Schlüsselwörter
Epilepsie - Depression - Vagusnervstimulation - responsive Vagusnervstimulation -
transkutane Vagusnervstimulation - Lebensqualität - Biomarker - Wirkmechanismus
1. Einleitung
Epilepsie und Depression zählen zu den häufigsten neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen.
Weltweit sind etwa 50 Mio. Menschen von einem Epilepsieleiden betroffen [1]. Jeder Mensch hat ein Lebenszeitrisiko von 8 bis 10%, einen epileptischen Anfall
zu erleiden [2]. Jährlich erkranken 50 bis 100 von 100 000 Menschen neu an einer Epilepsie bzw.
an einem Epilepsiesyndrom [3]. Nach der Klassifikation der International League Against Epilepsy (ILAE) werden
epileptische Anfälle in fokale und generalisierte Anfälle sowie in Anfälle mit
unbekanntem Ursprung unterteilt [4]
[5].
Die Jahresinzidenz der Depression liegt bei ein bis 2 Erkrankungen auf 100 Personen.
Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken (Lebenszeitprävalenz),
liegt bei 16–20% [6]
[7]
[8]. Die Häufigkeit einer unipolaren Depression in der Allgemeinbevölkerung wird in
einem Zeitfenster von 12 Monaten auf 7,7%, die 12-Monatsprävalenz für eine Major
Depression auf 6% und für eine Dysthymie auf 2% geschätzt. In Deutschland liegt
die Anzahl der Betroffenen bei ca. 6,2 Mio. Menschen, die in einem Zeitraum von 12
Monaten an einer unipolaren Depression erkranken [9].
Die Therapie der Epilepsie und der Depression orientiert sich an den aktuellen Leitlinien.
Es existieren verschiedene therapeutische Ansätze. Den zentralen Baustein bilden die
medikamentösen Mono- oder Kombinationstherapien.
Im Rahmen der mehrstufigen Therapiekonzepte bestehen bei den konservativ therapierefraktären
Verlaufsformen der Epilepsie und der Depression die Möglichkeit chirurgischer Therapieansätze.
Entsprechend der aktuellen S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression
[9] sowie der S1-Leitlinie Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter
[10] (angemeldete Fertigstellung der nachfolgenden S2k-Leitlinie zum 31.12.2021) ist
als nichtmedikamentöses somatisches Therapieverfahren die Vagusnervstimulation erwähnt,
eine neuromodulatorische Therapie, die eine intermittierende elektrische Stimulation
des linken Vagusnervs durch einen programmierbaren Pulsgenerator beinhaltet [11]. (Die S3-Leitlinie Behandlung von depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Registrierungsnummer: 028–043, Entwicklungsstufe: S3 aus dem Jahr 2013 befindet sich
derzeit in Überarbeitung.)
Nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren sind je nach Ätiologie der Depression
leitliniengerecht die elektrokonvulsive Therapie (EKT), Wachtherapie (Schlafentzugstherapie),
Lichttherapie („Phototherapie“), körperliches Training, die repetitive transkranielle
Magnetstimulation (rTMS) und die Vagusnervstimulation (VNS) [9].
Von einer pharmakoresistenten Epilepsie spricht man entsprechend der aktuellen ILAE-Definition
nach 2 voneinander erfolglosen Antiepileptika-Therapieversuchen mit adäquater Dosierung
und Dauer in Mono-und/oder Kombinationstherapie. Dies trifft auf etwa ein Drittel
der Epilepsiepatienten zu [12]. Aus chirurgischer Sicht stehen neben resektiven und nichtresektiven Operationstechniken
die Stimulationsverfahren tiefe Hirnstimulation (DBS) und Vagusnervstimulation zur
Verfügung.
Während die erstgenannten Interventionen eine neurochirurgische Domäne darstellen,
gehört die Implantation eines Vagusnervstimulators inzwischen auch zur Routineversorgung
in großen HNO-chirurgischen Zentren. Die Versorgung mit einem implantierbaren Vagusnervstimulator
ist immer eine interdisziplinäre Therapie, bei der der HNO-Chirurg für den operativen
Part, der Neurologe bzw. Psychiater für die Einstellung des implantierbaren Pulsgenerators
(IPG) und für die Therapieüberwachung zuständig ist. Auch wird die Indikation für
die Implantation eines Vagusnervstimulators in der Regel durch die behandelnden Neurologen
oder Psychiater gestellt.
In Deutschland ist derzeit nur ein implantierbares System, das System VNS Therapy
der Firma Liva Nova Deutschland GmbH, München, erhältlich.
Seit nunmehr 30 Jahren ist die VNS Therapy (LivaNova PLC) in vielen Ländern der Erde
zur Zusatzbehandlung von Epilepsien und Depressionen zugelassen, und seitdem kam sie
weltweit bei mehr als 130 000 Patienten zur Anwendung (Stand August 2021).
2. Historie der Vagusnervstimulation
2. Historie der Vagusnervstimulation
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Neurowissenschaftler, Methoden zur Stimulation
des Gehirns zu entwickeln. Der amerikanische Neurologe James Corning präsentierte
1882 mit seiner „carotid fork“ ein Verfahren zur Behandlung von Krampfanfällen durch
mechanische Kompression der Karotiden (Arteria carotis communis), da man damals vermutete,
die Ursache einer Epilepsie seien Störungen im zerebralen Blutfluss. Später kombinierte
Corning diese Methode sogar mit transkutaner elektrischer Stimulation des Vagusnervs
[13]. Mitte des 20. Jahrhunderts folgten zahlreiche tierexperimentelle Untersuchungen.
Zanchetti und Mitarbeiter entdeckten 1952 mittels Epilepsie-Modellen an Katzen, dass
eine Vagusnervstimulation Strychnin-induzierte epileptische Spikes blockieren kann
[14]. Weitere tierexperimentelle Studien an Katze, Hund und Affe zeigten grundlegende
Zusammenhänge zwischen einer Vagusnervstimulation und EEG-Veränderungen sowie deren
Einfluss auf Krampfanfälle [15]
[16].
Die Erkenntnisse aus der Vielzahl an Tierexperimenten zur Wirkung der Vagusnervstimulation
und der induzierten Änderungen von Hirnaktivitäten führten zu Tierxperimenten mit
dem Ziel, über eine Vagusnervstimulation gezielt Krampfanfälle zu durchbrechen [17]
[18]
[19].
1992 beobachtete Zabara, dass bei Hunden experimentell induzierte Anfälle durch VNS
unterbrochen werden konnten [20]. Die Entdeckung der antikonvulsiven Wirkung in den vielversprechenden präklinischen
Studien führte zur Weiterentwicklung der VNS für die klinische Anwendung der Vagusnervstimulation
als Behandlungsmöglichkeit von Patienten mit therapierefraktärer Epilepsie. Penry
und Dean [21], Rutecki [22] und Uthman [23] führten 1988 erstmals den therapeutischen Gebrauch der VNS im Rahmen der Behandlung
von Epilepsiepatienten ein.
Meilensteine der Implantation von Vagusnervstimulatoren:
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1988
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Erste Implantation am Patienten bei Epilepsie J. Kiffin Penry; Bowman Gray School
of Medicine (North Carolina) [21]
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1988–1996
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Studienprogramm, Epilepsie (E-01 – E-05; 454 Patienten) [24]
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1994
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CE Zertifizierung Epilepsie
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1997
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FDA Zulassung Epilepsie
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2000
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Pilot-Studie, Epilepsie (Early Observation Mood Improvement) [25]
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2000
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Studienprogramm, Depression (D-01 & D-03) [26]
[27]
[28]
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2001
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CE Zertifizierung Depression (Europa & Kanada)
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2005
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FDA Zulassung Depression
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2007
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weiterführende klinische Studien, Depression (D-21; D-23; Medicare, RESTORE, RECOVER)
[29]
[30]
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Seit 2015
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Kommerzialisierung „VNS bei Depression“ weltweit
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Seit Mitte der 1990er Jahre wird die VNS in Europa (1994) und in den USA (1997) zur
Behandlung therapieresistenter Epilepsien eingesetzt. Seit Anfang der 2000er findet
die VNS in den USA, Kanada und Europa (Deutschland 2001) auch zur Behandlung der Depression
Anwendung [31]
[32].
Im Jahr 2015 erhielt die Vagusnervstimulation in Europa die Genehmigung zur Therapie
der chronischen Herzinsuffizienz (CHF). In einer Studie mit 60 herzinsuffizienten
Patienten konnte eine signifikante Verbesserung einiger Herzparameter gezeigt werden
[33].
Außerhalb der USA ist die invasive Vagusnervstimulation (VNS Therapy) aktuell zugelassen
als Zusatztherapie der Epilepsie zur Reduzierung der Häufigkeit von Anfällen bei pharmako-resistenten
Patienten mit fokalen Anfällen mit oder ohne sekundärer Generalisierung oder bei Patienten
mit generalisierten Anfällen [34]
[35]. Es liegt hierbei keine Altersbeschränkung vor.
Im Rahmen der Depressionsbehandlung ist die VNS Therapy indiziert zur Behandlung chronischer
oder wiederkehrender Depressionen bei Patienten, die sich in einer behandlungsresistenten
oder behandlungsintoleranten Episode einer Major Depression befinden [35].
Gegenüber den Interventionen im Rahmen einer resektiven Epilepsiechirurgie hat die
Stimulationstherapie mit der invasiven Vagusnervstimulation den großen Vorteil der
Reversibilität [5].
Zur Behandlung der Epilepsie und Depression mittels Vagusnervstimulation existieren
aktuell (Stand August 2021) in den Datenbanken mehr als 1300 peer-reviewed Publikationen
([Tab. 1]), darunter 12 Grundlagen-/Zulassungsstudien.
Tab. 1 Anzahl von publizierten Arbeiten zur VNS bei Depressionen und bei der therapierefraktären
Epilepsie (Quelle: www.ncbi.nih.nlm.gov, Abfrage August 2021).
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Primärfokus
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Anzahl der Publikationen
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Effektivität
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>500
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Sicherheit
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>150
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Handhabung
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>30
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Ökonomie
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>15
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Wirkmechanismus
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>250
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Review-Artikel
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>50
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Neben der invasiven Form der Vagusnervstimulation (VNS Therapy) erfolgte die Entwicklung
von nicht-invasiven transkutanen Stimulationsverfahren. Im Jahr 2010 wurden die ersten
transkutanen Vagusstimulatoren (tVNS) zum Einsatz im Bereich der Ohrmuschel (Ramus
auricularis) in Europa zugelassen, zunächst zur Therapie der Epilepsie und der Depression
[28], seit 2012 besteht auch eine Zulassung zur Schmerztherapie [36].
3. Anatomische Grundlagen des Nervus vagus
3. Anatomische Grundlagen des Nervus vagus
Der Vagusnerv (VN), auch X. Hirnnerv, ist paarig angelegt und breitet sich als längster
der Hirnnerven vom Kopf bis zur Bauchhöhle aus. Er führt neben somato- und viscero-efferenten
(=parasympathischen) auch somato- und viscero-afferente Fasern sowie sensorische Fasern
für den hintersten Zungenabschnitt [37]. Einzelne afferente sensible Fasern entstammen der Concha des Ohres [38]. Der Nervus vagus ist der parasympathische Hauptnerv des autonomen Nervensystems
(ANS) [39].
Der Vagusnerv innerviert die folgenden Organe: Herz, Atemwege und Lunge, Speiseröhre,
Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Gastrointestinaltrakt und Nieren [40]
[41]
[42]
[43].
Der Nervus vagus tritt aus dem Sulcus lateralis posterior der Medulla oblongata zwischen
der Olive und dem Fasciculus cuneatus/graciles hervor [44] und verlässt den Schädel gemeinsam mit dem Nervus glossopharyngeus (IX. Hirnnerv)
und Nervus accessorius (XI. Hirnnerv) durch das Foramen jugulare [37]. Ihm sind 4 Hirnnervenkerne zugehörig: der Nucleus tractus solitarii (NTS), der
Nucleus spinalis nervi trigemini, der Nucleus dorsalis nervi vagi sowie der Nucleus
ambiguus [45]. Im zervikalen Bereich liegt der Vagusnerv tief in der Halsgefäßscheide zwischen
der Arteria carotis und der Vena jugularis interna und verläuft nach kaudal rechts-
und linksseitig der Trachea mit nachfolgendem komplexen abdominopelvinen Verlauf [46].
Cervical führt der Nerv ca. 80% afferente und 20% efferente Fasern [47]. Der Vagusnerv stellt einen gemischten Nerven dar und besteht im zervikalen Bereich
aus ca. 10 bis 15 einzelnen Nervenfaserbündeln [48]
[49]
[50].
Durch systematische funktionelle Untersuchungen konnten die Neuronen des Vagusnervs
in A-, B- und C-Fasern unterteilt werden [51]. Die A-Fasern (einschließlich Aα, Aβ und Aδ) bestehen aus myelinisierten somatischen
afferenten und efferenten Neuronen mit Durchmessern von 1 bis 22 Mikrometern (µm)
und Leitungsgeschwindigkeiten von 5 bis 120 Metern pro Sekunde (m/s). Die B-Fasern
sind mäßig myelinisiert, efferent und hauptsächlich präganglionäre autonome Fasern
mit einem Durchmesser von 3 µm und Leitungsgeschwindigkeiten von 3 bis 15 m/s. Die
myelinisierten A- und B-Fasern bilden etwa 20% der Neuronen des Vagusnervs. Die etwa
80% unmyelinisierten C-Fasern sind nachweislich nicht an der antikonvulsiven Wirkung
der VNS Therapie beteiligt [52] sondern sie benötigen einen 10 - 100fach höheren Erregungsstrom bei elektrischer
Stimulation (s. Kap. 5.1.4.) und sind wahrscheinlich verantwortlich für die Schmerzübertragung
[5].
Die sensorischen afferenten Fasern mit Zellkörper im Ganglion inferius (früher: Ganglion
nodosum) verschalten im Nucleus tractus solitarius (NTS) und projizieren zu unterschiedlichen
Hirnregionen [53]
[54]
[55]
[56]
[57] ([Abb. 1] und [2]). Sie übermitteln Schmerz-, Temperatur- und Berührungsempfindungen [58]
[59]. Nicht-schmerzhafte viszerale Reize werden über parasympathische Fasern übermittelt
[60], während viszerale Schmerzreize über sympathische Fasern weitergeleitet werden [61].
Abb. 1 Anatomische Verbindungen des Nervus vagus 1: Mit freundlicher Genehmigung von S.
