 941 eindeutig
abgegrenzte sogenannte Statistische Gebiete (vgl. [Abb. 1]). Statistische Gebiete sind
„kleinräumige Gebietseinheiten mit durchschnittlich 2200
Einwohnerinnen und Einwohnern“, die in den 1990er Jahren auf Grundlage
bestehender räumlicher Einheiten und historisch entstandener Quartiere
zusammengefasst wurden [32]. Zentrales
Element des Monitorings sind sieben Aufmerksamkeitsindikatoren, die aus Daten
der amtlichen Statistik u. a. zu Kindern und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund, Leistungsempfänger:innen nach SGB II und AsylbLG
oder zur Mindestsicherung im Alter nach SGB XII abgeleitet werden. Anhand dieser
Indikatoren erfolgt eine soziallagenspezifische Clusterung der Statistischen
Gebiete in Gebiete mit sehr niedrigem, niedrigem, mittlerem oder hohem
Sozialstatus und einem positiven, negativen oder gleichbleibend-neutralen
Dynamikindex (vgl. [Abb. 1]). Letzterer
gibt Auskunft über die relativen Veränderungen des Sozialstatus
der einzelnen Statistischen Gebiete im Verhältnis zur Gesamtstadt. Mit
jährlich erscheinenden Berichten fungiert das Monitoring als eine Art
Frühwarnsystem, indem es Aufmerksamkeit auf Gebiete lenkt, in denen eine
Kumulation sozialer Problemlagen vermutet wird. Damit dient es als Grundlage zur
Begründung von kleinräumigen (politischen) Handlungsbedarfen
[33]
[34]]
[1].
Abb. 1 Sozialmonitoring 2020 – Gesamtindex. Quelle: Sozialmonitoring
Bericht 2020 der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen in Hamburg;
Daten: Statistikamt Nord, IfBQ Hamburg; Kartograpie: F+B Forschung und Beratung
für Wohnen, Immobilien und Umwelt GmbH.
Einsatzdaten von Rettungsdienst und Notarzt
Während Struktur und Inhalte von GKV-Abrechnungsdaten in der
Versorgungsforschung als bekannt vorausgesetzt werden können, sei der
Umfang von Einsatzdaten nachfolgend kurz skizziert. Einsatzdaten bezeichnen in
diesem Zusammenhang alle Daten, die im Rahmen eines Rettungseinsatzes erhoben
werden. Dazu zählen Daten aus der Leitstelle (Eingang und Einstufung des
Notrufs), zur Alarmierung und den bereitgestellten Fahrzeugen (z. B.
Rettungswagen, Notarztfahrzeug), Daten aus dem Funkmeldesystem (z. B.
Alarmierungszeiten), Patient:inneninformationen die durch den Rettungsdienst
erhoben werden [35] und, im Falle einer
Notarztbeteiligung, auch Behandlungen und Maßnahmen aus dem
Notarzteinsatzprotokoll [36]. In [Tab. 1] sind die übermittelten
Einsatzbereiche und Inhalte dargestellt. Zu beachten ist, dass die im Projekt
verwendeten Daten nicht alle Einsatzbereiche umfassen. Beispielsweise sind
weiterführende Diagnosedaten aus dem Notarzteinsatzprotokoll aufgrund
datenschutzrechtlicher Bedenken vonseiten der Feuerwehr nicht enthalten.
Tab. 1 Einsatzbereiche und Inhalte der
übermittelten Einsatzdaten des Rettungsdienstes. Eigene
Darstellung mit Einsatzdaten.
Einsatzbereiche
|
Inhalte
|
Alarmierung
|
Anrufzeiten des Notrufs, Einsatznummern
|
Fahrzeug
|
Fahrzeugtyp und Ressourcengruppe, Heimatwache,
Hintergrundorganisation des Fahrzeugs1
|
Funkmeldesystem
|
Alarmierungs-, Abfahrts-, Ankunftszeiten
|
Einsatzort
|
PLZ, Einsatzort, Statistisches Gebiet, Sozialstatus des
Gebiets, Alarmart
|
Einsatzinformation
|
Zieldestination des Patienten/der Patientin (PLZ,
Statisches Gebiet, Sozialstatus des Gebietes), Einsatzart,
Berichtsform mit Freitext zur Situation am Unfallort
|
Patient:inneninformationen
|
Geschlecht, Geburtsjahr, Wohnortinformationen (PLZ,
Statistisches Gebiet, Sozialstatus des Gebiets),
Versichertenstatus
|
Behandlungen und Maßnahmen
|
Glasgow Coma Scale, NACA-Score, Art des Notfalls,
Ersthelfer-Maßnahmen an der zu behandelnden Person
|
Leitstellenabfrage
|
Informationen aus Notruf in der Leitstelle und
Abfrageergebnis
|
1 In Hamburg sind neben der Feuerwehr in ausgewählten
Regionen private Rettungsdienstanbieter am Einsatzgeschehen
beteiligt.
