CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(11): 1283-1285
DOI: 10.1055/a-1731-2515
GebFra Science
Leserbrief

Betrachtungen zu forensischen Aspekten der neuen AWMF-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“

Observations on Forensic Aspects in the New AWMF Guideline “Vaginal Birth at Term”
Roland Uphoff
1   Kanzlei für Geburtsschadensrecht und Arzthaftung, Kanzlei Dr. Roland Uphoff, Bonn, Deutschland
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Leitlinien legen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs medizinische Soll-Standards fest, die im Grundsatz von der medizinischen Wissenschaft vorgegeben werden.

Es ist mehrfach entschieden worden, dass Leitlinien den maßgeblichen medizinischen Standard zutreffend beschreiben, aber auch – nicht nur, wenn sie veraltet sind – hinter diesem zurückbleiben können. Das ist leider gerade hier der Fall.

Die neue AWMF-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ [1] ist nicht in Einklang zu bringen mit aktuell geltenden Qualitätsstandards, arbeitsrechtlichen Vorgaben und Anforderungen deutscher Zivilgerichte an eine risikoadaptierte Aufklärung der Schwangeren unter der Geburt.

Besonders kritikwürdig ist, dass die neue Leitlinie in vielen Bereichen eine deutliche Unterschreitung (!) des heute geltenden medizinischen und medizinjuristischen Standards fordert. Dass eine neue Leitlinie bisher geltende Standards unterschreitet, ohne Belege dafür vorgelegt zu haben, dass diese Standardunterschreitung ohne negative Folgen für Mutter und Kind bleibt, darf als Novum gewertet werden.

Man kann vor einer Übernahme der Leitlinie in die klinische Praxis daher nur eingehend warnen. Standardunterschreitungen sind – neue Leitlinie hin oder her – Grundlage fast aller zivil- und im Übrigen auch strafrechtlichen Auseinandersetzungen und führen, z. B. im Falle einer Unterschreitung der Dokumentationspflichten, im Haftungsprozess zu einer Beweislastumkehr. Die Rückkehr vom CTG zum Pinard’schen Hörrohr, die Unterlassung von CTGs und Untersuchungen in bestimmten Situationen, der Verzicht auf postpartale pH-Wert-Bestimmungen (auch geknüpft an Bedingungen) macht deutlich, dass sich offenbar einige der Beteiligten dieser rechtlichen Tragweite nicht bewusst waren.

Die forensische Praxis und die obergerichtlichen Entscheidungen zeigen, dass die notwendige risikoadaptierte und vorausschauende geburtshilfliche Betreuung und Überwachung ein elementarer und essenzieller Behandlungsstandard für Mutter und/oder Kind ist. Jedwede Aufweichung (Verzicht auf die CTG-Überwachung zugunsten des Pinard’schen Hörrohrs, Verzicht auf Mikroblutuntersuchung oder postpartale pH-Wert-Bestimmung) werden auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht akzeptiert werden können.

Der Hinweis der Leitlinie, man könne die vorgenannten, seit vielen Jahren klinisch erprobten und gesicherten Standards (CTG-Überwachung, MBU, postpartale pH-Wert-Bestimmung) zumindest für die Niedrigrisikogeburten verlassen, ist nach Auffassung des Autors aus forensischer Sicht eine höchst kritische, wenn nicht dramatische Empfehlung.

Die forensisch entschiedenen Geburtsschadensfälle zeigen, dass gerade das Risikobewusstsein und die risikoadaptierte, fachärztliche (!) Betreuung, Überwachung und Begleitung häufig nicht gegeben sind. Nunmehr zu versuchen, im Rahmen einer Leitlinie, unter Hinweis auf sog. „Niedrigrisikogeburten“, auf erprobte und etablierte Behandlungsstandards zu verzichten, wird dramatische forensische Folgen haben.

Die Leitlinie strebt an, den vor der Geburt stehenden Frauen in Geburtskliniken eine für sie angenehme, durch Empathie getragene und menschlich fürsorgliche Behandlung zu gewähren, welche die Geburt für sie zu einem erhebenden und erinnerungswürdigen Erlebnis macht. Vor allem soll bei der Behandlung einer Gebärenden stets ihre Würde respektiert werden. Solche Bestrebungen sind sehr zu begrüßen, sie sind aber, wie auf der Hand liegt, nicht justiziabel.

Hinter der neuen Leitlinie steht erkennbar das Bestreben, den in Geburtskliniken heute fast allgemein beachteten ärztlichen Standard zu reduzieren und ihn dem Hebammenstandard anzunähern. Dabei ist zu beachten, dass die Leitlinie die Unterlassung im sogenannten Niedrigrisikokollektiv vorgibt: „Soll nicht“ bedeutet „Darf nicht“.

Mit anderen Worten: Entweder man unterlässt die Maßnahme oder man begründet sie sehr sorgfältig oder man findet Gründe, warum eine Schwangere nicht dem sog. Niedrigrisikokollektiv zuzuordnen ist.