Fetzer, LivaNova 2021, modifiziert nach Hachem et al. 2018 [62].
Abb. 2 Anatomische Verbindungen des Nervus vagus 2, Zeichnung Möbius 2021 nach Rush et al.
2002 [65].
Eintreffende sensorische Informationen vom NTS werden über 3 Hauptwege zum Rest des
Gehirns geleitet: 1) über eine autonome Feedbackschleife, 2) über direkte Projektionen
zur Formatio reticularis in der Medulla oblongata und 3) über aufsteigende Projektionen
über den Nucleus parabrachialis (PB) und Locus coeruleus (LC) zum Vorderhirn [63]
[64] . Durch die multiplen parabrachialen Reflexprojektionen kann der NTS respiratorische
Aktivitäten sowie die Schmerzmodulation beeinflussen.
Über die Projektionen des NTS zur Amygdala erhält der NTS direkten Zugang zum amygdala-hippokampus-entorhinalen
Kortex des limbischen Systems, welches den Ort darstellt, der am häufigsten komplex-partielle
Anfälle generiert [5].
Nucleus parabrachialis (PB) und Locus coeruleus (LC) projizieren direkt zu Schlüsselstrukturen
des limbischen Systems, die bei der Verarbeitung von Affekten und der emotionalen
Bewertung von Informationen eine wichtige Rolle spielen (Hypothalamus, bestimmte thalamische
Regionen, Inselregion, orbitofrontaler und präfrontaler Kortex, Amygdala und Stria
terminalis) [66]. Die funktionelle Bedeutung dieser Verbindungen des Vagusnervs zum Hirnstamm und
zum limbischen System wurde vielfach beschrieben [67]
[66]
[67]
[68]
[71].
Der Vagusnerv enthält somatische und viszerale Afferenzen sowie Efferenzen. Die efferenten
Fasern entspringen hauptsächlich aus dem in der Medulla oblongata lokalisierten [72] motorischen Nucleus dorsalis nervi vagi sowie dem Nucleus ambiguus und sind verantwortlich
für die parasympathische autonome Innervation der meisten thorakalen und abdominalen
Organe, für die motorische Innervation von Larynx und Pharynx [31]
[44] sowie der Stimmbänder [72]. Der Vagus-NTS-Parabrachialkerne-Weg ist unter anderem bei der Verarbeitung pulmonaler
Informationen beteiligt, weshalb veränderte vagale sensorische Inputs in dieses System
während der Vagusnervstimulation gelegentlich zu einer subjektiv empfundenen Dyspnoe
führen kann, jedoch ohne nachweisbare Veränderungen der pulmonalen Parameter [5].
Die vagalen parasympathischen Efferenzen führen zu Neuronen, welche sich in parasympathischen
Ganglien befinden. Diese Ganglien sind in der Nähe der Zielorgane anzutreffen. Die
Vagusnerven sind asymmetrisch in Bezug auf die kardiale Innervation. Der linke Vagusnerv
enthält mehr der parasympathischen Fasern, die v. a. die Ventrikel und den AV-Knoten
innervieren, und der rechte Vagusnerv enthält mehr Fasern, die vorzugsweise die kardialen
Vorhöfe [72] sowie den Sinusknoten innervieren. Verschiedene tierexperimentelle Studien bestätigten
den rechtsseitig stärkeren kardialen Effekt [73]
[74].
Daher wird bei der invasiven Vagusnervstimulation die Nutzung des linken Vagusnervs
gegenüber dem rechten bevorzugt, um kardiale Nebeneffekte wie Arrhythmien zu vermeiden
[31]
[44].
Die afferenten Fasern entspringen hauptsächlich 2 parasympathischen Ganglien nahe
der Schädelbasis [72]. Sie übermitteln die viszeralen Informationen zum Nucleus tractus solitarii (NTS)
- und folgend zum Locus coeruleus, Hypothalamus, Thalamus, zur Amygdala und zur Inselrinde
– sowie zu weiteren Regionen des Gehirns wie dem Nucleus spinalis nervi trigemini,
der Area postrema und der medialen retikulären Formation der Medulla oblongata [31]
[44], dem Nucleus dorsalis nervi vagi und dem Nucleus ambiguus [72].
Für die sensible Innervation von Teilen der Ohrmuschel und der Gehörgangshinterwand
ist der R. auricularis nervi vagi (Synonym Arnold’s Nerv) verantwortlich. Dies hat
Bedeutung für den Therapieansatz der nichtinvasiven VNS. Auch der Arnold-Reflex, ein
unwillkürlicher Hustenreflex durch Stimulation des R. auricularis nervi vagi z. B.
bei mechanischer Manipulation, wird hierdurch ausgelöst [75]. Der Arnold’s Nerv verläuft vom Ganglion superius kurz oberhalb des Foramen jugulare
durch ein knöchernes Ostium in das Felsenbein und mit dem N. facialis im Canalis nervi
facialis. Er tritt aus der tympanomastoidalen Fissur oberhalb des Foramen styloideum
aus und spaltet sich auf zu Fasern für die Gehörgangshinterwand und für Teile der
Ohrmuschel (siehe Kapitel 5.2.) [75]
[74]
[77]. Zentral hat der R. auricularis nervi vagi über das Ganglion superius Verbindungen
zum Hirnstamm, insbesondere zum NTS [78].
4. Neurophysiologische Grundlagen des Wirkmechanismus der Vagusnervstimulation
4. Neurophysiologische Grundlagen des Wirkmechanismus der Vagusnervstimulation
In den Synapsen der vagalen Afferenzen finden sich exzitatorische (Glutamat und Aspartat)
und inhibitorische (GABA) Neurotransmitter sowie Acetylcholin und eine große Auswahl
an Neuropeptiden.
Über den Nucleus tractus solitarius werden die vagalen Afferenzen zu noradrenergen
sowie serotonergen neuromodulatorischen Systemen im Gehirn und Rückenmark projiziert.
Im Locus coeruleus befindet sich die höchste Dichte an noradrenergen Neuronen im Gehirn.
Damit sorgt der LC für eine weitreichende noradrenerge Innervation des gesamten Kortex,
Dienzephalons und vieler anderer Hirnstrukturen. Im Gegensatz zu dem morphologisch
klar abgegrenzten LC sind die Raphekerne in der Formatio reticularis diffus verteilt.
Sie stellen die Hauptquelle für Serotonin dar und bewirken eine weitreichende serotonerge
Innervation des gesamten Kortex, des Dienzephalons und anderer Hirnstrukturen [5].
Vagus - Locus coeruleus- und Vagus - Raphekerne-Interaktionen sind somit potenziell
passend zum Mechanismus der invasiven Vagusnervstimulation, da Noradrenalin, Adrenalin
und Serotonin unter anderem antikonvulsive und antidepressive Effekte ausüben [5].
Walker und Mitarbeiter zeigten experimentell die zentrale Rolle des NTS bei dem antikonvulsiven
Effekt der invasiven VNS. Der Anstieg von GABA und die Abnahme der Glutamat-Konzentration
mit nachfolgender Aktivitätsabnahme im NTS wirkten antikonvulsiv [79]. In einem Modell limbischer Anfälle bei Ratten belegten Raedt und Mitarbeiter, dass
der antikonvulsive Effekt der VNS durch die Erhöhung der Ausschüttung von Noradrenalin
im Hippocampus erfolgt; es zeigte sich eine Korrelation zwischen Noradrenalin-Konzentration
und antikonvulsivem Effekt [38]
[80].
Die Affekt-modulierende Funktion des limbischen Systems ist zunehmend Forschungsgebiet
bei der Indikation Depression. Mit modernen bildgebenden Verfahren (fMRT; PET; SPECT;
MEG) wurde vielfach der physiologische Einfluss der Vagusnervstimulation auf diese
und höhere Hirnstrukturen untersucht, wodurch der Wirkmechanismus dieser Therapie
zunehmend transparenter wird [81]
[80]
[81]
[82]
[85].
Zusammengefasst werden Noradrenalin, Adrenalin und Serotonin unter anderem auch antikonvulsive
und stimmungsaufhellende Effekte zugesprochen.
Zwei Hauptfunktionen des Nervus vagus sind Sprechen und Schlucken, vermittelt über
spezielle viszerale efferente Fasern, die dem Nucleus ambiguus entspringen [58]
[59]. Der Nervus laryngeus recurrens beinhaltet ebenfalls solche speziellen Fasern und
versorgt die Adduktoren und Abduktoren des Larynx [86], eine Voraussetzung, um grobe Laute in differenzierte Sprache zu formen [59]. Dies könnte die temporären Stimmirritationen während der aktiven Stimulationsphase
der VNS Therapy erklären. Somatosensorische thalamische Neuronen projizieren sich
auf den inferioren postzentralen Gyrus und den inferioren parietalen Lappen. Vago-trigemino-thalamokortikale
Prozesse vermitteln laryngeale und pharyngeale Empfindungen [5].
Der Vagusnerv ist zudem ein sehr bedeutender Bestandteil bei der Bekämpfung von chronischen
Entzündungsprozessen im Körper. Hier besteht eine bidirektionale Kommunikation zwischen
Gehirn und Magen-Darm-Trakt. Die entzündungshemmende Rolle des Vagusnervs erfolgt
entweder durch vagale Afferenzen mittels der Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse
(„Stressachse“) oder vagale Efferenzen, die auf den cholinergen entzündungshemmenden
Weg abzielen und über die Blockade der Freisetzung von Entzündungsmediatoren durch
Makrophagen, wie dem Tumornekrosefaktor (TNFα) wirken. Die Neuroimmunologie ist folglich
ein junges, aufstrebendes Forschungsgebiet für die Anwendung der VNS Therapy [87]
[86]
[89]. Aus all diesen vagalen Funktionen ergibt sich das nachfolgende Wirkmodell einer
Vagusstimulation ([Abb. 3]).
Abb. 3 Wirkmodell der Vagusstimulation, Zeichnung Möbius 2021.
Eine verbesserte Tages-Wachsamkeit unter VNS resultiert durch eine verbesserte retikuläre
aktivierende Systemfunktion, obwohl der Mechanismus der Veränderungen durch invasive
Vagusnervstimulation bisher weitgehend unklar ist [72].
5. Arten der Vagusnervstimulation
5. Arten der Vagusnervstimulation
Die Vagusnervstimulation ist als nichtmedikamentöses somatisches Therapieverfahren
eine neuromodulatorische Therapie, die eine intermittierende elektrische Stimulation
des linken Vagusnervs durch einen (programmierbaren) Pulsgenerator beinhaltet.
Generell kann zwischen verschiedenen Arten der Vagusnervstimulatoren unterschieden
werden:
-
der operativ zu implantierende (=invasive) Vagusnervstimulator (iVNS bzw. VNS Therapy),
-
der nicht-invasive transkutane auriculäre und cervicale Vagusnervstimulator (taVNS
und tcVNS).
5.1. Invasive Vagusnervstimulation (iVNS)
In der invasiven VNS Therapy wird der batteriebetriebene Generator (aktuelles Modell:
Sentiva) und die Stimulationselektrode während einer ca. 1–2stündigen Operation implantiert.
Nach abgeschlossener Wundheilung (ca. 14 Tage) wird die elektrische Stimulation (und
damit die Therapie) begonnen. Dabei werden die zum Gehirn führenden Nervenfasern des
linken Nervus vagus mit schwachen elektrischen Impulsen depolarisiert und nachfolgend
Aktionspotenziale ausgelöst. Über die Afferenzen führt dies zu vielfältigen physiologischen
und strukturellen Auswirkungen im Gehirn ohne Wirkung auf innere Organe zu verursachen.
Letzteres wäre nur mit deutlich höheren Stromstärken als die technisch durch den VNS
Generator erzeugbaren möglich und erfordert zudem eine spezifische Anordnung (Polarität)
der Stimulationselektroden.
Postoperativ wird der Generator von aussen mit einem Computer (Programmer) und einer
vor die Brust gehaltenen Programmiereinheit („Wand“) verbundenen und vom Arzt patientenspezifisch
programmiert ([Abb. 4] und [5]).
Abb. 4 Wand Model 2000.
Abb. 5 Programmer Model 3000.
Über die regelmäßigen automatisch vom VNS Therapy Generator applizierten Stimulationsimpulse
hinaus ist es für den Epilepsie-Patienten auch möglich, den Generator bei Bedarf (z. B.
wenn der Patient eine epileptische Aura verspürt) zusätzlich von aussen mit einem
speziellen VNS Therapy Magneten zu aktivieren. Der Patient streicht dabei einen Magneten
([Abb. 6]) kurz über den Impulsgeber. Damit ist es Epilepsie-Patienten bzw. deren Angehörigen/dem
Pflegepersonal möglich, einen beginnenden Anfall zu unterbinden, abzukürzen oder abzuschwächen.
Des Weiteren kann durch Auflegen des Magneten auf den IPG die Stimulation gestoppt
werden, z. B. bei unerwünschten Nebenwirkungen [90].
Abb. 6 Magnet zur VNS Therapy ([Abb. 4]
[5]
[6]: privat. H. Möbius, 2021).
5.1.1. Operationstechnik
Die Implantation erfolgt unter Vollnarkose links cervical in Rückenlage. Die Gabe
einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe (single shot) ist obligat. Die Schnittführung
erfolgt unter Beachtung der Hautspannungslinien (RSTL) und idealerweise in Höhe des
Ringknorpels/am Vorderrand des M. sternocleidomastoideus ([Abb. 7]).
Abb. 7 Hautinzisionen (Abb.: privat. H. Möbius, 2021).
Unter Schonung der Halsgefäßscheidenstrukturen wird eine bipolare Elektrode um den
zervikalen Anteil des N. vagus etwa in der Höhe des fünften bis sechsten Halswirbels
platziert. In dieser Region ist zu erwarten, dass der Anschluss der Elektrodenkontakte
kaudal der Abgänge des Ramus cardiacus superior et inferior n. vagi erfolgt. Der Elektrodenverlauf
wird unter Schlingenbildung fadenfixiert gesichert ([Abb. 8] und [9]). Die Nutzung eines bipolaren Nervenreizgerätes oder eines intraoperativen Neuromonitorings
ist zu empfehlen, zum OP-Ende kann so bei abschließender vagaler Nervstimulation proximal
des Elektrodenanschlusses die regelrechte recurrente Antwort am Kehlkopf (via N. laryngeus
inferior) abgeleitet werden.
Abb. 8 Anordnung der Elektroden um den Vagusnerv. (mit freundlicher Genehmigung: Fa. LivaNova
PLC, 2021).