Kleinräumige und soziallagensensitive Datenverortung
Für die Datenanalysen im Projekt „Gesunde Quartiere“
sollten den gesundheitsbezogenen Routinedaten über die jeweils
adressgenauen Anschriften der Versicherten (in den GKV-Daten) und der
transportierten Personen (in den Einsatzdaten) zunächst die
Informationen zu den Hamburger Statistischen Gebieten als Operationalisierung
des Quartiers in Verbindung mit den Status- und Dynamikindexklassen der
jeweiligen Statistischen Gebiete zugeordnet werden. Eine Besonderheit der
Einsatzdaten der Feuerwehr ist, dass neben dem Wohnort der transportierten
Person auch der genaue Einsatzort dokumentiert ist, der damit eine zweite
ereignisbezogene Perspektive soziallagensensitiver Analysen
ermöglicht[2].
Eine Betrachtung der Verteilung der Hamburger Gesamtbevölkerung auf die
einzelnen Statistischen Gebiete und der Anzahl der Gebiete in den Indexklassen
ergab jedoch eine Ungleichverteilung von absoluten Bevölkerungsanteilen
([Tab. 2]). Während sich 2017
etwa in der Klasse „hoch -“ (hoher Sozialstatus mit negativer
Dynamik) nur ein Statistisches Gebiet mit insgesamt 907 Bewohner:innen befindet,
gibt es im Gegenzug 424 Gebiete mit einer Einwohnerschaft von fast einer
Million, die dem Index „mittel 0“ (mittlerer Sozialstatus
stabile Dynamik) zugeordnet sind. Diese Verteilung ist mit der Methodik zur
Zuordnung der Statistischen Gebiete zu den Indexklassen über die
Zuweisung von festgelegten Standardabweichungen zu erklären [33], führte aber insbesondere im
Hinblick auf die Lieferung von Versichertendaten ausgewählter Kassen auf
Ebene einzelner Statistischer Gebiete zu nicht unerheblichen
datenschutzrechtlichen Bedenken bzgl. potenzieller Re-Identifizierbarkeit und
damit zu einer Adaption der ursprünglich geplanten Vorgehensweise.
Tab. 2 Verteilung der Statistischen Gebiete nach
Gesamtindexklassen 2017. Eigene Darstellung mit Daten aus dem
Bericht zum Sozialmonitoring 2017 [35].
Gesamtindex
|
Anzahl Stat. Gebiete mit Dynamikindex
|
Bevölkerung
|
Anzahl Stat. Gebiete ohne Dynamikindex
|
Bevölkerung
|
Häufigkeit
|
Prozent (%)
|
Häufigkeit
|
Prozent (%)
|
hoch −
|
1
|
907
|
0,1
|
156
|
301 078
|
16,6
|
hoch+
|
4
|
2966
|
0,2
|
hoch 0
|
151
|
297 205
|
16,4
|
mittel −
|
57
|
104 572
|
5,8
|
542
|
1 151 480
|
63,3
|
mittel+
|
61
|
122 201
|
6,2
|
mittel 0
|
424
|
924 707
|
51,1
|
niedrig −
|
10
|
15 880
|
0,9
|
67
|
157 410
|
8,7
|
niedrig+
|
9
|
19 918
|
1,1
|
niedrig 0
|
48
|
121 612
|
6,7
|
sehr niedrig −
|
17
|
29 875
|
1,7
|
82
|
209 265
|
11,5
|
sehr niedrig+
|
5
|
11 732
|
0,7
|
sehr niedrig 0
|
60
|
167 658
|
9,3
|
Insgesamt
|
847
|
1 819 233
|
100,0
|
847
|
1 809 233
|
100,0
|
Als relativer Faktor, der die Veränderung des Sozialstatus eines Gebietes
im Vergleich zum Hamburger Durchschnitt darstellt [33], lassen sich mit dem Dynamikindex in
der geplanten Querschnittsbetrachtung keine validen Aussagen bezüglich
seines Einflusses auf Gesundheit treffen, weshalb er im weiteren
vernachlässigbar ist. Um allerdings für die Anwendung im Kontext
der Routinedaten die quantitativen Bevölkerungsanteile in den
verbliebenen vier Statusklassen anzugleichen, wurde für die Statusklasse
„mittel“ (die insgesamt 1 151 480 Bewohner:innen
– mithin ca. 63% der Bevölkerung – umfasst) eine
Verfeinerung der zugrundeliegenden Standardabweichungen in „mittel
1“ bis „mittel 4“ vorgenommen. [Tab. 3] zeigt die verfeinerte Aggregation
auf nun 7 Ausprägungen des Statusindex und die entsprechend angepasste
Verteilung der Bevölkerungsanteile. Von einer weiteren Verortung auf
Ebene Statistischer Gebiete wurde aus genannten Gründen abgesehen.
