Nervenheilkunde 2022; 41(04): 273-275
DOI: 10.1055/a-1701-8224
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

Katharina Kamm
,
Pia Unverferth
,
Gudrun Goßrau
 

Eine große Fallserie bestätigt die Wirksamkeit von Lamotrigin für das SUNCT-/SUNA-Syndrom

***Lambru G, Stubberud A, Rantell K, et al. Medical treatment of SUNCT and SUNA: a prospective, open-label study including single-arm meta-analysis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2021; 92: 233–241

Das SUNCT- und SUNA-Syndrom, die durch einseitige, Sekunden anhaltende, stechend-elektrisierende Kopfschmerzattacken mit kranialen autonomen Symptome charakterisiert sind, gehören zu den trigemino-autonomen Kopfschmerzen. Aufgrund der Seltenheit sind diese Kopfschmerzen kaum untersucht.

Zusammenfassung

In diesem Artikel wird eine große Fallserie mit SUNCT- und SUNA-Patienten vorgestellt und die Wirksamkeit medikamentöser Therapien untersucht. Die Autoren schlossen zwischen 2007 und 2014 insgesamt 85 SUNCT- und 76 SUNA-Patienten ein (gesamt 161 Patienten). Bei Beginn der Behandlung wurde mittels eines semistrukturierten Interviews eine Kopfschmerz-Anamnese erfasst und die Wirksamkeit der jeweiligen Behandlungen wurde mittels Follow-up-Interviews nach 3, 6 und 12 Monaten erhoben. Die Wirksamkeit wurde entweder durch die Patienten geschätzt, sofern bei sehr hoher Attackenzahl das Führen eines Kopfschmerz-Tagebuchs nicht möglich war, oder mittels Kopfschmerz-Tagebüchern erhoben. Die Autoren bewerteten ein mildes Ansprechen bei einer Verbesserung der Kopfschmerzhäufigkeit von < 50 %, ein gutes bzw. exzellentes Ansprechen bei einer Reduktion von 50–90 % bzw. 91–100 %. Responder wurden definiert, sofern ein gutes oder exzellentes Ansprechen vorlag.

In der Behandlung mit Lamotrigin wurden 56 % der Patienten als Responder eingeordnet, 18 % beendeten die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen. In absteigender Reihenfolge wurden folgende Ansprech- bzw. Abbruchraten festgestellt: Oxcarbazepin (Ansprechrate: 46 %, Abbruchrate: 17 %), Carbamazepin (Ansprechrate: 26 %, Abbruchrate: 20 %), Topiramat (Ansprechrate: 25 %, Abbruchrate: 32 %), Pregabalin (Ansprechrate: 11 %, Abbruchrate: 21 %) und Gabapentin (Ansprechrate: 10 %, Abbruchrate: 14 %). Innerhalb dieser Studie wurde für therapierefraktäre Patienten die Behandlung von Duloxetin, Lacosamid und Mexiletin ausprobiert. Hier zeigte sich eine Ansprechrate von 30 % und 33 % für Duloxetin bzw. Mexiletin (Antiarrhythmikum) bei Abbruchraten von 29 % bzw. 40 %. 2 von 6 Patienten berichteten unter der Einnahme von Lacosamid eine Verbesserung der Kopfschmerzen. Die Behandlung mit Lidocain zeigte ein Ansprechen von 90 %, wobei in 50 % der Patienten die Kopfschmerzattacken unmittelbar nach Ende der Infusion wieder auftrat und in den restlichen Patienten die Wirkung durchschnittlich 22 Tage anhielt. Die Anwendung einer occipitalen Nervenblockade zeigte ein Ansprechen in 37 % mit einer durchschnittlichen Wirkdauer von 38,4 ± 34,7 Tagen.


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Kommentar

Zwar liegt hier eine Beobachtungsstudie ohne Placebokontrolle vor, dennoch ist die Studie aufgrund der hohen Patientenzahl interessant und unterstützt die Ergebnisse aus kleineren Fallstudien hinsichtlich der Wirksamkeit von Lamotrigin. Einschränkend muss die Erhebung der Wirksamkeit mittels Schätzung oder Kopfschmerz-Tagebuch erwähnt werden. Um die Aussagekraft zu sichern, wurde ein positives Ansprechen mit einer Wirksamkeit von > 50 % definiert. Aufgrund der Seltenheit und der Schwere der Erkrankung lassen sich randomisierte, verblindete Studien kaum durchführen. Insofern ist die Veröffentlichung großer Patientenzahlen – wie hier geschehen – ein wichtiger Beitrag für unser Verständnis der Erkrankung.