Abb. 9 N. vagus mit Stimulationselektrode (Abb.: .privat. H. Möbius, 2021).
Anschließend wird der Impulsgenerator unterhalb der linken Clavicula auf der Fascie
des Musculus pectoralis major implantiert und fadenfixiert. Die Elektrode und der
Impulsgenerator werden über einen subkutanen Tunnel miteinander verbunden ([Abb. 10] und [11]).
Abb. 10 Schematische Illustration des VNS Therapy Systems in situ (mit freundlicher Genehmigung:
Fa. LivaNova PLC, München, 2021).
Abb. 11 Implantate in situ (Abb.: privat. H. Möbius, 2021).
Noch während der Operation wird der VNS Therapy Generator mittels des beschriebenen
Programmiersystems getestet (Impedanz-Test). Nach 14 Tagen wird die VNS Therapy mit
einer Stimulationsintensität von 0,25 Milliampere (mA) begonnen (s. Kapitel 5.1.4.).
Ab diesem Zeitpunkt wird der Vagusnerv in regelmäßigen Abständen (z. B. alle 5 Minuten
für 30 Sekunden) elektrisch stimuliert und aktiviert. Die verwendeten Stromstärken
sind sehr niedrig (0,25 bis max. 3,5 mA) und werden patientenspezifisch eingestellt
(Aufdosierung).
Optional erfolgt am 1. oder 2. postoperativen Tag eine röntgengestützte Lagekontrolle
der Implantate ([Abb. 12]).
Abb. 12 postoperatives Röntgen (Abb.: privat. H. Möbius, 2021).
Ist die Generatorbatterie in Abhängigkeit von den verwendeten Stimulationsparametern
nach circa 6 bis 10 Jahren erschöpft, erfolgt der Wechsel (nur) des VNS Generators
in einem erneuten etwa einstündigen operativen Eingriff.
5.1.2. Kontraindikationen
Zu berücksichtigende Kontraindikationen einer VNS-Implantation sind der Zustand nach
linksseitiger Vagotomie, die Therapie mit therapeutischem Ultraschall sowie spezielle
Elektrotherapien, bei denen der Körper einem Strom- bzw. Energiefluss ausgesetzt wird
(z. B. hydroelektrisches Vollbad, TENS, therapeutischer Ultraschall etc.). HINWEIS:
Die Nutzung diagnostischen Ultraschalls ist uneingeschränkt möglich!
(Hinweise zur MRT-Tauglichkeit s. Kapitel 9.1.)
Hinsichtlich des Patientenalters zum Zeitpunkt der Implantation gibt es entsprechend
der Herstellerempfehlungen in Deutschland und Europa keine Einschränkungen.
Alleinig vorbekannte Allergien auf die Implantatmaterialien (z. B. Titan, Polyurethane,
Silikon) und vorbestehende schwergradige kardiopulmonale bzw. anästhesiologische allgemeine
Kontraindikationen sprechen gegen die Implantation bzw. müssen im interdisziplinären
Experten-Team evaluiert werden. Das VNS Therapy System beinhaltet keinerlei Naturlatex.
Bei vorbestehender Besiedlung mit einem multiresistenten Erreger (MRE) wie z. B. MRSA
muss eine Sanierung entsprechend aktueller hygienischer Konzepte erfolgen, um das
Risiko einer postoperativen Wundinfektion mit konsekutiver Transplantatbesiedlung
zu minimieren.
Ein Zustand nach Strahlentherapie im geplanten OP-Gebiet stellt ebenfalls keine Kontraindikation
dar. Des Weiteren bestehen bei Patienten mit bereits implantierten VNS System keine
Therapieeinschränkungen für eine erforderliche Strahlentherapie im Implantationsbereich.
Seitens des Herstellers wird jedoch darauf hingewiesen, dass kumulierte Röntgenstrahlung
generell Mikroelektronik schädigen kann.
Im Rahmen späterer Operationen ist die Verwendung monopolarer Koagulation über dem
Implantationsgebiet zu vermeiden. Es wird auf die Verwendung eines bipolaren Elektrokauters
hingewiesen. Ist in diesem Kontext jedoch die Verwendung monopolarer Koagulation zwingend
notwendig, muss darauf geachtet werden, dass der Stromvektor (Plus nach Minus) nicht
durch den VNS Therapy Generator führt, was dessen Elektronik beschädigen könnte und
zwangsläufig eine Revision zur Folge hätte.
5.1.3. Mögliche Nebenwirkungen und Risiken
Zu differenzieren ist zwischen operationsbezogenen und stimulationsbezogenen Risiken und Nebenwirkungen.
Die Implantation ist mit vertretbar geringen Risiken und Nebenwirkungen verbunden
speziell im Vergleich zu anderen epilepsiechirurgischen Interventionen. Die operativen
Nebenwirkungen wie Blutung, Nachblutung, Wundinfektion (3–6% der Patienten) [91] und intraoperatives Trauma an den Strukturen im OP-Feld sind unter Beachtung der
üblichen OP-Standards im Allgemeinen nahezu vermeidbar, ebenso wie intraoperativ cerebrovasculäre
Komplikationen bei arteriosklerotischer Grunderkrankung der Carotiden. Zu diskutieren
ist außerdem ein eventuell erhöhtes Narkoserisiko durch die vorbestehende Polypharmazie
(simultane Einnahme multipler Antiepileptika).
Selten erfordert eine protrahierte Wundinfektion die Explantation des VNS Systems
[92]. Einige Studien zeigten eine Rate von 4–6% postoperativen Infektionen und 1–5,6%
Stimmbandparesen der Patienten, die jedoch mit verbesserter OP-Technik abnahmen [93].
Eine seltene intraoperative Nebenwirkung ist im Rahmen des perioperativen Impedanztests
das Auftreten einer Bradykardie oder Asystolie [94]
[95]. Die Testung findet deshalb unter strengem Herzkreislaufmonitoring und in Interventionsbereitschaft
durch die Anästhesiologen statt. Als Grund für das intraoperative Auftreten eines
Asytolie wurde diskutiert: eine fehlerhafte Elektrodenplatzierung, eine indirekte
Stimulation der zervikalen kardialen Nerven, technisches Versagen des Stimulators,
eine Polaritätsumkehrung durch den Chirurgen oder spezifische Reaktionen des Patienten
[96].
Kasuistiken beschreiben das Auftreten kardialer Synkopen auch nach längerer Therapiezeit
unter Stimulation mit Sistieren nach Abschalten der Vagusnervstimulation [97]. Eventuell könnte auch eine unerkannte Dunkelziffer kardialer Synkopen bei Epilepsiepatienten
bestehen, da Bewusstseinsverluste dieser Patienten zunächst häufig auf epileptische
Anfälle zurückgeführt werden [32].
Selten tritt eine Therapieunterbrechung wegen eines Elektrodendefektes (Kabelbruch)
auf verursacht durch zu starke körperliche Bewegung oder lokale Traumata [98]
[99]. Die beste Prophylaxe für eine Migration des Generators im Transplantatlager (sog.
„Twiddler“) mit nachfolgender Änderung der Elektrodenlage ist die initial konsequente
Fixation des IPG mit nichtresorbierbarem Nahtmaterial auf der Pectoralisfaszie während
der Implantation. Auch das Risiko eines Kabelbruchs oder Dislokation der Elektroden
im Halsbereich kann durch konsequentes Verlegen und Fixierung der Entlastungsschlaufe
mittels nicht-resorbierbarem Nahtmaterial minimiert werden.
Die häufigsten stimulationsbezogenen Nebenwirkungen sind Heiserkeit, Husten oder empfundene Atemnot während der kurzen
elektrischen Stimulationsphasen. Seltener sind Atemstörungen, Schluckstörungen oder
Hals- und Kopfschmerzen. Diese Nebenwirkungen klingen bei fast allen Patienten mit
der Zeit ab. Bereits in 1999 publizierte Daten zu Nebenwirkungen der Vagusnervstimulation
aus 5 klinischen Studien stellten nach einem Jahr Therapie Heiserkeit (28%), Parästhesien
im Hals-Kinn-Bereich (12%) und Husten (7,8%) die häufigsten therapieassoziierten Beschwerden
dar. Nach 3 Jahren Stimulationsdauer wurden Heiserkeit nur noch mit der Häufigkeit
von 2%, Husten (1,6%) und Kurzatmigkeit (3,2%) nur noch selten angegeben, wobei 72,1%
der Patienten die VNS auch nach 3 Jahren fortsetzten. Diese Nebenwirkungen bestätigt
2001 eine weitere Studie von Ben-Menachem [96]: geringe Stimmveränderungen 3 Monate nach Implantation bei 62% der Patienten und
postoperativ 5 Jahre bei 18,7% der Patienten [100].
Auch die Ergebnisse jüngerer Studien bestätigen, dass die VNS Therapy gut vertragen
wird mit nur milden temporären Nebenwirkungen wie Heiserkeit oder Husten [101]
[100]
[101]
[104].
Diese Nebenwirkungen sind auf die Stimulation selbst zurückzuführen und mit der Therapiedauer
rückläufig [105] und sollten allesamt tolerabel sein. Mit rund einer zu erwartenden milden Nebenwirkung
pro Person und einer Nutzen-Risiko-Abwägung dürfte diese einem Therapieversuch bei
bisher unkontrollierbarer epileptischer Anfallssituation oder einer konservativ therapieresistenten
Depression in keinem Fall im Wege stehen [5].
Bekannt ist das Auftreten beziehungsweise die Verschlechterung eines obstruktiven
Schlaf-Apnoe-Syndroms (OSAS) unter iVNS bei Erwachsenen und Kindern [106]
[107]. Neben der erhöhten OSAS-Tagessymptomatik ist durch die gestörte Schlafarchitektur
eine Verschlechterung der Anfallssituation denkbar [108]. Ein unter VNS Therapy bestehendes oder neu auftretendes OSAS sollte in enger interdisziplinärer
Kooperation mit schlafmedizinischer Kontrolle erfolgen, durch Änderungen der VNS-Stimulationsparameter
Frequenz und Stimulationsintervall lassen sich diese Beschwerden bessern [109]
[108]
[111]. Diese klinische Notwendigkeit führte dazu, dass die neuste Generation der VNS Therapy
- Generatoren (Modell Sentiva) über einen sogenannten „Tag/Nacht-Modus“ verfügt, welcher
es erlaubt, unterschiedliche Stimulationsparameter während 2 definierten Zeitfenstern
(z. B. Tag/Nacht) zu programmieren. Es wäre auch möglich, den Vagusnervstimulator
durch das nächtliche Ankleben des Magneten über dem Aggregat während des Schlafs auszuschalten.
Diesbezüglich belegbare Daten auf die VNS-Wirksamkeit oder den Epilepsieverlauf existieren
allerdings derzeit nicht [32].
Stimulationsbezogene Nebenwirkungen der VNS sind durch Veränderung der Stimulationsparameter
gut beeinflussbar. Insgesamt ist die invasive Vagusnervstimulation als sichere und
gut verträgliche Therapieoption anzusehen [112].
5.1.4. Stimulationsparameter
Bei der VNS Therapy wird der Vagusnerv elektrisch gereizt. Die nachfolgenden Stimulationsparameter
sind von Bedeutung ([Abb. 13]):
Abb. 13 Schematische Darstellung der VNS Therapy Stimulationsparameter (mit freundlicher
Genehmigung: Fa. LivaNova PLC, 2021).
(a) Stromintensität. Sie wird in Milliampere (mA) angegeben bzw. programmiert und definiert die Stärke
eines einzelnen applizierten elektrischen Impulses. Die VNS Therapy funktioniert nach
dem „Constant-Current-Prinzip“: unter Berücksichtigung des vorherrschenden Widerstandes
(R) variiert der Generator nur die elektrische Spannung (V) und kontrolliert und gewährleistet
so eine sichere und präzise Stimulation des Nervus vagus. Der therapeutische Bereich
liegt im Bereich von 1,5–2,25 mA [113].
(b) Pulsweite. Sie definiert die Dauer eines einzelnen Stimulationsimpulses und wird in Mikrosekunden
(µsek) programmiert. Mögliche programmierbare Pulsweiten bei der VNS Therapy sind
130, 250, 500, 750 oder 1000 µsek. Multipliziert man die Pulsweite (sek) mit der Stromstärke
(A) ergibt sich die elektrische Ladung (Coulomb; Q=A*s).
(c) Frequenz. Während eines Stimulationszyklus (z. B. 30 Sekunden) definiert die Anzahl der Stimulationsimpulse
pro Sekunde die Stimulationsfrequenz in Hertz (Hz). Üblicherweise verwendet der Anwender
Frequenzen von 20, 25 oder 30 Hertz.
(d) Arbeitszyklus (AN/AUS-Zeit). Dieser Parameter spiegelt das Verhältnis von Stimulation (AN-Zeit) und Pausenzeit
(AUS-Zeit) während der Therapie wider. In der praktischen Anwendung folgt jeder AN-Zeit
immer eine definierte AUS-Zeit. Das Verhältnis beider Größen kann in Prozent angegeben
werden und wird vom Anwender individuell programmiert. Wird beispielweise eine AN-Zeit
von 30 Sekunden, gefolgt von einer AUS-Zeit von 5 Minuten (300 Sekunden) programmiert,
entspricht dies einem Arbeitszyklus von etwa 10%. Dem gegenüber stehen „schnelle“
Stimulations-Pausenwechsel, z. B. 7 Sekunden AN-Zeit und 18 Sekunden AUS-Zeit. Dies
ergibt rechnerisch einen Arbeitszyklus von 44% (in der Literatur [5] häufig als „rapid cycle“ bezeichnet).
(e) Dauer der Stimulation ist definiert als die kumulative Zeit der VNS Therapy [114]. Erhält ein Patient bspw. seine Therapie regelgerecht seit einem Jahr, spricht man
von einer Therapiedauer von 12 Monaten. Diese Angabe muss allerdings kritisch betrachtet
werden, da sie nicht die tatsächlich applizierte elektrische Ladung (Q) widerspiegelt,
die Therapie könnte während der 12 Monate gestoppt oder die Stromstärke variiert worden
sein.