Tab. 3 Feinere Aufteilung der Statistischen Gebiete nach
Statusindexklassen. Eigene Darstellung mit Daten aus dem Bericht zum
Sozialmonitoring 2017 [35].
Statusindexklasse
|
Standardabweichung
|
Anzahl Stat. Gebiete
|
Gesamtbevölkerung
|
Häufigkeit
|
Prozent (%)
|
hoch
|
geringer als -1,00
|
156
|
301 078
|
16,6
|
mittel1
|
−1,00 bis −0,50
|
163
|
321 520
|
17,7
|
mittel2
|
−0,49 bis 0,00
|
152
|
334 192
|
18,4
|
mittel3
|
0,01 bis 0,50
|
125
|
262 837
|
14,5
|
mittel4
|
0,51 bis 1,00
|
102
|
232 931
|
12,8
|
niedrig
|
1,01 bis 1,50
|
67
|
157 410
|
8,7
|
sehr niedrig
|
mehr als 1,50
|
82
|
209 265
|
11,5
|
Insgesamt
|
|
847
|
1 819 233
|
100,0
|
Die Nutzung dieses modifizierten quartiersbezogenen Index resultiert aus
datenschutz- und rechtlichen Vorschriften bzgl. der wissenschaftlichen Nutzung
von Sozialdaten. Deren Übermittlung für Forschungszwecke wird
durch das Zehnte Sozialgesetzbuch (SGB X) geregelt [20]
[37]. Dabei ist neben weiteren administrativen Herausforderungen
insbesondere eine ausreichende Anonymisierung zum Schutz betroffener Personen
von Bedeutung. Daher war das Ziel bei der weiteren Entwicklung des
Zuordnungsverfahrens, eine Lieferung von anonymisierten und aggregierten Daten
zu ermöglichen, die den größtmöglichen Schutz
betroffener Personen gewährt und dennoch eine Zuordnung zu den
relevanten Statusindexklassen erlaubt. Als Ergebnis wurde den Dateneignern ein
gemeinsam mit der Hafen City Universität Hamburg entwickelter
Zuordnungsalgorithmus übermittelt, der den Straßen und
Hausnummern vom Wohnort der Versicherten im Stammdatensatz der
GKV-Abrechnungsdaten und dem Wohn- und/oder Einsatzort der
transportierten Personen in den Einsatzdaten die Information
„Statusindexklasse“ zuspielt. Einzige Voraussetzung für
die Verortung ist eine einheitliche Adressdokumentation bei den Dateneignern.
Nach weiterer Anonymisierung und Aggregation [26] beinhalten die Routinedaten damit lediglich Informationen zum
Wohnort der/des Versicherten (in den GKV-Abrechnungsdaten) und zum Wohn-
oder Einsatzort der transportierten Personen (Einsatzdaten) auf Ebene der 7
Statusindexklassen. Damit ist bspw. die Aussage „Der Wohnort von
Versicherter XY hat einen hohen Sozialstatus“ möglich.
Für die Feuerwehr und 2 der 3 beteiligten Kassen waren die vereinbarten
Schritte zur Anonymisierung der Daten ausreichend, um von einer Information der
jeweiligen Datenaufsichtsbehörden abzusehen, bei der dritten Kasse
erfolgte vor der Datenlieferung zusätzlich die Einholung einer
Genehmigung in Form eines Antrags nach § 75 SGB X.
Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse bivariater deskriptiver Auswertungen
dienen dazu, die Eignung der für die Abbildung des Sozialstatus der
Wohn- und Einsatzorte verwendeten Statusindexklassen als Proxy für die
individuelle soziale Lage anhand der beiden Routinedatenquellen und exemplarisch
für den Bereich Unfall und akutstationäre Versorgung bei Kindern
und Jugendlichen darzustellen.
Ergebnisse
Die übermittelten GKV-Abrechnungsdaten umfassen Informationen zu insgesamt
N=484 988 Versicherten und deren Leistungsbezügen im Jahr
2017. Insgesamt waren in Hamburg im Referenzjahr ca. 1,56 Mio. Menschen gesetzlich
versichert [38], weshalb die
übermittelten Daten Aussagen zu knapp 30 % aller in Hamburg
gemeldeten gesetzlich Versicherten zulassen.
Die Einsatzdaten der Feuerwehr Hamburg im Gebiet der Freien und Hansestadt liefern
Informationen zu N=288 543 Fällen. Ein Fall umfasst im
Datensatz die Alarmierung eines Fahrzeugs, in der Regel eines Rettungswagens (RTW).
Wurde für einen Einsatz beispielsweise zusätzlich ein
Notarzteinsatzfahrzeug alarmiert, dann stellt dieses einen eigenständigen
Fall dar. Beide Fahrzeuge bzw. Fälle sind durch Haupt- und
Untereinsatznummern miteinander verknüpft und Einsätzen eindeutig
zuordenbar. Die tatsächliche Anzahl an Notfalleinsätzen ist somit
geringer als die im Datensatz enthaltene Fallzahl und lag laut Bericht der
Einsatzstatistik der Hamburger Feuerwehr im Jahr 2017 bei N=253 622
[39]. Für die weiteren
Auswertungen wurden ausschließlich Fälle verwendet, bei denen als
Fahrzeugtyp ein RTW angegeben wurde. Notarzteinsätze sind damit nicht
berücksichtigt. Ausgeschlossen wurden außerdem Fälle, bei
denen am Einsatzort beispielsweise keine Person vorgefunden wurde und solche, bei
denen sich der Wohnort der transportierten Personen außerhalb Hamburgs
befindet. Die Auswertungen der Einsatzdaten basieren damit auf einer Grundgesamtheit
von N=170 808 Einsätzen mit RTW.
Soziale Ungleichheit bei Unfällen und in der stationären
Akutversorgung
Bei der Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen, insbesondere der
stationären Akutversorgung, spielen Unfälle eine besondere
Rolle. Wie bereits erwähnt, belegen hier unterschiedliche Studien
vermehrte Unfallverletzungen sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und
längere stationäre Versorgung in niedrigen Statusgruppen [27]
[28]. In [Abb. 2] werden daher
Einsatzhäufigkeiten bei Kindern und Jugendlichen (0 bis unter 16 Jahre)
dargestellt. Die Auswertung erfolgt fallbezogen: Ein Fall umfasst einen RTW und
die dem Einsatz bzw. RTW über den Wohnort der transportierten Person
zugeordneten Statusindexklassen, gefiltert nach dem Alter der Transportierten.
Im Jahr 2017 wurden insgesamt n=12 371 Kinder und Jugendliche
unter 16 Jahren von einem RTW transportiert. Eine nach Statusindexklassen des
Wohnortes (nicht des ggf. abweichenden Unfallortes) getrennte Betrachtung der
relativen Häufigkeiten zeigt mit sinkendem Sozialstatus tendenziell
steigende Transporthäufigkeiten auf. Der prozentuale Unterschied der
Einsatzhäufigkeiten zwischen den Statusgruppen „hoch“
und „sehr niedrig“ liegt bei 6,2 Prozentpunkten. Der Anstieg der
Einsatzhäufigkeiten in Richtung niedriger Statusindexklassen ist
allerdings nicht konsistent. Stattdessen ist bspw. die Einsatzhäufigkeit
in der Klasse „niedrig“ mit 12,2 % deutlich geringer als
in den Klassen „mittel4“ und „sehr niedrig“.
Abb. 2 Relative Häufigkeiten der RTW-Einsätze bei
Kindern und Jugendlichen (unter 16 Jahre) in 2017 nach
Statusindexklassen des Wohnortes. Eigene Darstellung mit
Einsatzdaten (n=12 371).