Katharina Kamm, München


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Kutane Allodynie bei Kindern und Jugendlichen mit Migräne und ihren Müttern: Eine vergleichende Studie

**** Raibin K, Markus TE. Cutaneous allodynia in pediatric and adolescent patients and their mothers: A comparative study. Cephalalgia 2021. doi: 10.1177/03331024211062072

Kutane Allodynie in Kindheit und Jugend ist mit maternaler Allodynie assoziiert.

Hintergrund

Allodynie steht bei erwachsenen Patienten mit Migräne in Bezug zur Erkrankungsdauer und zur Chronifizierung der Erkrankung. Der zugrunde liegende Mechanismus für kutane Allodynie ist die Sensibilisierung nozizeptiver Neurone im Nucleus spinalis nervi trigemini (Pars caudalis), welche konvergent afferente Signale aus Dura mater und Haut erhalten. Die Prävalenz der cephalen kutanen Allodynie wird bei Kindern mit Migräne mit 31–37 % angegeben, liegt bei Erwachsenen mit Migräne hingegen bei 60–80 %. In dieser Studie wurde der mögliche Zusammenhang zwischen Allodynie bei Kindern und Jugendlichen mit Migräne und einer Allodynie bei ihren Müttern untersucht.


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Zusammenfassung

98 Kinder und Jugendliche mit Migräne (ICHD-3-Kriterien) im Alter von 7 bis 18 Jahre und deren Mütter wurden in dieser Studie mit einem Allodynie-Fragebogen (Allodynia Symptom Checklist) und dem Strengths and Difficulties Questionnaire (Erfassung von Verhaltens-, psychologischen und sozialen Problemen bei Kindern und Jugendlichen) untersucht. Die Kinder und Jugendlichen waren im Durchschnitt 13,5 ± 3,1 Jahre alt und 57 % waren weiblich. 64 Kinder (65 %) berichteten über Allodynie. Kinder mit Allodynie

  • waren häufiger Mädchen (66 % vs. 41 %, p = 0,03),

  • zeigten häufiger organische Komorbiditäten (69 % vs. 41 %, p = 0,01),

  • zeigten häufiger Migräne mit Aura (58 % vs. 35 %, p = 0,055),

  • hatten häufiger Mütter mit Migräne (69 % vs. 16 %, p < 0,001), häufiger auch Mütter mit Kopfschmerzen jeglicher Art (77 % vs. 42 %, p = 0,012) und

  • hatten häufiger Mütter mit Allodynie (83 % vs. 35 %, p < 0,001).

Bei den 98 Müttern betrug das Durchschnittsalter 43 ± 6 Jahre. 66 der befragten Mütter (67 %) gaben Kopfschmerzen an, davon 60 (90 %) mit Migräne, 5 mit Spannungskopfschmerz und 1 mit anderweitigen Kopfschmerzen klassifiziert. 65/98 Müttern (66 %) zeigten Allodynie, davon hatten 53 (81 %) Migräne, 4 Spannungskopfschmerz und 8 keinen Kopfschmerz. Von diesen 8 Frauen hatten 5 Erkrankungen, die mit einer Schmerzüberempfindlichkeit aufgrund zentraler Sensibilisierung in Verbindung gebracht werden können (irritable bowel syndrome und chronische Schmerzsyndrome). Bei 6 dieser 8 Mütter hatten deren Kindern eine Allodynie. Von den 33 Müttern ohne Allodynie hatten 11 Kinder (33 %) eine Allodynie. Mittels logistischer Regressionsanalyse konnten 5 Variablen identifiziert werden, die signifikant mit der Allodynie bei Kindern und Jugendlichen assoziiert sind: mütterliche Allodynie (p < 0,001), organische Komorbiditäten (p = 0,01), Kopfschmerz beim Erwachen (p = 0,01), Migräne mit Aura (p = 0,04), weibliches Geschlecht (p = 0,098). Die Studie zeigt keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Patienten mit und ohne Allodynie in Bezug auf die Antworten im Strenghts and Difficulties Questionnaire oder auf die Häufigkeit psychiatrischer Komorbiditäten.