Die Wirksamkeit der VNS Therapy hängt entscheidend von einer ausreichenden Aktivierung
des Vagusnervs ab. Das Maß der Vagus-Aktivierung ist abhängig vom Zusammenspiel der
Stimulationsparameter Stromstärke, Frequenz und Pulsweite und folgt einer konventionellen
Dosis-Wirkungs-Beziehung. Daher kann die Verwendung von kürzeren Pulsbreiten eine
Erhöhung des Stimulationsstromes erfordern, um die gleiche klinische Response zu erhalten
[115]
[116]. Andere Studien zur Dosis-Wirksamkeits-Beziehung mit Tiermodellen präsentieren ähnliche
Ergebnisse bei Hunden [117], aber nicht bei Nagetieren [118]. Helmers und Mitarbeiter [115] führen die variablen Befunde auf Unterschiede in der Anatomie des Vagusnervs oder
Unterschiede bei den Messtechniken zurück.
Ein wichtiger Aspekt bei der Wahl der Stimulationsparameter, insbesondere der Stromstärke
und der Impulsbreite, ist auch das Alter des Patienten. Alle 3 Parameter zeigen eine
gegenseitige Abhängigkeit. Leitungsgeschwindigkeit und Erregungsschwelle des Vagusnervs
zeigen zum einen eine Altersabhängigkeit, zum anderen korreliert die Erregungsschwelle
mit der verwendeten Pulsweite. Koo et al. konnten zeigen, dass die Leitungsgeschwindigkeit
bei Kindern unter 12 Jahren signifikant langsamer ist im Vergleich zu älteren Patienten,
was die Autoren auf eine langsamere Ausreifung des Vagusnervs zurückführen. Die Erregungsschwelle
folgt nicht nur einer Altersabhängigkeit (sinkt mit zunehmendem Alter), sondern korreliert
auch mit abnehmender Pulsweite (geringere Pulsweiten brauchen höhere Stimulationsströme)
[119].
Evans et al. 2004 [120] konnten intraoperativ am Patienten nachweisen, dass die Stimulation des Vagusnervs
ein Summenaktionspotenzial hervorruft, wobei die Aktivierung der A-Fasern dominierte.
C-Fasern benötigen einen 10 bis 100-fach höheren Erregungsstrom [121]
[120]
[123]. Sobald der Reizstrom hoch genug war, um alle eingebetteten Nervenfasern zu aktivieren,
erreichte das aufgezeichnete Signal sein Maximum. Eine weitere Erhöhung des Reizstroms
(supramaximale Reizung) erhöhte das aufgezeichnete Summenaktionspotenzial nicht. In
der Studie von Evans war diese Sättigung bereits bei einem Ausgangsstrom von 1 mA
und einer Pulsweite von 130 µSek erreicht. Es kann davon ausgegangen werden, dass
postoperativ ein Vernarbungsprozess (Fibrose) stattfindet, welcher den elektrischen
Übergangswiderstand am Nerven erhöht und folglich mehr Strom benötigt wird, um eine
maximale Aktivierung des Vagusnervs zu erreichen [124].
Postoperativ wird der IPG von aussen mit einem Computer und einer kabellos verbundenen
und vor die Brust gehaltene Programmiereinheit vom Arzt eingestellt. Mit Therapiebeginn,
2 Wochen postoperativ, wird mit einer Stimulationsintensität von 0,25 mA begonnen
und nachfolgend in 0,25 mA-Schritten patientenspezifisch bis zu einer Zieldosis von
1,25–2,5 mA hochtitriert (Aufdosierung, Phase 1 s. [Abb. 14]). Häufig verwendete Stimulationsparameter sind: Frequenz: 20–30 Hz, Pulsweite: 250–500 µs,
Arbeitszyklus: 10–50%.
Abb. 14 Schematische Darstellung der Aufdosierung bei der VNS Therapy. Zeichnung: H. Möbius
nach LivaNova Dosierungs- Richtlinien, 2021.
Die VNS Therapy ermöglicht eine Vielzahl von Arbeitszyklen. So besteht z. B. auch
die Möglichkeit einen schnellen Arbeitszyklus („Rapid Cycling“) zu programmieren.
Dieser hat eine AN-Zeit von 7 Sekunden und eine AUS-Zeit von 18 Sekunden [125]. Die verschiedenen Arbeitszyklen (Standard versus „Rapid Cycling“) zeigten in diversen Studien eine Überlegenheit des „Rapid Cycling“
[126]
[125]
[128].
In einer tierexperimentellen Studie zeigte das „Rapid Cycling“ auch einen stärkeren
Einfluss auf die Elektrophysiologie des Hippocampus [129].
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen bereits 2004 Suresh und Mitarbeiter bei Patienten
mit pharmakoresistenter Epilepsie. In ihrer Studie konnten sie zeigen, dass bei der
Vagusnervstimulation sowohl der Standard Arbeitszyklus (10%) als auch der „rapid cycle“
(44%) die Anfallshäufigkeit verringern. Allerdings war ein Arbeitzyklus von 44% signifikant
wirksamer bei Kindern, jedoch nicht in der Erwachsenengruppe. Pädiatrische Patienten
mit dem Lennox-Gastaut-Syndrom zeigten dabei die größte Response [130]. In einer anderen Studie zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied
im Einfluss der Arbeitszyklen auf die Anfallsfrequenz [131].
Mu et al. untersuchten mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) den
Effekt von unterschiedlichen Pulsweiten (130, 250 und 500 µSek) auf spezifische Hirnregionen
bei Patienten mit Major Depression. Sie konnten nachweisen, dass unterschiedliche
Pulsweiten unterschiedliche akute Effekte bei der Aktivierung, aber auch Deaktivierung
spezifischer Hirnregionen hervorrufen [132].
Bei der Vagusnervstimulation ist das Ziel der Titration die Optimierung des Ausgangsstroms
auf ein therapeutisches Niveau, welches von dem Patienten gut toleriert wird. Eine
supratherapeutische Dosierung sollte vermieden werden, da sie eine vorzeitige Batterieentladung
induziert und eine vorzeitige chirurgische Intervention mit einem Schrittmacherwechsel
resultiert.
Zur Optimierung einer personalisierten Therapie verfügt die aktuelle IPG-Generation
Modell 1000 (SenTiva) über zusätzliche zeitbasierte Funktionen, wie die Tag-Nacht-Programmierung
(zur Programmierung von 2 verschiedenen Stimulationsparametern in einem 24-Stunden-Zeitfenster)
sowie die Möglichkeit der geplanten Programmierung, bei welcher im Rahmen von Therapieeinstellungen
in gewählten Abständen Dosisanpassungen vorprogrammiert sind. Durch diese automatisierte
Aufdosierung können engmaschige Folgetermine reduziert werden. Die Tag-Nacht-Programmierung
stellt sich jedoch nicht automatisch auf Sommer- oder Winterzeit oder andere Zeitzonen
um. Bei Verwendung dieser Funktion müssen etwaige Zeitumstellungen vom Arzt neu in
den Generator einprogrammiert werden [34].
Jeder Patient bzw. Angehörige hat die Möglichkeit, durch einen speziellen VNS Therapy
Magneten eine zusätzliche Stimulation auszulösen, um einen Anfall zu unterbrechen
oder abzuschwächen [133] . Die ausgelöste Stimulation wird in der Regel um 0,25 mA stärker und mit 60 s länger
eingestellt als die Intervallstimulation.
Studien analysierten den Magneteinsatz der Patienten, 50% der Patienten gaben an,
von der zusätzlichen Stimulation im Anfall zu profitieren [134].
Generell besteht für Patienten mit implantiertem VNS Therapy System (unabhängig vom
Modell) immer die Möglichkeit, im Falle von unerwünschten Nebenwirkungen durch dauerhaftes
Fixieren (Sport-Tape) des VNS Therapy Magneten über dem Generator die Stimulation
zu stoppen und dann zeitnah die behandelnden Ärzte zu konsultieren.
5.1.4.1. Biomarker: Die iktale Tachykardie
Die im Zusammenhang mit epileptischen Anfällen entstehenden gestörten elektrischen
Erregungsmuster im Gehirn führen zu hypersynchronen Erregungen im autonomen Nervensystem
(Amygdala und Hypothalamus) und konsekutiv zu einem Herzfrequenzanstieg, der iktalen
Tachykardie [135]. Diese gilt heute als potenzieller Biomarker und extrazerebraler Indikator für das
Auftreten eines Anfalls bei Patienten mit Epilepsie.
Die Prävalenz einer iktalen Tachykardie bei Patienten mit Epilepsie liegt bei 82%
[136]; sie tritt bei Temporallappenepilepsien meist früh und vor messbaren epileptischen
Potenzialen im EEG auf [137]
[138].
Die iktale Tachykardie wurde in der aktuellen Generation der VNS Therapy-Generatoren
zu einem Parameter, um Krampfanfälle zu detektieren. Das Funktionieren konnte in Studien
bestätigt werden [139]
[140].
Die VNS Modelle Sentiva und AspireSR verfügen über die sogenannte responsive Herzraten-basierte-Anfalls-Erkennung
(CBSD; Cardiac-Based-Seizure-Detection). Der Algorithmus hinter der CBSD misst kontinuierlich
die Herzschläge eines Patienten. Über einen rollierenden Zeitraum von 5 Minuten wird
die mittlere Herzrate errechnet und als Baseline definiert. Kommt es jetzt mit Beginn
eines epileptischen Anfalls zu einem spezifischen Anstieg der Herzrate (der Algorithmus
kann die Anstiegsdynamik interpretieren), erkennt dies der Generator und startet die
zuvor vom Arzt definierten und programmierten Stimulationsparameter (AutoStim/Autostimulation).
Ein entscheidender Parameter ist dabei die eingestellte Höhe des Schwellenwertes für
das Auslösen der AutoStim. Erst nach Überschreiten dieses Wertes setzt die Stimulation
ein. Dieser Wert kann zwischen 20 und 70 Prozent relativem Herzfrequenzanstieg programmiert
werden.
Bei einem programmierten Schwellenwert von 20% muss die Herzrate nur 20 Prozent ansteigen,
damit die automatische Stimulation getriggert wird. Diese Einstellung ist sehr empfindlich
und der Anfallsdetektionsalgorithmus kann die meisten Anfälle (Sensitivität 98%) erfassen.
Der klinisch wichtige Effekt dabei ist, dass die Vagusnervstimulation (AutoStim) sehr
zeitnah zu dem Entstehen des epileptischen Anfalls beginnt. In den klinischen Zulassungsstudien
lag die Latenz bis zum Beginn der AutoStim (mit 20% Schwelle) bei nur etwa 5 Sekunden.
Das heißt, nach dem zerebralen Anfallsbeginn dauert es stellenweise weniger als 5
Sekunden, bis die VNS Therapy einsetzt [141].
Der programmierte Schwellenwert ist nicht starr und unveränderlich, sondern passt
sich der jeweiligen Situation an (sog. Flowting Threshold). Errechnet der Algorithmus
in Berücksichtigung der Anstiegssteilheit der Tachykardie über die letzten 5 Minuten
eine höhere dauerhafte Baseline-Herzrate (z. B. beim Sport), so passt er den programmierten
Schwellenwert dieser neuen aktiven Situation (höhere Baseline) an und erhöht ihn entsprechend.
Es kommt also nicht zu einer Dauerstimulation bei körperlichen Aktivitäten. Außerdem
ist die Gesamtstimulationsdauer durch eine Funktionalität des Generators, einer technischen
Refraktärzeit als Sicherheitsfenster, begrenzt.
Die klinischen Zulassungsstudien (E36 & E37) zeigten signifikant, je kürzer die Latenz
der Stimulation, also je früher das Einsetzen der Stimulation in Bezug auf die iktale
Tachykardie, desto kürzer war die Anfallsdauer bei den Patienten [140]. Andere Studien bestätigen, dass durch die responsive VNS Therapy die Anfallsdauer
signifikant reduziert werden konnte [142]. Die Anfallsdauer ist verkürzt, weil die Ausbreitung der pathologischen Potenziale
während eines epileptischen Anfalls über das gesamte Gehirn unterdrückt wird [143]. Das induziert weniger generalisierte tonisch-klonische Anfälle. Mit reduzierter
Generalisierung normalisiert sich auch die autonome Dysfunktion und verkürzt die Dauer
der iktalen Tachykardie. Neben den anfallsbedingten Risiken kann man diese Normalisierung
auch als ein reduziertes kardiales Risiko diskutieren. Mit Verkürzung der iktalen
Tachykardie reduziert sich ebenfalls die Gefahr des SUDEP (sudden unexpected death
in epilepsy patients). Der SUDEP ist eine sehr seltene, aber tödlich verlaufende Komplikation
von Epilepsien, die in den meisten Fällen wahrscheinlich durch eine Hemmung der Herz-Lungenfunktion
im Anschluss an einen generalisierten tonisch-klonischen Anfall verursacht wird [144]
[145].
Mit der Entwicklung des CBSD Algorithmus wird die herkömmliche Vagusnervstimulation
zu einem responsiven System aufgewertet, welches in der Lage ist, in sehr kurzer Zeit
auf beginnende epileptische Anfälle zu reagieren.
Die Zunahme der Gesamtstimulationsdauer ist durch die Eigenschaften des IPG limitiert.
Nach einer bspw. auf 60 Sekunden programmierten Stimulation folgt eine automatische
ebenso lange Refraktärphase. Des Weiteren wird nach der Autostimulation die normale
OFF-Periode (bei Standardeinstellungen 5 min) zurückgesetzt, sodass erst wieder nach
dieser Zeit die nächste reguläre Intervallstimulation erfolgt [32].
5.2. Nicht-invasive transkutane Vagusnervstimulation (tVNS)
Die nicht-invasiven transkutanen Stimulationen unterscheiden sich in aurikuläre (taVNS)
und cervicale (tcVNS) Verfahren. Die Grundidee der tVNS war, über einen atraumatischen
Applikationsweg die Vagusnervstimulation durchzuführen ohne die theoretisch möglichen
operativen Risiken der iVNS (siehe Kapitel 5.1.3.). Darüber hinaus sollte sie kostengünstiger
und einfach in der Handhabung sein. Auch eine hohe Therapieadhärenz sollte gegeben
sein. Beide Methoden sind explizit patientenkontrollierte Stimulationen, jedoch ohne
closed-looped-Funktion.
5.2.1. Transkutane aurikuläre Vagusnervstimulation (taVNS)
Die Stimulation des sensiblen Nebenastes R. auricularis n. vagi war die erste Art
der tVNS und wird oft als Synonym der transkutanen Vagusnervstimulation (tVNS) betrachtet.
Bis heute existieren eine Vielzahl an Publikationen und Pilotstudien zur transkutanen
Vagusnervstimulation zu unterschiedlichsten Indikationen. Ein Verfahren zur elektrischen
Stimulation in Form der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) im Bereich
des Ramus auricularis Nervi vagi (auricular branch of the vagus nerve, ABVN) wurde
erstmals im Jahr 2000 beschrieben [146].
