Psychiatr Prax 2022; 49(01): 59-60
DOI: 10.1055/a-1680-3206
Mitteilungen DGGPP

Nachruf auf Prof. Dr. Hartmut Radebold, * 23.4.1935, † 17.9.2021

 
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Prof. Dr. Hartmut Radebold †
(Foto: Rainer Strotmann, Berlin)

Prof. Dr. Hartmut Radebold ist am 17. September 2021 im Alter von 86 Jahren in Kassel gestorben. 1935 in Berlin als zweiter Sohn geboren, erlebte er als 4-Jähriger den Kriegsausbruch. Sein Vater, Arzt, wurde zu Kriegsbeginn eingezogen und kehrte nicht zurück. Er habe darüber nicht getrauert, sei wie erstarrt gewesen.

Seine Mutter zog sich zurück und ergraute über Nacht. Er wuchs vaterlos auf, ein Schicksal, das er mit vielen Gleichaltrigen teilte: als er nach dem Krieg wieder die Schule besuchte, gehörte er zu den 18 von 20 Kindern, deren Väter nicht da waren. Obwohl noch ein Junge, reagierte er, umgeben von Mutter und Tanten, „wie ein Erwachsener“. Er wurde Arzt und absolvierte in den 60er-Jahren seine Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie an der Universitäts-Nervenklinik der Freien Universität und zum Psychoanalytiker am Karl-Abraham-Institut in Berlin. In dieser Zeit heiratete er seine Frau Hildegard. 1967 wurden seine Tochter Sabine und 1970 sein Sohn Tobias geboren. Es folgten 1970 sein Wechsel an die Universität Ulm, wo er als Leiter der Psychotherapeutischen Universitätsambulanz und Geschäftsführender Oberarzt der Abteilung des Psychosozialen Zentrums tätig war (und wo er seine ersten älteren Patienten psychotherapeutisch behandelte), 1973 die Berufung in die Sachverständigen-Kommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich und 1976 der Ruf auf den Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Kassel. Die Familie bezog ein Haus auf dem Land in der Nähe von Kassel und fand hier ihren Lebensmittelpunkt. In Forschung und eigener psychoanalytischer Praxis wurden Psychodynamik, Beratung, Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatik Älterer seine Schwerpunkte. Er zeigte auf, dass früh erworbene Traumata häufig erst im Alter ihren Weg ins Bewusstsein fänden und symptomatisch würden und dass verstehende Psychotherapie bis ins hohe Alter Linderung schaffen und heilen könne. Diese Erfahrung legte er in einer großen Zahl bedeutender Bücher und wissenschaftlicher Fachbeiträge, in Vorträgen und Interviews nieder und lehrte sie in Seminaren und Supervisionen. Auch die Unterzeichnenden wurden so ermutigt und beraten, psychische und psychosomatische Phänomene im Alter als solche zu verstehen und zu behandeln. Hartmut Radebold schuf eine „Schule“ der Psychotherapie im Alter im gesamten deutschsprachigen Raum. Und selbst im „Ruhestand“ entdeckte Hartmut Radebold, wie sehr die „Kriegskinder“ schuld- und hilflos den traumatisierenden Ereignissen in ihrer Kindheit ausgeliefert gewesen und bis heute im Alter geprägt waren – die Sichtbarmachung eines epochalen Traumas, verbunden mit der Erfahrung, welch therapeutische Wirkung eigenes Sprechen und das Zuhören eines Anderen sowie psychotherapeutische Arbeit haben könnten. Mit Gleichgesinnten gründete er die Forschungsgruppe Weltkrieg2Kindheiten (w2k). Er ergänzte unser Wissen von der Bedeutung psycho-sexueller und psycho-sozialer Aspekte für die psychische Entwicklung um die psycho-historische Dimension. Er selbst berichtete später in Interviews und persönlichen Gesprächen, wie sehr ihm seine Lehranalyse bei der persönlichen Reifung geholfen hatte und wie seine Selbstanalyse (aber auch die Reflektion beim Schreiben) dazu beitrug, nicht geleistete eigene Trauer über den Tod des Vaters („erst im Alter über meinen Vater geweint“) nachzuholen und eigenes Erleben und persönliches und berufliches Verhalten auch auf dem Boden früher Entbehrungen zu verstehen. In bester psychoanalytischer Tradition zog er aus seinen schmerzhaften Erfahrungen Rückschlüsse auf seine eigene persönliche Entwicklung, aber auch seine psychotherapeutische Praxis und wissenschaftliche Analyse [1] – und dies auch jenseits des eigenen Alters von 60!