Zusätzlich zu den generellen Einsatzhäufigkeiten lassen sich auch
Einsatzgründe darstellen, die z. B. verschiedene Unfallarten
beinhalten[3]. Vergleicht man hier
die Einsatzgründe Schul-, Sport- und Straßenunfall ([Abb. 3]), dann zeigt sich
zunächst, dass die Verteilung von durch einen Schulunfall bedingten
RTW-Fahrten in allen Statusindexklassen ähnlich ist. Bei Sport- und
Straßenunfällen hingegen sind leichte Tendenzen in Richtung
einer Soziallagenabhängigkeit erkennbar: Während Kinder und
Jugendliche mit steigendem Sozialstatus häufiger aufgrund von
Sportunfällen von einem Rettungswagen transportiert werden, sind Kinder
und Jugendliche aus niedrigeren Statusgruppen anscheinend etwas häufiger
in Straßenunfälle verwickelt. Auch hier verläuft der
Anstieg der Einsatzhäufigkeiten nicht konsistent, stattdessen sind
einige Ausreißer zu verzeichnen. Vor dem Hintergrund der
Unterschiedlichkeiten der Freizeitaktivitäten erscheint die Verteilung
plausibel und wird in einer Literaturübersicht von Ewert et al. (2016)
bestätigt [29]. Über die
Stammdaten der GKV-Abrechnungsdaten in Verbindung mit den Daten zur
vollstationären Versorgung lässt sich außerdem der
Anteil an versicherten Kindern und Jugendlichen (unter 16 Jahren) darstellen,
der 2017 mindestens einmalig aufgrund einer vollstationären Behandlung
in ein Krankenhaus aufgenommen wurde ([Abb.
4]). Dabei zeigt sich auch hier die z. B. vom Lampert
& Kuntz (2015) dargestellte seltenere stationäre Versorgung in
höheren Statusklassen [27].
Allerdings ist der prozentuale Unterschied zwischen den Statusindexklassen
„hoch“ und „sehr niedrig“ nur gering.
Abb. 3 Relative Häufigkeit der RTW-Einsätze bei
Kindern und Jugendlichen (unter 16 Jahren) in 2017 nach
Statusindexklassen des Wohnortes und Unfallarten. Eigene Darstellung mit
Einsatzdaten (n=12 371).
Abb. 4 Anteil von Kindern und Jugendlichen (unter 16 Jahren) mit
mind. einer Krankenhausaufnahme zur vollstationären Behandlung
in 2017 nach Statusindexklassen. Eigene Darstellung mit
GKV-Abrechnungsdaten (Stammdaten und Daten zur vollstationären
Versorgung, n=3816).
Diskussion und Schlussfolgerung
Diskussion und Schlussfolgerung
Nach einer durch den Schutz personenbezogener Daten begründeten Adaption des
ursprünglich geplanten Verortungsverfahrens erwies sich die dargestellte
Methode als geeignet, um gesundheitsbezogenen Routinedaten basierend auf den
Statusindexklassen des Hamburger Sozialmonitorings einen Indikator zur sozialen Lage
der Bevölkerung entsprechend der sozialen Lage ihres Quartiers zuzuweisen.
Neben den in der Versorgungsforschung bereits etablierten Abrechnungsdaten der GKV
wurden dafür auch Einsatzdaten des Rettungsdienstes verwendet. Diese
ergänzen die soziallagenbezogene Datenanalyse um eine innovative
Perspektive, da die Einsatzdaten in Bezug auf die Verortung neben dem Wohnort der
transportierten Person auch Informationen zum jeweiligen Einsatzort enthalten. Erste
deskriptive Auswertungen zeigen, dass sich bereits in der Literatur
bestätigte individuelle Soziallagenabhängigkeiten im Hinblick auf
Unfallhäufigkeiten und die stationäre Behandlung von Kindern und
Jugendlichen bezogen auf die Soziallage des Wohn- bzw. Einsatzorts (in den
Rettungsdienstdaten) bestätigen. Dies ist als Indiz für die Eignung
des Indikators zur Darstellung von sozialer Ungleichheit zu verstehen und als Beleg
für die Sozialstruktur des Wohnorts als eigenständige Determinante
von Gesundheit und Krankheit. Vertiefende Auswertungen einzelner Leistungs- und
Einsatzbereiche, die auch Alters- und Geschlechtsstandardisierungen umfassen, werden
folgen müssen, um diese Tendenz zu bestätigen.
Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass die Zuordnung des
Statusindex zu einer konkreten Person keinesfalls die Schlussfolgerung
zulässt, dass die (versicherte/transportierte) Person die entsprechenden
Merkmale selbst aufweisen muss, sondern lediglich, dass er/sie in einem
kleinräumig abgegrenzten Gebiet wohnt, in dem der Sozialstatus im Vergleich
zu anderen Gebieten abweicht und somit auch die Wahrscheinlichkeit in einer
entsprechenden Soziallage zu leben im Vergleich zu anderen Gebieten deutlich
höher ist. Hinzukommt, dass z. B. der den Krankenkassen
übermittelte Wohnort nicht immer auch dem tatsächlichen Wohnort der
Versicherten entsprechen muss. Beispielsweise können
Berufs(wochen)pendler:innen ihren Erst- oder Zweitwohnsitz angeben, bei dem sich die
soziale Lage jeweils unterscheiden kann. Diese Tatsachen machen neben
weiterführenden Analysen auch eine sukzessive Validierung der (adaptierten)
Statusindexzuordnung (hoch – mittel1–4 – niedrig –
sehr niedrig) zu Versicherten bzw. Transportierten notwendig. Ein erster Schritt
wäre, die Zuordnung der Wohn- bzw. Einsatzorte zu den konkreten Quartieren
(bzw. Statistischen Gebieten), und nicht nur – wie hier dargestellt
– die Zuordnung zu einer Gruppe von Quartieren, deren Gemeinsamkeit die
Zugehörigkeit zu einer Statusindexklasse ist, zu untersuchen. Hierbei sind
Ressourcen für eine umfangreiche Genehmigung durch entsprechende
Aufsichtsbehörden zu berücksichtigen. Auf dieser
kleinräumigen Basis besteht dann die Möglichkeit des Abgleichs mit
dem tatsächlichen sozioökonomischen Status der Bevölkerung,
wie er beispielsweise im Rahmen von Primärdatenerhebungen ermittelt werden
kann [40]. Auch ein Abgleich der Erkenntnisse
weiterführender Analysen mit weiteren stadtteil- oder quartiersbezogenen
(Gesundheits-)Daten aus Hamburg erscheint sinnvoll [17]
[40].
Wenn sich die Statusindexklassen auch in potentiell quartiersbezogenen Analysen als
ein geeigneter Indikator für die näherungsweise Darstellung der
sozialen Lage der Hamburger Bevölkerung erweisen, dann kann die aufgezeigte
Methode eine Möglichkeit darstellen, um unterschiedlichen
gesundheitsbezogenen individuellen (Routine-)Daten über die bekannte,
adressgenaue Anschrift den sozialen Status des Wohnortes als zusätzliche
Variable zuzuspielen. Nicht nur Einsatzdaten des Rettungsdienstes und
GKV-Routinedaten in Verbindung mit diesem Indikator können dann –
zusätzlich zu dem bestehenden Sozialmonitoring – eine sinnvolle
Ergänzung einer integrierten und kleinräumigen soziallagensensitiven
Berichterstattung darstellen. Dank der Vielzahl an relevanten gesundheitsbezogenen
Informationen ermöglichen diese Daten damit ergänzend die
Betrachtung von Krankheitsverläufen oder Entwicklungen im
(Rettungs-)Einsatzgeschehen für große Bevölkerungsgruppen.
So besteht bspw. die Möglichkeit, zielgerichtet und soziallagenbezogen
Ansätze der Gesundheitsförderung und Prävention auf
Quartiersebene zu implementieren, zu bedarfsgerecht(er)en kleinräumigen
Versorgungsstrukturen beizutragen, Stadtentwicklungsprojekte adressatengerecht zu
entwickeln und auf mittelfristige Sicht – was bei derartigen Vorhaben per se
unabweisbar ist – auf einer gegebenen und regelmäßig
vorliegenden Datenbasis zu evaluieren. Auch eine Übertragbarkeit des
dargestellten Ansatzes auf weitere urbane Räume mit vergleichbarem
Monitoringansatz wie München oder Berlin ist denkbar. Im Sinne der
Health-in-all-Policies-Strategie der WHO kann eine Fortführung der
aufgezeigten Methodik eine Grundlage für die gesundheitsgerechte Gestaltung
politischer Entscheidungen und Programme sein [41]. Diese wiederum können eine wesentliche Voraussetzung
für die gesundheitsförderliche und auch verhältnisbezogene
Gestaltung von Lebenswelten wie z. B. dem Quartier darstellen [42].