Die initialen Arbeiten in der Zulassungsstudie (CE-Zertifizierung in 2010 zur Therapie
der Epilepsie und Depression) beruhen auf dem Nemos System (Fa. Cerbomed, Erlangen,
Deutschland) [147]. Die elektrische Stimulation erfolgt im Bereich der Cymba conchae, einem Areal der
„Ramsay Hunt zone“, über speziell geformte Oberflächenelektroden. Ausführliche Untersuchungen
dokumentieren die Aufzweigungen des Nerven im Bereich der Ohrmuschel [75]
[148].
Die Dichte der afferenten sensiblen Fasern des R. auricularis nervi vagi der Concha
auricularis zeigen [Abb. 15] und [Tab. 2].
Abb. 15 Relief der Ohrmuschel. Rotes Oval: Cymba conchae=Stimulationsort der taVNS. (Abb.:
privat, H. Möbius, 2021).
Tab. 2 Innervation der Ohrmuschel durch den Ramus auricularis Nervi vagi. Nach Peuker und
Filler, 2002 [149].
|
Ohrmuschelregion
|
Innervation durch den Ramus auricularis nervi vagi in %
|
|
Helix – Crus
|
20
|
|
Anthelix
|
73
|
|
Tragus
|
45
|
|
Cymba conchae
|
100
|
|
Cavum conchae
|
45
|
Dementsprechend wurde eine bipolare Stimulationselektrode zur nicht-invasiven Reizung
im Bereich des externen Ohres/der linken Ohrmuschel entwickelt. An einem externen
Stromgenerator handyähnlicher Größe wählen Patienten eine spürbare, aber nicht unangenehme
Stromstärke innerhalb definierter Grenzen aus. Es handelt sich um biphasische Impulse
(25 Volt, 10 Hz, 0,3ms Puls). Die Stimulusintensität ist meistens 0,8 mA [5]
[150]. Stimulationsparameter wie Impulsfrequenz oder Stimulationsintervalle werden je
nach Indikation festgelegt. Empfohlen ist eine 4-mal tägliche jeweils einstündige
Behandlung.
Die Wirksamkeit der taVNS zur Therapie untersuchte initial eine randomisierte, doppelblind
kontrollierte Studie: Die „high-level“-Gruppe (Stimulation Frequenz 25 Hz) zeigte
eine signifikante Reduktion der Anfallsfrequenz von 23,4% gegenüber der „low-level“-Gruppe
(1 Hz, Anfallszunahme um 2,9%); höhere Patientenzahlen waren nötig zur Prüfung der
Wirksamkeit mit höherer statistischer Power [151].
Eine andere Studie zeigt nach 6monatiger Therapie eine Anfallsreduktion bei 38% der
Probanden, bei 16% wurde Anfallsfreiheit erreicht. Die Erfolgsraten stiegen mit der
Therapiedauer [152].
Elektrophysiologische und bildgebende Studien an gesunden Probanden wiesen nach, dass
bei der taVNS vergleichbare neuronale Aktivitätsveränderungen wie bei der iVNS auftreten,
z. B. im EEG erkennbare Aktivitätsänderungen von Innervationsgebieten des Nervus
vagus [153] oder im Thalamus und im limbischen System [154]
[155].
Die Zulassung zur Schmerztherapie (Schmerz und Migräne) erfolgte im Jahr 2012 [156] und zur Therapie von Angststörungen im Jahr 2019 [157].
Schwere Nebenwirkungen wurden bisher nicht berichtet [158]
[156]
[160] , insbesondere keine kardialen Arrhythmien [161]. Das bekannte Nebenwirkungsspektrum umfasst im Einzelfall: Heiserkeit, Obstipation
[162], Nasopharyngitis, Schwindel, Vertigo, Übelkeit, Fatigue, Diarrhoe [163], Hautirritationen, Kopfschmerzen [164]
[165].
Basierend auf den Erkenntnissen der iVNS (hinsichtlich möglicher kardialer Nebenwirkungen)
wurde die taVNS für das linke Ohr entwickelt. Aktuelle Studien zeigten allerdings
am gesunden Probanden auch bei rechtsauriculärer Stimulation keine kardialen Nebenwirkungen
[166]. Eine Studie an Patienten mit chronischen Herzfehlern ergab ebenso keine nachteiligen
Effekte bei rechtsseitiger oder bilateraler Stimulation [167]
[168].
Aktuell ist das System in Deutschland nur kommerziell zu erwerben als niederfrequentes
Elektrostimulationsgerät zur Symptomlinderung von sympathovagalem Ungleichgewicht
und Migräne. Das Patent vermarktet ein Erlanger Medizinproduktunternehmen (tVNS technologies
GmbH). Die Behandlung ist nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
Deutschlands hinterlegt. Sie befindet sich in einem Stellungnahmeverfahren des Gemeinsamen
Bundesausschusses: Transkutane Vagusnervstimulation zur Behandlung von Patientinnen
und Patienten mit pharmakoresistenter Epilepsie, die für einen epilepsiechirurgischen
Eingriff ungeeignet sind oder diesen ablehnen (§ 137e SGB V). Das Verfahren wurde
2017 eröffnet [169].
Aktuell wird das System in Deutschland ausschließlich im Rahmen der Evidenzfindung
in Studien genutzt.
Kritisch zu hinterfragen ist die Tatsache, dass vom derzeitigen Anbieter die Therapie
entsprechend des Produktkatalogs und Internetpräsenz bei Angststörungen, Asthma, Vorhofflimmern,
Autismus, Kognitive Beeinträchtigung, Morbus Crohn, Depression, Epilepsie, Fibromyalgie,
Entzündung, Migräne, Parkinson, Prader-Willi-Syndrom, Schlafstörungen, Schlaganfall,
Tinnitus empfohlen wird, ohne aber auf ausreichende klinische Evidenzen zu verweisen.
Es ist zwingend erforderlich, systematische Studien durchzuführen, um den Wirkmechanismus
und die optimalen Stimulationsmodalitäten aufzudecken. Zukünftige systematische Studien
mit Standards von Elektroden und Stimulationsparametern und vergleichbaren Protokollen
sind erforderlich [170].
5.2.2. Transkutane cervicale Vagusnervstimulation (tcVNS)
Im Rahmen der transkutanen zervikalen Vagusnervstimulation tcVNS werden Stromstöße
über dem Bereich des zervikalen Nervenverlaufs entlang des M. sternocleidomastoideus
appliziert, angelehnt an den historisch bekannten Therapieansatz von Cornings (siehe
auch Kapitel 2). Das System gammaCore Sapphire™ (ElectroCore LLC, Morris Plains, NJ,
USA) erzeugt eine elektrische Niederspannungs-Stimulation mit fünf 5000-Hz-Pulsen
und einer Wiederholungsfrequenz von 25 Hz. Der maximal mögliche Ausgangsstrom ist
60 mA. Empfohlen sind akute (mit Schmerzbeginn) oder prophylaktische (mehrmals tägliche)
Anwendungen von Sekunden- bis Minutendauer (Instruction of Use, GammaCore Sapphire™,
ElectroCore LLC, Morris Plains, NJ, USA) [171].
Initial wurde das Verfahren zur Behandlung chronischer Kopfschmerzen untersucht. Als
Nebenwirkungen des Verfahrens entstehen während der Nutzung ein unangenehmes Zucken
und Schmerzen lokal im Halsbereich. Dieses Stimulationsverfahren besitzt keine CE-Zulassung
und ist nur kommerziell erwerbbar. Die tcVNS hat eine FDA-Zulassung für die Behandlung
von Migräne und Clusterkopfschmerz [172]
[173] und ist vom Hersteller empfohlen zur Behandlung von primären Kopfschmerzen (Clusterkopfschmerz,
Migräne und Hemicrania continua) und medikamenteninduzierten Kopfschmerzen bei Erwachsenen.
Vom Hersteller werden folgende Kontraindikationen der Anwendung der tcVNS genannt:
vorbestehendes aktives implantiertes Medizinprodukt, wie ein Herzschrittmacher, Hörimplantat
oder sonstiges implantiertes elektronisches Gerät, Karotis-Atherosklerose, Zustand
nach Zervikalvagotomie.
Als mögliche Risiken und Komplikationen werden aufgeführt: vorübergehende Kehlkopfreizung,
Dysphagie, Dyspnoe, Husten, Heiserkeit oder Stimmveränderung, Muskelzuckungen, Unwohlsein
oder Schmerzen während der Stimulation, Dysgeusie unter der Behandlung sowie Parästhesien
oder Dysästhesien, die über die Behandlungszeit hinaus andauern. Darüber hinaus werden
Hautirritation als allergische Reaktion auf das Elektrodengel, eine Steigerung der
Kopfschmerzsymptome, Synkopen, Benommenheit oder Schwindel im Produktkatalog genannt
(Instruction of Use, GammaCore Sapphire™, ElectroCore LLC, Morris Plains, NJ, USA).
Aktuell ist die transkutane elektrische Stimulation des Nervus vagus Gegenstand der
Forschung in den Bereichen der Psychologie, Immunologie, Kardiologie, sowie Schmerz-
oder Plastizitätsforschung mit erhofftem Potenzial zur zukünftigen medizinischen
Anwendung [174]
[175].
Es ist auch hier zwingend erforderlich, systematische Studien durchzuführen, um den
Wirkmechanismus und die optimalen Stimulationsmodalitäten aufzudecken. Auf Grund der
Vielzahl veröffentlichter Studien zum Thema der transkutanen cervicalen Vagusnervstimulation
mit zum Teil unübersichtlichen und nicht vergleichbaren Designs wurden Anfang 2021
die „Minimum Reporting Standards for Research on Transcutaneous Vagus Nerve Stimulation
(Version 2020)“ formuliert, um als Leitfaden einheitliche Standards in zukünftigen
Studien zu sichern [174].
5.2.3. Perkutane auriculäre VNS (paVNS)
Diese noch junge Form der VNS ist minimal-invasiv und Forschungsthema. Mit 2 bis 3
kleinen Nadelelektroden wird die Haut im Zielgebiet der Cymba conchae penetriert [176] . Mögliche Nebenwirkungen sind Hautirritationen (Dermatitis), örtliche Blutung,
Stimulationsschmerz, Schwindel. Ausreichende evidenzbasierte Daten liegen aktuell
nicht vor [175]. Aktuell kann noch keine Einschätzung zur Validität und zu therapeutischem Effekt
gegeben werden.
Bewertet man die bisher vorliegenden Ergebnisse (s. auch Kapitel 7) der invasiven
und transkutanen Vagusnervstimulation, so liegt bisher nur ausreichende Evidenz für
die iVNS vor. Die transkutanen Verfahren werden aktuell in Deutschland nur kommerziell
vertrieben (taVNS) oder besitzen keine CE-Zulassung (tcVNS, FDA-Zulassung).
6. Patientenselektion/Prädiktoren für das VNS-Ansprechen
6. Patientenselektion/Prädiktoren für das VNS-Ansprechen
Die invasive VNS Therapy ist eine Möglichkeit zur Behandlung von Patienten mit pharmakoresistenten
Epilepsien, also Patienten die auf Medikamente alleine nicht ausreichend ansprechen,
entsprechend der aktuellen Kriterien der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE)
und der der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF). Diese Kriterien sind gekennzeichnet durch 2 erfolglose Therapien mit Antiepileptika
mit adäquater Dosierung und Dauer in Mono- und/oder Kombinationstherapie oder fehlender
anderer Therapiemöglichkeiten bzw. bei Patienten, die für epilepsiechirurgische Verfahren
nicht in Frage kommen oder diese ablehnen.
Bei ca. einem Drittel der Epilepsiepatienten ist eine suffiziente Anfallskontrolle
durch Antikonvulsiva nicht zu erreichen [32].
In Europa und weiten Teilen der Welt kann die VNS Therapy altersunabhängig angewendet
werden.
Als Stimulationsverfahren wirkt die Vagusnervstimulation in dieser heterogenen Patientengruppe
meist palliativ, sie führt nicht zur Heilung der Epilepsie. Nur bei etwa 10% kann
eine komplette Anfallsfreiheit erreicht werden [177]
[178].
Im Rahmen einer Depressionstherapie kann die VNS Therapy entsprechend der aktuellen
AWMF-Leitlinien altersunabhängig bei Patienten mit chronischer oder rezidivierender
Depression, die medikamentös therapierefraktär sind oder an einer behandlungsresistenten
Major-Depression leiden, eingesetzt werden.
Valide Prädiktoren für ein Ansprechen auf die invasive VNS existieren bisher nicht,
dennoch werden in einigen Publikationen, allerdings mit meist kleinen Fallzahlen,
individuelle Prädiktoren diskutiert [179]
[177]
[178]
[179]
[183]. Mögliche günstige Faktoren sind die Abwesenheit bilateraler interiktaler Aktivität,
das Vorliegen einer Malformation der kortikalen Entwicklung, eine frühe Implantation
[184]
[185] sowie eine verminderte Synchronisation im Oberflächen-EEG [186]
[187].
Eine eindeutige Kontraindikation für die iVNS ist ein Zustand nach linksseitiger Vagotomie.
Eine multivariante Analyse zeigte, dass ein höheres Alter bei Epilepsiebeginn (> 12
Jahre) und vorrangig generalisierte Anfallstypen Prädiktoren für das Erreichen einer
Anfallsfreiheit waren [197].
7. Therapieergebnisse und Lebensqualität
7. Therapieergebnisse und Lebensqualität
Hauptziel der initialen Studien war der Nachweis, dass die unter konservativer Therapie
refraktären Epilepsien auf diese neue Therapieform der Stimulationsverfahren ansprechen.
Hauptaugenmerk galt der Responderrate von Patienten, die eine 50%ige Anfallsreduktion
und mehr erreichten. Die komplette Anfallsfreiheit trat auf bei etwa 10% der Patienten,
selbst bei Patienten mit schweren komplexen Epilepsieformen. Bereits die 50%ige Anfallsreduktion
erhöht die Lebensqualität der betroffenen Patienten deutlich. Durch die selbständige
Magnetnutzung werden die Betroffenen in der Ausübung ihrer Souveränität gestärkt
[5].
Die Stimulationstherapie mit der invasiven Vagusnervstimulation hat gegenüber den
Interventionen im Rahmen einer resektiven Epilepsiechirurgie den großen Vorteil der
Reversibilität [34]. Negative Auswirkungen auf die Kognition wie unter antiepileptischer Medikation
wurden bisher nicht berichtet [5].