Auch wenn er beruflich hoch aktiv war, war seine Familie ihm Lebensinhalt, sie vermittelte Ruhe, Liebe und Halt, sie stellte Fragen und forderte ihn als Ehemann und Vater, sie gab Rat und Bestätigung. Die Kinder waren ihm ganz wichtig, wenngleich er, wie er in einem Interview berichtete, erst habe lernen müssen, was es bedeute, „guter Vater“ zu sein, ohne das gelebte Vorbild eines eigenen Vaters. Gemeinsam mit seiner Frau Hildegard veröffentlichte er 2009 das Buch „Älterwerden will gelernt sein“ – viel beachtet und voller weiser Ratschläge für ein „gutes Altern“, ein Appell zu aktiver Gestaltung des Alters, aber auch zu Anpassung. Lebenslang einander eng verbunden, starben Hartmut Radebold und seine Frau innerhalb von 2 Tagen fast gemeinsam. Zunehmend traten Forschung, Praxis und Lehre gerontologischer Themen und der Psychotherapie des höheren Lebensalters ins Zentrum seines beruflichen Schaffens. Er wusste auf geniale Art, Probleme zu erfassen, zu durchdringen und zu lösen, sich in Patienten einzufühlen und Mitarbeiter und Kollegen zu schulen, anzuregen und zu begeistern sowie Kolleginnen und Kollegen zu kreativen Netzwerken zu verbinden. Er brachte dafür scharfen analytischen Verstand und Fleiß und Durchhaltevermögen sowie Empathie und liebevollen Respekt mit. Wenn man ihn besuchte in seinem Haus auf dem Land und das Fachliche abgearbeitet war, führte er einen in den Garten und wusste über Hochbeete, Gemüseanbau und Kampf mit Insekten glühend zu berichten – und über die Reisen nach Schweden oder in die Wüste. Reisen und die Natur bedeuteten Freiheit und aufregende Entspannung. Schließlich waren ihm Freundschaften wichtig, die sich nicht selten aus den beruflichen Beziehungen ergaben. Seine Bereitschaft, auch dem deutlich Jüngeren und Lernenden eine Freundschaft anzubieten und sie auch in seine Familie einzuführen, war beglückend. So trauert auch eine große Zahl von Freunden um diesen großartigen Mann.

Als Mitglied des Expertengremiums, deren Bericht, die „Psychiatrie-Enquete“, 1975 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde, positionierte Hartmut Radebold die Gerontopsychotherapie in der deutschen Psychiatriereform der 70er-Jahre. Mein (C. W.) damaliger Lehrer Hans Lauter, ebenfalls Mitglied der Expertenkommission, informierte mich, als ich Beratung für meine psychotherapeutischen Bemühungen in der gerade gegründeten gerontopsychiatrischen Tagesklinik in Hamburg Ochsenzoll suchte, dass es nur einen wirklichen Könner im deutschen Sprachraum gebe – so lernte ich Hartmut Radebold 1976 kennen. Er war der Pionier der Psychotherapie älterer Menschen. Während lange Zeit das Diktum Freuds, ältere Menschen seien nicht mehr entwicklungsfähig und insofern nicht psychotherapierbar, sowohl unter Therapeuten als auch bei Älteren verbreitet war, zeigte er bereits vor über 40 Jahren Erfolge, die dem widersprachen. Er begründete 1992 mit dem Lehrbuch „Psychodynamik und Psychotherapie Älterer“ das wissenschaftliche Fach Psychotherapie Älterer. Ein Meilenstein und eine Ermutigung für jeden Psychotherapeuten war sein Buch „Der mühselige Aufbruch“, das er gemeinsam mit der bei Behandlungsbeginn 65-jährigen Patientin Ruth Schweizer (ein Pseudonym) 1996 veröffentlichte – der Titel des Buches beschrieb zutreffend sowohl die Entwicklung, die die Patientin im Rahmen der Psychoanalyse nahm, als auch die Schwierigkeit, im Nachkriegsdeutschland Psychotherapie generell und speziell bei Älteren zu implementieren. Er gründete 1998 das „Institut für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie“ und schulte und prägte unzählige Schüler. Er initiierte die jährlichen Symposien „Psychoanalyse und Altern“ mit (in diesem Jahr zum 33. Mal) und war Mitbegründer der „Zeitschrift für Psychotherapie im Alter“ (ab 2004). Er war wesentlich daran beteiligt, dass die „Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie“ (DGGP) Anfang der 90er-Jahre gegründet und zur „Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (DGGPP) weiterentwickelt wurde. 2009 wurde er Ehrenmitglied der DGGPP und erhielt 2010 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Hartmut Radebold hat ein in jeder Hinsicht erfülltes Leben geführt. Die Familie hat unsere herzliche Anteilnahme. Hartmut Radebold wird uns aufgrund seiner Persönlichkeit, seiner Kompetenz und seiner Fürsorge und Liebe für seelisch leidende ältere Menschen fehlen. Sein Wirken hat und wird weiter „Wellen“ schlagen [2]. An uns Schülern liegt es, die Ideen und Erfahrungen von Hartmut Radebold auch an die nächste Generation weiterzugeben.

Claus Wächtler, Rolf D. Hirsch, Hamburg/Bonn


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  • Literatur

  • 1 Teising M. Laudatio für Hartmut Radebold zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der DGGPP. 19.06.2009 Berlin:
  • 2 Yalom ID. In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. München: btb; 2010: 86-94

Korrespondenzadresse

Dr. Claus Wächtler
Droste-Hülshoff-Straße 11
22609 Hamburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
03 January 2022

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Teising M. Laudatio für Hartmut Radebold zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der DGGPP. 19.06.2009 Berlin:
  • 2 Yalom ID. In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. München: btb; 2010: 86-94

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Prof. Dr. Hartmut Radebold †
(Foto: Rainer Strotmann, Berlin)