Die Leitlinie folgt ganz grundsätzlich einer Tendenz, die sog. „Apparatemedizin“ so weit wie möglich zurückzudrängen, zumindest die Anwendung moderner diagnostischer Methoden von allen möglichen durch die Sache nicht gebotenen Einschränkungen abhängig zu machen. Dies gilt vor allem für die CTG-Überwachung der Geburt, für die Ultrasonografie, für die intrapartale Fetalblutgasanalyse und überraschenderweise auch für die Blutgasanalyse unmittelbar nach der Geburt.

Es ist nicht verständlich zu machen, worauf diese Bestrebungen abzielen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es den Autoren der Leitlinie vor allem darum geht, durch Absenkung bisher geltender und im Klinikbetrieb weitgehend beachteter Standards die Haftungsrisiken zu senken.

Nach Ansicht des Autors wird genau das Gegenteil der Fall sein.

Unterlassen diagnostischer Maßnahmen und Konsequenzen für die betroffenen Frauen

Für die betroffenen Frauen ist die von den Autoren der Leitlinie beabsichtigte Senkung des bisherigen Standards unter weitgehender Zurückdrängung der sog. „Apparatemedizin“ nicht von Vorteil.

So wichtig es ist, nach Möglichkeit zu verhindern, dass Frauen eine Klinikgeburt als traumatisches Ereignis erleben, so falsch wäre es, aus diesem Grunde, wie dies manchmal vollkommen unberechtigterweise behauptet wird, von Generationen von Ärzten entwickelte und allgemein bewährte Behandlungsmethoden, die wahrscheinlich Millionen von Kindern das Leben gerettet haben, zu verwerfen oder sie unter ein restriktives Regime stellen. Die Abschaffung einer etablierten Methode setzt Studien voraus, die den Nachweis erbracht haben, dass ein Verzicht auf diese Maßnahme entweder keine Nachteile oder sogar Vorteile für den Fetus hat. Genau dies ist bei den oben genannten Beispielen aber nicht der Fall.

Seit mehr als 15 Jahren ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung und in den Urteilen des Bundesgerichtshofs zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Überwachung mittels CTG ein elementarer Behandlungsstandard in der Geburtshilfe ist und ein Unterlassen dieser für eine gebärende Frau im Grundsatz nicht belastende Maßnahme einen groben Behandlungsfehler darstellt.

Das in der Leitlinie anscheinend favorisierte Pinard’sche Hörrohr ermöglicht bei Weitem nicht den aus den fetalen Herzfrequenzkurven mittels CTG zu erzielenden Erkenntnisgewinn.

Auch die Rechtsprechung hat diesen Gesichtspunkt immer wieder betont und die Notwendigkeit der CTG-Überwachung bestätigt und ausgeurteilt.

Im Grundsatz gilt dieses auch für die Ultraschalldiagnostik oder Blutgasanalyse aus dem Nabelschnurblut.

Ultraschall, CTG, MBU und postpartale Blutgasanalyse sind klinisch erprobte Standards, die nicht nur dem Zweck dienen sollen, überflüssige Kaiserschnitte zu verhindern, sondern insbesondere das fetale Wohlbefinden zu verifizieren, um (wie eingangs beschrieben) risikoadaptiert und vorausschauend/protektiv für Mutter und/oder Kind die Geburt zu betreuen.


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Aufklärungspflichten bei Umsetzung der neuen Leitlinie

Aus Sicht des Autors ist im Falle der Umsetzung der neuen Leitlinie, wegen der daraus resultierenden Unterschreitungen des bisherigen Standards, über die Nachteile dieser Umsetzung aufzuklären.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat eine frühzeitige Aufklärung der werdenden Mutter über die für sie und das Kind bestehenden Risiken sowie über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Entbindungsmethoden zu erfolgen, wenn aufgrund konkreter Umstände die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass im weiteren Verlauf eine Konstellation eintritt, die als relative Indikation für eine Schnittentbindung zu werten ist.

Eine solche Aufklärung erfordert selbstverständlich, dass geeignete Maßnahmen zur Risikoermittlung durchgeführt werden. Ein Verzicht auf diese Maßnahmen ist möglich, erfordert aber eine Aufklärung der Schwangeren über die möglichen – mitunter dramatischen – Folgen der Standardunterschreitung.


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Niedrigrisikoschwangere – vollkommen unklare Definition

Die in der neuen S3-Richtlinie weitgehend abgeschriebene britische NICE-Leitlinie [2] bezieht sich auf die Versorgung gesunder Frauen und Kinder. Dieser Begriff ist deswegen äußerst problematisch, weil man aus der Sicht ex ante nie mit ausreichender Sicherheit beurteilen kann, ob die vor der Geburt stehende Frau und das ungeborene Kind wirklich uneingeschränkt „gesund“ sind. Eine allgemeingültige und akzeptierte Definition für „Niedrigrisikoschwangere“ wird in der Leitlinie nicht genannt.