7.1. Vagusnervstimulation bei konservativ therapierefraktärer Epilepsie
iVNS
Vagusnervstimulation wird eingesetzt, um die Häufigkeit epileptischer Anfälle zu reduzieren.
In Klasse-I-Studien fand sich eine mittlere Anfallsreduktion um 25–28%, verglichen
mit einer Placeborate von 6–15%. Offene Studien berichten über deutlich größere Effekte
[188]. Per Definition gilt als Responder auf die Vagusnerv-Stimulationstherapie ein Patient
mit einer mindestens 50%igen Reduktion der Anfallsfrequenz. In den Ergebnisbeurteilungen
wird auch regelmäßig über eine zusätzliche Reduktion der Anfallschwere berichtet,
was Nachfolgendes beinhaltet: Verkürzung der Anfallsdauer, Reduktion von postiktalen
Beschwerden, Verlängerung anfallsfreier Perioden bzw. durch die VNS-Therapie die fehlende
Ausbildung generalisierter Anfälle bei nur noch fokalem Anfallsmuster.
Die VNS study group publizierte im Jahr 1995 eine randomisierte kontrollierte Studie
zur invasiven Vagusnervstimulation bei 114 Patienten. Die unter therapeutischer Stimulation
befindliche Gruppe zeigte eine signifikante Reduktion (p=0,02) der Anfallsfrequenz
gegenüber ihrer anfänglichen Baseline und gegenüber der Gruppe mit dem nicht therapeutischen
Stimulationsansatz. 31% der Patienten mit der therapeutischen Stimulation hatten eine
über 50%ige Reduktion der Anfallsfrequenz [189] . Eine ebenfalls signifikante Reduktion der Anfallsfrequenz um 28% bei der therapeutisch
stimulierten Gruppe (p=0,04) zeigte Handforth et al. in 1998 bei 198 Patienten mit
komplex-fokalen Anfällen [190]. Der Grad der Besserung der Anfallskontrolle durch VNS wurde als vergleichbar mit
der Gabe eines zusätzlichen Medikaments eingeschätzt [191] .
Eine prospektive, randomisierte, kontrollierte Studie zur VNS Therapy bei Kindern
mit einem Design ähnlich der verblindeten Erwachsenen-Pilotstudien zeigte keine signifikanten
Unterschiede in Responderrate und Anfallsschwere zwischen der therapeutischen und
subtherapeutisch stimulierten Gruppe [192]. Nach einer anschließenden Nachbeobachtungsdauer von 19 Wochen zählten insgesamt
26% der Patienten zu den Respondern. Es traten jetzt auch Verbesserungen in Bezug
auf die Anfallsschwere auf (p<0,001). Auffällig ist der relevante Anteil der Patienten
der niedrig stimulierten Kontrollgruppe, der zu den Respondern zählte. Ein möglicher
Therapieeffekt auch der niedrigen Stimulationsdosis wird diskutiert [32].
Erste Langzeitdaten der VNS Therapy von 440 Patienten veröffentlichte Morris und Mitarbeiter
im Jahr 1999. Eine der wichtigsten Erkenntnisse damals war die Beobachtung eines Langzeiteffekts,
d. h. die Effektivität der Therapie nahm mit der Zeit zu. Nach einem Jahr VNS Therapy
erreichten 36,8% der Patienten eine Anfallsreduktion von 50%, nach 2 und 3 Jahren
waren es 43,2%, respektive 42,4% Reduktion der Anfallsfrequenz [32]
[193].
Zusätzlich zur Senkung der Anfallsfrequenz zeigten Tatum et al. die Wirkung der VNS
auf die Anfallsdauer und die postiktalen Beschwerden bei 71% der Patienten sowie eine
Reduktion der Anzahl verabreichter Antikonvulsiva [194]. Ebenfalls eine Reduktion von Anfallsschwere und postiktalen Beschwerden beschreiben
McHugh et al. [195].
In einer Beurteilung der Langzeitwirksamkeit der VNS Therapy zeigten Orosz und Kollegen
2014 in einer Nachbeobachtungszeit von 2 Jahren bei 347 Kindern bei 43,8% der Patienten
eine≥50%ige Reduktion der Anfallsfrequenz. Ebenso besserten sich Anfallsdauer, Anfallsschwere,
postiktale Beeinträchtigung, Lebensqualität und klinischer Gesamteindruck. Darüber
hinaus beschrieben Orosz und Kollegen eine signifikante Dosis-Wirkungsbeziehung bei
Respondern [196].
In 2015 veröffentlichten Englot et al. [197] Ergebnisse zur Wirksamkeit der VNS mit dem speziellen Fokus auf Anfallsfreiheitsraten
und deren Prädiktoren. Daten von 5 554 Patienten aus einem Register wurden analysiert
und ein Literaturreview von 78 Studien mit 2 869 Patienten durchgeführt. Responderraten
und Anteil der komplett anfallsfreien Patienten stiegen mit der zunehmenden Stimulationsdauer
an. Nach 24 bis 48 Monaten gehörten 63% zu den Respondern und 8,2% der Patienten galten
als anfallsfrei. Die multivariante Analyse zeigte, dass ein höheres Alter bei Epilepsiebeginn
(>12 Jahre) und vorrangig generalisierte Anfallstypen Prädiktoren für das Erreichen
einer Anfallsfreiheit waren. Auch im Rahmen der Literaturrecherche zählten 60,1% der
Patienten zu den Respondern, 8,0% waren anfallsfrei [32].
Vergleichbare Responderraten konnten Montavont et al. 2007 bei 50 Patienten [198] und Alexopoulus et al. 2006 bei 46 Kindern [199] bei einer Nachbeobachtungszeit von 3 bzw. 2 Jahren zeigen. Ardesch et al. [200] belegten in einer prospektiven Studie über eine Reduktion der durchschnittlichen
Anfallsfrequenzen von bis zu 50% nach 6 Jahren. 47% der Untersuchten berichteten über
eine Reduktion der Anfallsschwere und der postiktalen Periode.
In einer Auswertung von 51 Patienten durch Hamilton et al. (2018) konnte bei 70% der
Patienten ein positiver Benefit durch die herzraten-basierte Anfallserkennung und
die closed-loop-Autostimulation nachgewiesen werden [201]. Ergebnisse von Data et al. 2020 bestätigten eine Anfallsreduktion unter Autostimulation
bei 28% ihrer Untersuchten [202].
Eine aktuelle Metaanalyse von Dibue et al. 2020 zeigte auch bei dem schweren Epilepsie-Krankheitsbild
Lennox-Gastaut-Syndrom eine Responderrate von 54% unter der sicheren und gut tolerierten
iVNS-Therapie [203].
In den Kapiteln 5.1.4.1. und 7.3. finden sich ausführliche Darstellungen zur Problematik
der iktalen Tachykardie sowie dem T-Wellen-Alternans; eine unter iVNS-Therapie erreichbare
reduzierte kardiale Morbidität und Mortalität (SUDEP) [204] erhöht die Lebensqualität und Lebenserwartung. Der Nutzen des VNS Therapy überwiegt
somit gegenüber seinen beschriebenen kardialen Risiken [205]. Dagegen führt eine Persistenz epileptischer Anfälle zu einer erhöhten Morbidität
und Mortalität.
Der Status epilepticus ist ein lebensbedrohlicher Notfall, zwischen 24–38% der Fälle
verlaufen tödlich. Die Häufigkeit nimmt mit den altersassoziierten kardiorespiratorischen
Grunderkrankungen zu [206]
[207]. Unter iVNS-Therapie reduziert sich das Risiko für einen Status epilepticus um den
Faktor 3, des Weiteren besteht eine 2fache Reduktion für anfallsassoziierte Hospitalisationen
[208].
Auch im Falle eines refraktären oder superrefraktären Status epilepticus kann eine
akute VNS-Implantation in 74% der Fälle diesen lebensbedrohlichen Zustand durchbrechen
[209].
Neben der Beeinflussung der Anfallssituation zeigten sich als Nebeneffekt der Vagusnervstimulation
positive Auswirkungen auf die Lebensqualität, Wachheit und Kognition (s. auch Kapitel
7.3.). Ryvlin et al. [210] untersuchten in einem prospektiven, randomisierten Parallel-Gruppen- und Open-Label
Design die Effekte der VNS auf die Lebensqualität. Die Lebensqualität der zusätzlich
mittels VNS behandelten Gruppe besserte sich signifikant gegenüber einer Vergleichsgruppe,
in der nur die Pharmakotherapie optimiert wurde. Es zeigte sich die Überlegenheit
der VNS-Gruppe [32]
[211].
Die VNS zeigt zudem einen positiven Effekt auf Stimmung, Gedächtnis und Lebensqualität
[212] beurteilt mit visuellen Analogskalen (VAS), ohne dass die iVNS kognitive oder systemische
Nebenwirkungen wie Müdigkeit, psychomotorische Verlangsamung, Irritationen oder Nervosität
verursacht im Gegensatz zu den meisten Antikonvulsiva [213]. Hirnnervenkomplikationen [214] oder Teratogenität [215] sind ebenso wie Veränderungen des kardialen Rhythmus, der pulmonalen Funktion oder
gastrointestinalen Motilität sowie Sekretion nicht beschrieben [5]. Studien belegen eine verbesserte kognitive Funktion unter invasiver Vagusnervstimulation
[216] sowie eine Reduktion der Ängstlichkeit unter iVNS Therapie. Die Reduktion korrelierte
mit der Reduktion der Anfallsfrequenz und könnte als ein möglicher sekundärer psychologischer
Vorteil der Therapie angesehen werden [5]
[217].
Die Zufriedenheit der Patienten mit einem iVNS ist generell gegeben. Studien belegen,
dass jeweils 97, 85 und 72% der Nutzer die Therapie nach einem, 2 bzw. 3 Jahren bei
Zufriedenheit mit der iVNS-Therapie fortsetzten. Etwa 75% der Patienten entschieden
sich für einen Generatorwechsel nach Batterieerschöpfung [218]. Durch die selbst ausgelöste Stimulation mit Magnetnutzung im Anfall gewinnen die
Patienten das Gefühl einer besseren Kontrolle über ihre Anfälle, was dem beschriebenen
Phänomen der erlernten Hilfslosigkeit bei Epilepsiepatienten entgegenwirkt [219].
Ebenso bei betreuten Patienten mit erniedrigtem Intelligenzquotienten zeigte sich
eine verbesserte Lebensqualität bei verbesserter Aufmerksamkeit, Sprachfähigkeit,
Balance sowie besseres Verrichten alltäglicher Aufgaben [220].
Eine weitere Studie [5] zeigte signifikant bei 20% der befragten iVNS-Patienten unter Stimulation eine fröhlichere
Stimmung als prätherapeutisch; 5,71% waren gereizter. 8,57% der Patienten beklagten
postoperativ eine Verschlechterung des Schlafes; 2,86% schätzten Schlafverbesserungen
ein. 17,24% der iVNS-Patienten berichteten unter Stimulationstherapie von besserer
Konzentration. Zu berücksichtigen ist jedoch unbedingt die gegebenfalls zeitgleich
vorliegende Einnahme von Antidepressiva auf Grund einer komorbiden Depression. 60%
der iVNS-Nutzer würden sich erneut für einen iVNS entscheiden und nur 11,43% fühlten
sich im Alltag durch den Nervenstimulator eingeschränkt [221].
Carius et al. [222] berichteten bei 24,19% der Patienten über eine verbesserte psychische Stimmung.
Einige der Patienten, denen die iVNS keine Reduktion der Anfälle erbrachte, wünschten
aufgrund des subjektiv empfundenen positiven Effekts auf ihre Stimmung keine Explantation
des IPG [5]. Weitere Studien bestätigten die verbesserte Stimmungslage nach einer Therapiedauer
von zum Teil nur 3 Monaten [223]
[224] unabhängig von der verbesserten Anfallskontrolle/Responderrate oder von spezifischen
Einstellungsparametern.
Basierend auf den standardisierten Tests POMS und QOLIE-89 untersuchten Klinkenberg
et al. [225] prospektiv den Effekt der invasiven Vagusnervstimulation auf Stimmung sowie Lebensqualität
in Abhängigkeit von der Anfallskontrolle. Stimmung und Lebensqualität zeigten nach
sechsmonatiger Therapie signifikante Verbesserungen ebenso wie die Kognition. Auch
Scherrmann et al. bestätigten in ihrer Studie bei 56% der Patienten eine subjektiv
empfundene Verbesserung der Lebensqualität [226].
Dodrill et al. [227] zeigten in einer doppelblinden randomisierten Studie weniger emotionale und psychische
Probleme in der Gruppe mit hohen iVNS-Parametern im Vergleich zu niedriger Stimulation.
Es wird ersichtlich, dass der iVNS Stimmungslagen unabhängig von der Anfallskontrolle
positiv beeinflusst. Die Lebensqualität des iVNS beim Epilepsiepatienten kann nicht
alleine an der Wirkung auf die Anfallssituationen bemessen werden, auch andere Faktoren
müssen berücksichtigt werden, die zu einer Verbesserung der Gesamtsituation beitragen
könnten [5].
Bernstein et al. [228] sowie Alexopoulos et al. [229] beschrieben eine statistisch signifikante Reduktion in der Anzahl der Notaufnahmenbesuche,
Hospitalisationen und Länge der Krankenhausaufenthalte nach iVNS-Implantation. Die
durchschnittliche Zeit in der Klinik, die Patienten im Rahmen ihres epileptischen
Leidens aufbrachten, war signifikant reduziert (p<0,001). Die iVNS reduziert Hospitalisation.
Eine prospektive Studie von McLachlan et al. [230] analysierte unter Nutzung des QOLIE-89 und des ELDQL, 2 standardisierten Fragenbögen
zur Lebensqualität bei Epilepsiepatienten, das Outcome der iVNS-Therapie nach einem
Jahr bezüglich Anfallsfrequenz, antiepileptischer Medikation und der Lebensqualität.
Bei einer Responderrate von 19% ließ sich bei 43% die Anzahl der antikonvulsiven Medikamente
unter Stimulation reduzieren. Signifikante Verbesserungen der Lebensqualität (signifikante
Verbesserungen der Aufmerksamkeit/Konzentration, Gedächtnis sowie Sprache) sowie Verbesserung
der Anfallsschwere wurden errechnet ohne Korrelation mit der Anfallsfrequenz. 84%
der Untersuchten stellten eine subjektiv empfundene Verbesserung ihrer Gesamtsituation
unter iVNS-Therapie fest. Im Gegensatz dazu beschrieben Chavel et al. [231] unter Auswertung der QOLIE-89, BAI, BDI-Tests keinen statistisch signifikanten Unterschied
bezüglich der Lebensqualität und der komorbiden Depression bei einer Responderrate
von 54%. Letztere zeigten allerdings signifikant weniger Angstsymptome.