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Kommentar

Die ermittelte Allodynie-Prävalenz in pädiatrischen Patienten mit Migräne ist in dieser Studie höher als in der Literatur. Das ist sehr wahrscheinlich Folge der speziellen Stichprobe am tertiären Kopfschmerzzentrum mit einer höheren Zahl an Kindern mit weiteren Komorbiditäten. Einige dieser Begleiterkrankungen, z. B. muskuloskelettale Erkrankungen könnten mit einer zentralen Sensibilisierung in Verbindung gebracht werden, was eine Allodynie der Kinder fördern könnte. Jedoch lässt die geringe Anzahl der Patienten mit einzelnen Komorbiditäten keine eindeutigen Rückschlüsse zu. Interessant wären weitere Studien an größeren Patientenkollektiven, die den Einfluss von Begleiterkrankungen auf die Entwicklung einer Allodynie spezifischer untersuchen. Allerdings weist die Beobachtung, dass die Allodynie auch während schmerzfreier Perioden vorliegt und sowohl bei episodischer sowie chronischer Migräne, auf das Vorliegen weiterer Mechanismen als der zentralen Sensibilisierung hin. Auch ist die Methodik der Erfassung von Allodynie-Symptomen zu berücksichtigen, da in dieser Studie z. B. direkte Befragungen der Kinder vorgenommen wurden und nicht ausschließlich der Eltern, wie in Vorstudien.

Der hier gezeigte signifikante Zusammenhang zwischen pädiatrischer Allodynie und mütterlicher Allodynie, häufigeren iktalen Allodynie-Symptomen der Mütter, mütterlichen Kopfschmerzen jeglicher Art und mütterlicher Migräne hat wahrscheinlich komplexe Ursachen in Genetik, Epigenetik und Verhalten. Bereits in Zwillingsstudien wurden signifikante Assoziationen genetischer Komponenten für Reaktionen auf die meisten schmerzhaften Stimuli nachgewiesen, u. a. auch für mechanische Allodynie. Es konnten eine Reihe von Genen identifiziert werden, denen eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung der Schmerzempfindlichkeit oder der Anfälligkeit für chronische Schmerzen zukommt, z. B. Catechol-o-Methyltransferase, Serotonintransporter-Gen oder TRPM8 (kodiert für den „Mentholrezeptor“ auf sensorischen Neuronen, der die Kälteempfindung transduziert). Für letzteren konnte gezeigt werden, dass der TRPM8 rs10166942T-Nukleotid-Polymorphismus mit häufigeren Allodynie-Symptomen bei den Trägern einhergeht. Epigenetische Veränderungen des supraspinalen Schmerznetzwerkes wurden bei chronischen Schmerzen nachgewiesen als indirekter Hinweis auf deren fördernden Einfluss auf die Entwicklung von Allodynie.

Interessanterweise wurden für Verhaltensauffälligkeiten und psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Allodynie keine statistisch signifikanten Unterschiede gefunden. Damit scheinen psychologische Faktoren keine wesentliche Rolle in der Ausbildung von Allodynie zu spielen. Allerdings sollten Umweltfaktoren berücksichtigt werden. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass pädiatrische Allodynie mit einer höheren Anzahl von iktalen mütterlichen Allodynie-Symptomen verbunden ist. Bekannt ist, dass maternales Verhalten einen Einfluss auf das Schmerzerleben von Kindern hat. Möglicherweise fördern Allodynie-Symptome bei Müttern die Allodynie ihrer Kinder. Hier wäre wieder eine multizentrische Studie mit größerer Teilnehmerzahl, auch prospektiv, aufschlussreich. Darüber hinaus sollte der Einfluss von maternalen Verhaltensänderungen auf die Allodynie-Symptome der Kinder geprüft werden.

Pia Unverferth und Gudrun Goßrau, Dresden


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INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377 München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de

Sie wird dabei unterstützt von Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz), PD Dr. Gudrun Goßrau, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Clusterkopfschmerz).

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
04. April 2022

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