Aus den Daten der hessischen Perinatalerhebung ist bekannt, dass es in ca. 20% der primär als Nichtrisikogeburten erfassten Geburten zum Auftreten von relevanten Störungen während der Geburt kommt. Es wäre schlechthin unvertretbar und angesichts des heute in Deutschland erreichten Standes der Geburtsmedizin nicht zu rechtfertigen, einen derartig hohen Prozentsatz von Frauen und Kindern durch weitgehenden Verzicht auf gängige Untersuchungsmethoden gewissermaßen auf die Verlustliste zu setzen.

Die in der neuen Behandlungsrichtlinie befürwortete weitgehende Einschätzung dieser Untersuchungsmethoden käme, um es scharf zu formulieren, einem Rückfall in dunkle Zeiten gleich.

Es ist dringend davon abzuraten, Schwangere als „Niedrig-Risiko“ einzustufen und dadurch fahrlässig Standardunterschreitungen zu riskieren.


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Arbeitsrecht

Das Arbeitszeitgesetz ist einzuhalten. Eine Leitlinie, die sich dahingehend äußert, dass ein Wechsel des Teams im Geburtsverlauf vermieden werden soll, ist nicht im Hier und Jetzt des deutschen Arbeitsrechts angekommen.


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G-BA-Richtlinien

Die G-BA-Richtlinien (z. B. zu planungsrelevanten Qualitätsindikatoren) sind Rechtsnormen mit Gesetzescharakter [3]. Sie sind zwingend einzuhalten. Verstöße gegen die G-BA-Richtlinie können nicht nur zivilrechtliche, sondern ggf. auch strafrechtliche Konsequenzen haben. Die vom G-BA verabschiedeten Richtlinien zur Qualitätssicherung machen die Bestimmung z. B. der pH-Werte bei allen Neugeborenen zwingend erforderlich.

Für gesunde Neugeborene, wie es die Leitlinie fordert, darauf zu verzichten, ist schlichtweg unmöglich.


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Fazit

Aus den oben genannten vielfältigen Gründen muss man dringend davor warnen, dass in der Geburtshilfe tätige Ärzte sich an der neuen Leitlinie orientieren, also glauben, sich auf einem klinisch und insbesondere forensisch sicheren Weg zu befinden, wenn sie diese Behandlungsrichtlinie befolgen. Sie würden nicht nur, wie man prognostizieren kann, die Zahl der ihnen unterlaufenen und nicht erfolgreich bewältigten (bzw. befundeten) Behandlungskomplikationen erhöhen. Wenn sie sich vor Gericht darauf berufen, ihnen sei kein Fehler anzulasten, da sie sich im Einklang mit dieser Richtlinie verhalten hätten, wird aus forensischer Sicht schwer werden, zu begründen, weshalb von etablierten, klinisch erprobten Behandlungsstandards abgewichen wurde.

Wenn auf die Durchführung relevanter diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen verzichtet wird, müssen die damit einhergehenden Risiken für Mutter und Kind in aller Deutlichkeit benannt werden.

Das Aufklärungsgespräch sollte sorgfältig dokumentiert und in kritischen Fällen von der Schwangeren gegengezeichnet werden. Die Aufklärungspflichten steigen durch die neue Leitlinie aber auch, wenn bei nicht dokumentiertem Risiko vor allem solche diagnostischen Maßnahmen zum Einsatz kommen, die „Soll-nicht“-Empfehlungen (entspricht „darf nicht“) unterliegen.

Vor dem Hintergrund der neuen Leitlinie sollte meines Erachtens nun auch zusätzlich zur situationsbezogenen Aufklärung grundsätzlich erwogen werden, den Aufklärungsbogen „Geburtshilfliche Maßnahmen“ bei jeder Schwangeren zu nutzen, um bereits im Vorfeld sicherzustellen, dass sie sich der Bedeutung diagnostischer und therapeutischer geburtshilflicher Maßnahmen und der Folgen im Falle der Unterlassung bewusst ist.


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Kritischer Ausblick

In Zukunft sollte die Auswahl der Interessenverbände mit größerer Sorgfalt unternommen werden. So repräsentiert die Patient*innenvertretungsorganisation mit Sicherheit nicht die deutsche Schwangere, sondern einen sehr kleinen Teil davon. Die Mehrzahl der Schwangeren wünscht maximale Sicherheit für sich und ihr Kind und es erfordert eine gewisse Kompromisslosigkeit, wenn man dieses Ziel weiterhin sicherstellen möchte.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. iur. Roland Uphoff, M.mel.
Kanzlei Dr. Roland Uphoff, Kanzlei für Geburtsschadensrecht und Arzthaftung
Heinrich-von-Kleist-Str. 4
53113 Bonn
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
03. November 2022

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