Bei Epilepsiepatienten mit der Komorbidität Depression ist die Suizidrate um 22% erhöht.
Auswertungen von 636 Patienten zeigten unter iVNS-Therapie eine statistisch signifikante
Reduktion der Mortalität, von Suiziden und Suizidversuchen [232].
Die iVNS-Therapie hat eine lebensqualitätsverbessernde sowie gesamtsituationsverbessernde
Wirkung auf Patienten mit konservativ therapieresistenter Epilepsie, wobei sie nicht
immer eine Optimierung der Anfallssituation bringt. Die Lebensqualität wird unter
iVNS auch durch andere Parameter positiv beeinflusst. Cordes et al. zeigten bei nur
30% Anfallsrespondern, dass sich 60% der Untersuchten erneut für die Therapie entscheiden
würden. Es scheint wichtig, Patienten, die bezüglich ihrer epileptischen Situation
nicht von dem iVNS profitieren, nach Änderungen ihrer Lebensqualität seit Therapiebeginn
zu fragen, bevor der IPG aufgrund mangelnden objektiven Effektes explantiert oder
deaktiviert wird [5].
tVNS
Die transkutane VNS ermöglicht als nicht-invasives Therapieverfahren unter Umständen
interessante Anwendungen, zum Beispiel als Alternative zur invasiven VNS oder als
möglicher noninvasiver Schritt zur Prädiktion eines Erfolges einer invasiven VNS.
So ließen sich z. B. präoperativ einer iVNS-Implantation Patienten detektieren, die
mit Wahrscheinlichkeit Responder auf die Stimulationstherapie darstellen. Zukünftige
Studien müssen eine eindeutige Wirksamkeit der transkutanen VNS nachweisen [32]
[233].
Initial erfolgte 2012 in einer proof-of-concept Studie der NEMOS (Fa. Cerbomed) transkutane
VNS (taVNS) der Nachweis einer Reduktion der Anfallsfrequenz allerdings ohne Erreichen
der angestrebten Schwelle von 50%iger Reduktion der Anfallsfrequenz [234].
In einer randomisierten, doppelblind kontrollierten Studie in 2016 wurde die Wirksamkeit
der taVNS während einer 20-wöchigen Beobachtungszeit untersucht. Die Anfallsfrequenz
nahm signifikant um 34% bei den Patienten in der 25 Hz-high-Level-Gruppe ab [235].
Eine retrospektive Auswertung von Cordes 2019 [5] erkannte ein Drittel der 12 taVNS-Patienten als Responder, 20% wurden anfallsfrei
in einem etwa 5jährigen Nachbeobachtungszeitraum. In der Studie von Stefan et al.
2012 zeigte sich in einer deutlich kürzeren 9-Monats-Nachbetrachtung eine Reduktion
der durchschnittlichen monatlichen Anfallsfrequenz, ohne dass die 50%-Reduktion erreicht
wurde [236] . Diskutiert wird dies als möglicher Hinweis, dass für die VNS-Therapie zur Steigerung
des Therapieeffekts eine Langzeitbehandlung zu planen ist [237].
Positive Effekte auf die Kognition konnten Jacobs et al. in einer einfach verblindeten
Studie an älteren gesunden Probanden nachweisen mit einer Verbesserung der assoziativen
Gedächtnisleistung nach bereits einer Stimulationssitzung [238].
Laut Morris et al. ist die nichtinvasive tVNS mit weniger Nebenwirkungen als die iVNS
auffällig, er diskutiert dadurch eine höhere Toleranz des weniger kostenintensiven
und einfach handhabbaren Gerätes [239]. Zu bedenken ist aber die reduzierte Therapieadhärenz einer erforderlichen Langzeitbehandlung.
Insgesamt wurde unter der taVNS-Therapie ein Trend zur Anfallsreduktion ersichtlich
mit gleichzeitig leichtem Trend zur Reduktion der durchschnittlichen monatlichen Medikamentenanzahl
pro Person unter Stimulationstherapie [5].
Während sich in einzelnen Studien die Mehrheit der kognitiven Funktionen und auch
die Messwerte des BDIs konstant über die Zeit unter tVNS-Therapie verhielten [240], zeigte sich in anderen eine signifikante Verbesserung von SAS, SDS und Liverpool
Seizure Severity Score (LSSS) [241] bzw. Verbesserungen des LSSS, des MADRS und des CGI-S [242]. In diesen Studien zeigen sich unter tVNS neben einer Verbesserung der Anfallssituation
auch positive Effekte auf die Anfallsschwere, Stimmungslage, Angststörungen. Es scheint
sinnvoll, das Outcome des tVNS neben seinem Effekt auf die Anfallsfrequenzen auch
auf die Reduktion der Angst, eine Verbesserung der Stimmung sowie Konzentrationsfähigkeit
und v. a. auch das subjektive Gefühl des Patienten einer verbesserten Gesamtsituation
die Lebensqualität zu beurteilen [5]. Der taVNS hat unabhängig von seiner Anfallskontrolle positive Effekte auf die Stimmung
und auf die Lebensqualität [5]
[240]
[241].
7.2. Vagusnervstimulation bei chronischer Depression
iVNS
Die Ergebnisse der im Kapitel 7.1. erwähnten Studien zur Lebensqualität zeigen folglich
eine Verbesserung der Stimmungslage sowie Lebensqualität unter invasiver Vagusnervstimulation
bei Epilepsie unabhängig von dem Einfluss auf die Anfallskontrolle [243] und belegen den antidepressiven Effekt des iVNS. Die Depression ist hinsichtlich
ihrer hohen Komorbidität von großer Bedeutung für Gemütszustandsstörungen bei Epilepsiepatienten.
Die Vagusnervstimulation wird zur Depressionsbehandlung genutzt und hat sich in Studien
als wirksam erwiesen [244]. Gemessen wird das z. B. mit verschiedenen Punkte-Skalen: 24-Punkte-Hamilton Depressions
Rating Skala (HDRS24), Montgomery- Åsberg Depression Rating Scale (MADRS), Geriatrische
Depressions-Skala (GDS).
Basierend auf der beobachteten antidepressiven Wirkung der VNS bei Epilepsiepatienten
wurden Studien zur Effektivität der VNS bei therapieresistenten Depressionen durchgeführt
[38]. In einer 10-wöchigen Scheinstimulation-kontrollierten Studie zeigte sich zunächst
kein statistischer Unterschied zwischen der Gruppe der Scheinstimulation und der therapeutischen
Stimulation in Bezug auf die 24-Punkte-Hamilton Depressions Rating Skala (HDRS24).
In der Open-Label Extensionsstudie über ein Jahr (n=205) wurden signifikante Besserungen
des HDRS 24-Punktwertes erkennbar [245]. 2005 erfolgte so die FDA-Zulassung des VNS zur Behandlung der therapierefraktären
Depression.
Aaronson et al. untersuchten im Rahmen einer prospektiven nicht randomisierten Studie
insgesamt 795 Patienten mit medikamentös therapierefraktärer Depression über einen
5-Jahres-Zeitraum. Bezugnehmend auf die Montgomery- Åsberg Depression Rating Scale
(MADRS) zeigte die VNS-Therapie eine Responserate von 67,7% und eine signifikant hohe
Remissionsrate.
Die iVNS hat Wirkung auf Affekt und Kognition [32]. Sackeim et al. [246] beobachteten kognitive Verbesserungen bei nichtepileptischen depressiven Patienten
unter iVNS-Therapie.
Eine verbesserte Tages-Wachsamkeit unter VNS wird durch eine verbesserte retikuläre
aktivierende Systemfunktion vermutet, obwohl dieser Mechanismus durch invasive Vagusnervstimulation
unklar ist [72].
Patienten mit Depression zeigen eine gestörte Balance des autonomen Nervensystems
mit erhöhtem Sympathikotonus, woraus physiologische Stressreaktionen mit Hypertonus,
Tachykardie etc. resultieren. Sie besitzen ein erhöhtes Risiko für Arrhythmien und
plötzlichen Herztod [247]
[248]. Depressionen, akuter Stress und Wut könnten Angina pectoris und Herzinfarkt auslösen
[249]. Entsprechend des KORA-Herzinfarkt-Registers ist die Depression nach Rauchen und
Diabetes neben der Hypertonie der drittgrößte Risikofaktor für einen Herzinfarkt [250]. Bei gleichzeitiger Depressivität haben Adipöse dafür ein dreifach erhöhtes Risiko.
Bei einer Response der VNS-Therapie reduziert sich die kardiale Morbidität und Mortalität.
Die bereits unter 7.1. beschriebene erhöhte Suizidrate bei Depressiven führt unter
VNS Therapy zu einer statistisch signifikanten Reduktion der Mortalität, zur Reduktion
von Suiziden und Suizidversuchen [251].
tVNS
Auch für die transkutane VNS werden antidepressive Effekte beschrieben. Hein et al.
[252] beschrieben erstmalig in einer randomisierten kontrollierten Pilotstudie antidepressive
Effekte der transkutanen aurikulären VNS. Kraus et al. [253] wiesen bei 22 gesunden Probanden mittels funktioneller MRT unter transkutaner VNS
eine Abnahme des BOLD-Singals (blood oxygenation level dependent-Signal-Aktivitäten)
im limbischen System und in temporalen Hirnregionen nach, erhöhte BOLD -Signale in
der Insel, dem präcentralen Gyrus beidseits sowie dem rechten Thalamus. Psychometrische
Tests zeigten eine signifikante Besserung des Wohlbefindens nach der Stimulation.
Weitere Studien [254]
[255] wiesen ebenfalls deutliche antidepressive Effekte der transaurikulären VNS nach,
einzelne Patienten erreichten eine Remission [32]. Positive Effekte auf die Kognition werden für die transkutane VNS mit Verbesserung
der assoziativen Gedächtnisleistung nach nur einer Stimulationssitzung beschrieben
[256].
7.3. Weitere Therapiewirkungen – zukünftige Indikationen?
Epilepsiepatienten besitzen nachgewiesen ein signifikant erhöhtes Risiko für Bluthochdruck,
Depressionen, Schlaganfall, gastrointestinale Störungen und Sturzverletzungen [257]. Die Auswertung der zahlreichen Studien zur VNS Therapy aus den letzten 2 Jahrzehnten
zeigten vielfältige positive Effekte auf weitere Erkrankungen, so dass sich gegebenfalls
zusätzliche Therapieindikationen erwarten lassen [258].
Kardiologie
In Kapitel 5.1.4.1. ist ausführlich das Auftreten der iktalen Tachykardie bei Patienten
mit Epilepsie beschrieben, die Prävalenz liegt bei 82%. Durch die Integration der
Cardiac-Based-Seizure-Detection (CBSD) in den implantierbaren Vagusnervstimulator
reduzieren sich nicht nur generalisierte tonisch-klonische Anfälle, es verkürzt sich
gleichzeitig die Dauer der iktalen Tachykardie. Dies bedeutet ein reduziertes kardiales
Risiko und damit eine signifikante Reduktion des SUDEP-Risikos.
Eine Epilepsie kann zusätzlich schwerste EKG-Abnormalitäten und Herzrythmusstörungen
mit signifikant erhöhtem Risiko für plötzlichen Herztod (SCD) verursachen. Ein
kritischer Parameter ist dabei die T-Wellen-Alternans (TWA). Das geschätzte Risiko
für lebensbedrohliche Arrhythmien durch TWA wurde in Studien an 7000 Patienten mit
einer Vielzahl von Herzerkrankungen bestätigt [259]. Patienten nach Myokardinfarkt mit stabiler koronarer Herzelektrizität zeigten nach
einem Jahr niedrige TWA-Werte (21,1 μV), was auf eine günstige Wiederherstellung von
Herzsubstrat und Physiologie deutet [260]. Der TWA-Grenzwert wurde bei 47 μV festgelegt. Patienten mit TWA-Werten über diesem
Grenzwert zeigten eine 4- bis 7-fach höhere Wahrscheinlichkeit lebensbedrohliche Arrhythmien
zu erleiden [258]. Vor einer VNS Therapy zeigten 82% der dahingehend untersuchten Patienten einen
TWA-Wert über dem 47 μV-Grenzwert. Durch die VNS Therapy reduzierte sich der TWA-Wert
bei 70% der Patienten auf ein Niveau von 21 µV und somit die anfallsassoziierten kardialen
Dysfunktionen [261]
[262]. Libbius und Mitarbeiter beschreiben eine mehr als 73%ige Reduktion ventraler Tachykardien.
Zudem ist dieser Effekt dosisabhängig und korreliert stark mit der verwendeten VNS
Therapy-Stromintensität [263].
Bereits im Kapitel 7.2. ist entsprechend des KORA-Herzinfarkt-Registers die Bedeutung
einer Depression als der drittgrößte Risikofaktor für einen Herzinfarkt beschrieben.
Bei einer Response der VNS-Therapie reduziert sich die kardiale Morbidität und Mortalität.
Im Jahr 2015 erhielt die Vagusnervstimulation in Europa die Genehmigung zur Therapie
der chronischen Herzinsuffizienz (CHF). In einer Studie mit 60 herzinsuffizienten
Patienten konnte eine signifikante Verbesserung einiger Herzparameter gezeigt werden
[264]. Aktuell finden in Deutschland fortfolgende Untersuchungen und Auswertungen statt
im Rahmen des VITARIA Registers: Prospektive Beobachtung der Therapie der symptomatischen
Herzinsuffizienz mit dem Vagusnerv-Stimulationsverfahren, angemeldet im DRKS (Deutsches
Register Klinischer Studien) [265].
Schmerztherapie
Zu den häufigen Schmerzerkrankungen zählen Kopf- und Gesichtsschmerzen. Die Therapie
ist medikamentös und nicht-medikamentös. Bei schwierig zu diagnostizierenden und zu
therapierenden Kopf- und Gesichtsschmerzen führt eine multimodale Schmerztherapie
weiter [266]
[267].
Bereits in den Anfangsjahren der VNS-Therapy konnte im Jahr 2000 nachgewiesen werden,
dass die Vagusnervstimulation effektiv beim Menschen Schmerz reduzieren kann [268]. Busch et al. fanden in ihrer Studie eine geringere mechanische Schmerzempfindlichkeit
unter tVNS [269]. Im Jahr 2012 erhielt die transkutane Vagusstimulation (tVNS) zum Einsatz im Bereich
der Ohrmuschel (Ramus auricularis) in Europa eine Zulassung zur Schmerztherapie [270]. Epilepsiepatienten mit der Komorbidität Migräne zeigten unter tVNS-Therapie reduzierte
Migränesymptome [271]
[269]
[273].
In den aktuellen AWMF-Leitlinien (Stand September 2021) findet die VNS in folgenden
Dokumenten Erwähnung:
-
Einsatz neuromodulierender Verfahren bei primären Kopfschmerzen (S1, Registriernummer
062–008, Stand 2011, derzeit in Überarbeitung und angemeldet zur Fertigstellung 31.08.2021)
-
Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne (S1, Registriernummer 030–057,
Stand 31.08.2018): Die Wirksamkeit nicht medikamentöser Verfahren wurde in der Therapie
von akuten Migräneattacken nicht ausreichend untersucht. Die transdermale Stimulation
des N. vagus (taVNS) hat bei Cluster-Kopfschmerz in einer doppelblinden Studie einen
Effekt nachgewiesen [274]. In einer Pilotstudie war die Methode zur Behandlung akuter Migräneattacken wirksam
[275]
[276]. Hier fehlen weitere Studien, die die Wirksamkeit bestätigen und den Langzeitverlauf
untersuchen. Das in bisherigen Studien zur Anwendung gebrachte Stimulationsgerät
steht in Deutschland derzeit nicht zur Verfügung.
-
Clusterkopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen (S1, Registriernummer 030–036,
Stand 2015, derzeit in Überarbeitung): In einem aktuellen Migräne-Update wird auf
Grund der aktuellen Studienlage postuliert: Die Stimulation des N. vagus (tVNS) kann
bei Patienten in der Migräneprophylaxe erfolgreich sein. Sie ist derzeit jedoch nicht
als sicher wirksam zu bewerten [277]. In Einzelfällen stellt sie eine sinnvolle Ergänzung im Therapieregime dar [278]
[276]
[280].
Aktuell (Stand September 2021) sind am Deutschen Register für Studien (DRKS) 3 Forschungsvorhaben
registriert zur Therapie von Schmerzsyndromen und der chronische Migräne [281].
Gastroenterologie
Gastrointestinale Erkrankungen wie das Reizdarm-Syndrom und gastrointestinale Blutungen
sind beim Epilepsiepatienten häufiger als in einer gesunden Kontrollgruppe. Der Hazard
Ratio für gastrointestinale Blutungen beträgt bei Patienten mit generalisierter Epilepsie
3,50 (95% CI, 2,59–4,72). Das Reizdarm-Syndrom liegt bei Epilepsiepatienten in 16%
vor gegenüber der gesunden Kontrollgruppe mit 3% (p=0,04) [282]
[283]. Mit VNS-Therapie und Reduktion der Anfälle ist eine Reduktion dieser Symptome zu
erwarten. In einer kleinen Studie von Patienten mit Mb. Crohn zeigte sich nach 6 Monaten
iVNS-Therapie eine klinische und endoskopische Remission [284]
[285].
Rheumatoide Arthritis
Verschiedene beobachtete Nebeneffekte der iVNS-Therapie lassen sich erklären über
den vagalen antiinflammatorischen Kreislauf [284]. Epilepsiepatienten mit comorbider Rheumatoidarthritis zeigten unter iVNS-Therapie
eine Reduktion von proinflammatorischen Zytokinen (TNF, IL-1β, and IL-6) und eine
Besserung der Rheumatoidarthritis. Diese Ergebnisse lassen erkennen, dass die iVNS-Therapie
über immunmodulatorische Ansätze des autonomen Nervensystems entzündungshemmend wirkt
[286].
Kognition bei Morbus Alzheimer
Neben der schon beschriebenen antidepressiven Wirkung der VNS Therapy bei Epilepsiepatienten
[287] bestehen auch mögliche Wirkungen auf die Kognition von Alzheimerpatienten. Hier
zeigen sich Hinweise für eine positive Wirkung der VNS Therapy auf die kognitiven
Leistungen [288]
[286]
[290], diese werden jedoch kontrovers diskutiert [291].
Tinnitus
Zahlreiche Studien untersuchten die Therapieeffekte der VNS auf den Tinnitus. Die
aktuelle AWMF-Leitlinie Chronischer Tinnitus (S3, Registriernummer 017–064 Stand 15.09.2021)
gibt folgende evidenzbasierte Empfehlung: „ … auf eine transkutane oder invasive Vagusnervstimulation
allein oder in Verbindung mit akustischer Stimulation sollte bei chronischem Tinnitus
verzichtet werden. Eine transkutane Vagusnervstimulation wie auch die invasive, cervical
implantierte ist sicher anzuwenden, Evidenz für eine Wirksamkeit bei chronischem
Tinnitus liegt jedoch nicht vor“.
8. Gesundheitsökonomie: Kosten-Nutzen-Übersicht
8. Gesundheitsökonomie: Kosten-Nutzen-Übersicht
Aus gesundheitsökonomischer Sicht ist die Erfassung, Aufarbeitung und Evaluation allgemeiner
und krankheitsspezifischer Kosten auch für die neuromodulatorische Therapie erforderlich
[292]. Zur Kostenerfassung gesundheitsökonomischer Analysen wird die Cost-of-illness-Methode
(COI) verwendet, die zwischen direkten (ambulante und stationäre medizinische Versorgung,
Behandlungen, Diagnostik, Therapien, Kur-/Rehabilitationsaufenthalte, Transportleistungen,
Heil-/Hilfsmittel, Medikamente, Hilfs- und Pflegedienste), indirekten (Arbeitszeitreduktion,
Fehltage, Frühberentung, Arbeitslosigkeit, vorzeitige Mortalität) und intangiblen
(Schlafstörungen, kognitive Defizite, Depression, soziale Isolation) krankheitsspezifischen
Kosten unterscheidet [293].
Hohe direkte Kosten fallen im Rahmen der Erstdiagnose einer Epilepsie, aber auch beim
therapierefraktären Verlauf und beim Status epilepticus an. Als chronische Erkrankungen
verursachen Epilepsien hohe Kosten mit meist langjährigem Verlauf, aufwendiger Diagnostik
und der Notwendigkeit einer dauerhaften medikamentösen Therapie. Laut Statistischem
Bundesamt in Deutschland summierten sich die epilepsiespezifischen Krankheitskosten
im Jahr 2016 auf 17,8 Mrd. €, entsprechend 0,5% der jährlichen Gesundheitsausgaben.
Speziell im Rahmen der Erstdiagnose einer Epilepsie entstehen aufgrund der ausführlichen
initialen Diagnostik hohe Kosten, die in den Folgejahren kontinuierlich sinken. In
Deutschland sind etwa 14% der krankheitsspezifischen Kosten auf neu diagnostizierte
Epilepsien zurückzuführen [294]
[297].
Für die VNS Therapy konnte eine mittel- bis langfristige Kosteneffektivität nachgewiesen
werden. Eine Studie aus den USA kalkulierte die Reduktion der jährlichen Behandlungskosten
nach VNS-Implantation auf 2742 € im Vergleich zu einer rein konservativen Therapie.
Bei den im Vergleich zur heutigen reduzierten DRG-Erlössituation höheren Implantationskosten
vor 10 Jahren zeigte sich bereits damals (2010/11) bei isolierter Betrachtung der
direkten epilepsiespezifischen Kosten eine Kosteneffektivität nach elf Jahren [295]. Unter Berücksichtigung indirekter und intangibler Kosten ist laut Forbes, 2008
[296] von einer früheren Rentabilität auszugehen, seine Studie belegte eine Kostenreduktion
von 5270 € pro Lebensqualität-adjustiertem Lebensjahr.
Zu einer Kosteneffektivität von transkutaner VNS bei therapierefraktärer Epilepsie
kann aufgrund der begrenzten Datenlage aktuell keine eindeutige Aussage gemacht werden
[297].
9. Invasive Vagusnervstimulation aus interdisziplinärer Sicht – Besonderheiten
9. Invasive Vagusnervstimulation aus interdisziplinärer Sicht – Besonderheiten
9.1. Magnetresonanztherapie (MRT)
Die aktuellen VNS Therapy Systeme gelten gemäß Zulassung als bedingt MRT-tauglich.
Das bedeutet, dass unter Einhaltung definierter Konditionen die Verwendung von 1,5 T
und 3 T MRT-Scannern möglich ist. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die verwendeten
Radiofrequenz-Spulen zu legen. Wie in [Abb. 16] dargestellt, ist bei manchen VNS Therapy Modellen (Gruppe A) die Verwendung einer
Körperspule als Sende-Einheit (Tx) in Verbindung mit einer lokalen Empfangsspule (Rx)
möglich. Ältere Modelle (Gruppe B) dürfen nur mit einer speziellen Sende- und Empfangs-Kopfspule
(Rx/Tx) verwendet werden, was die Einsatzmöglichkeiten deutlich einschränkt. Vorraussetzung
bei beiden Gruppen ist, dass das VNS Therapy System regelgerecht, laut Herstellerangaben,
implantiert wurde (im oberen linken Thoraxbereich, subklavikulär bzw. über der 4.
Rippe).
Abb. 16 MRT-Richtlinie. Zeichnung H. Möbius, 2021 nach LivaNova, MRI with the VNS Therapy
System, Guidelines, Aug. 2020. Weitere Spezifikationen sind dem LivaNova VNS Therapy
Ärzte Manual, 2020 zu entnehmen.
In Vorbereitung eines MRT erfolgt vom betreuenden Zentrum das Auslesen des Generators
und damit die Versicherung, dass dieser prä-MRT regelgerecht funktioniert (kein Kabelbruch).
Während des MRT-Scans sollte das VNS-System ausgeschaltet sein (Stimulationsströme
auf 0 mA). Bei eventuellen lokalen Schmerzen, unangenehmen Beschwerden oder Hitzegefühl
muss die Untersuchung umgehend unterbrochen werden. Der VNS Therapy Patientenmagnet
ist nicht MRT-sicher und darf unter keinen Umständen mit in den Untersuchungsraum
gebracht werden [35].
Seit der Zulassung der VNS Therapy wurden eine Vielzahl an Studien publiziert, welche
die Verträglichkeit und Sicherheit für die Patienten mit implantiertem VNS Therapy
System belegen. In 2 Review-Artikeln werden die Erkenntnisse der letzten 2 Dekaden
umfassend dargestellt [297]
[298].
9.2. Sonstige Warnhinweise
Die Sicherheit und/oder Wirksamkeit der VNS Therapy sind entsprechend den Sicherheitsinformationen
des Herstellers nicht erwiesen bei Patienten mit vorbekanntem Zustand nach therapeutischer
Gehirnchirurgie beziehungsweise Gehirnverletzungen, Dysautonomien, bei obstruktiven
Lungenerkrankungen einschließlich Kurzatmigkeit und Asthma bronchiale, Ulcus ventriculi
und duodeni, vasovagalen Synkopen, kardialer Arrhythmie sowie bei progressiven neurologischen
Erkrankungen oder bei bestehender Heiserkeit. Auch zeitgleich andere Formen der Hirnstimulation
sind unzulässig [35].
Das gleichzeitige Vorhandensein eines Herzschrittmachers oder kardialen Defibrillators stellt keine Kontraindikation für die VNS Therapy dar. Die verschiedenen Aggregate
sollten jedoch einen vorgeschriebenen Mindestabstand zueinander haben und die Elektrodenkabel
beider Systeme sollten sich nicht überkreuzen. Eine Programmierung der verschiedenen
Aggregate sollte zudem zeitlich getrennt voneinander erfolgen. Die Aktivierung der
Herzraten-basierten-Anfalls-Erkennung (CBSD) wird jedoch nicht empfohlen, da die technischen
Signale der Schrittmacher vom CBSD Algorithmus fehlinterpretiert werden könnten und
folglich eine fehlerhafte Autostimulation errechnet werden würde.
Auch bei vorbestehender Therapie mit Betablockern sollte zunächst interdisziplinär mit dem Kardiologen eine Nutzen-Risiko-Evaluation
erfolgen.
Für Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe (OSAS) ist beschrieben, dass unter VNS-Therapie eine Verstärkung der OSAS-Symptomatik beobachtet
wurde. Bei VNS-Implantation in dieser Patientengruppe sollte die enge interdisziplinäre
Zusammenarbeit mit einem schlafmedizinischen Zentrum gewährleistet sein. Zu diskutieren
ist hier die Nutzung der Tag-Nacht-Programmierung (Modell SenTiva, LivaNova Deutschland
GmbH, München) oder das nächtliche Auflegen des Magneten über dem iVNS, um die Stimulationstherapie
zu unterbrechen.
Bei Patienten mit implantierten VNS bestehen gegebenfalls Therapieeinschränkungen
für eine erforderliche Strahlentherapie (Behandlung mit Strahlung, Kobaltgeräten und Linearbeschleunigern) im VNS-Implantationsbereich.
Diese Therapien könnten zu einer Beschädigung des VNS-Generators führen. Es wurde
bisher jedoch nicht systematisch untersucht, welche Wirkung diese Strahlung auf den
IPG hat [291].
Kontraindiziert ist bei Patienten mit implantiertem VNS-System die Anwendung von kurzwelliger
Diathermie, Mikrowellen-Diathermie und therapeutischer Ultraschall-Diathermie. Für die Nutzung diagnostischen Ultraschalls und Röntgenuntersuchungen gibt es keine
Einschränkungen. Bei einer Mammographie ist möglicherweise eine besondere Position einzunehmen [291].
Auf Verwendung monopolarer Koagulation über dem Implantationsgebiet ist im Rahmen von chirurgischen Interventionen zu verzichten.
Während einer Schwangerschaft kann die VNS fortgesetzt werden [299], laut Sicherheitshinweis des Herstellers ist die Wirkung und Sicherheit bei Schwangeren
jedoch nicht erwiesen [291].
Bei Patienten mit Schluckbeschwerden sollte je nach Genese bedacht werden, dass die aktive Stimulation zu Verstärkung
der Schluckbeschwerden führen kann, unter Umständen auch zu Aspiration führen könnte.
Die Verwendung des Magneten zur vorübergehenden Unterbrechung der Stimulation während
des Essens kann dann das Aspirationsrisiko mindern [300].