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DOI: 10.1055/a-1737-8399
Den Teufelskreis durchbrechen – Das Fear Avoidance Model und seine Therapieansätze
- Fear-Avoidance-Modell
- FAM als dynamisches Modell
- Angst vs. Furcht
- Ängste und Lernerfahrungen
- Pawlow'sche Konditionierung assoziiert Schmerz mit Bewegung
- Modelllernen durch Beobachtung von Menschen
- Verbal vermittelte Information mit immensem Einfluss
- Behandlungsansätze
- Schädlichkeit von Aktivitäten bewerten
- Aktivitäten gemeinsam ausführen
- Mit herausfordernden Aktivitäten beginnen
- Graded Activity als alternativer Behandlungsansatz
- Ängste therapieren, um Teufelskreis zu durchbrechen
- Literaturverzeichnis
Menschen mit chronischen Schmerzen haben oft Angst vor bestimmten Bewegungen. Sie vermeiden entsprechende Aktivitäten, bauen körperlich ab und leiden schlimmstenfalls unter noch stärkeren Schmerzen und Depressionen. Die Expositionstherapie sowie das Graded-Activity-Konzept helfen, den Teufelskreis des Angst-Vermeidungs-Modells zu durchbrechen.
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Angst spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, chronische Schmerzen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Das beschreibt auch das „Fear Avoidance Model“ (FAM) aus dem Jahr 2000 von Johan Vlaeyen und Steven Linton [1], [2]. Laut dieses anschaulichen Angst-Vermeidungs-Modells reagieren Menschen bei Schmerzen gewöhnlich mit einem von zwei Verhaltensmustern: Konfrontation oder Vermeidung.
Bei der Konfrontation reagiert ein Individuum bei Schmerzen angstfrei. Nach einer kurzen Schonzeit konfrontiert es sich selbst mit Bewegung und erreicht über seine Aktivität die vollständige Genesung. Ein geringerer, aber dennoch signifikanter Teil der Menschen tendiert bei Schmerz allerdings dazu, Bewegung zu vermeiden. Stattdessen katastrophisieren sie ihre Beschwerden. Sie befürchten zum Beispiel, dass ihre Schmerzen „auf etwas Schlimmes hindeuten“ oder „unerträglich“ sein würden. Derartige Gedankenspiele befeuern in ihnen die folgenschwere Angst, den Schmerz durch bestimmte Bewegungen zu verstärken. Dementsprechend begegnen sie ihren Ängsten mit einer erhöhten Wachsamkeit gegenüber ihrem Körper und dem Schmerzgeschehen. Schließlich vermeiden sie fortan jene Bewegungen und Aktivitäten, die ihrer Meinung nach die Schmerzen verursachen oder verschlimmern könnten.
Schmerz
löst bei Menschen eines von zwei Verhaltensmustern aus: Konfrontation oder Vermeidung.
Vermeiden diese Menschen längerfristig Bewegung, so folgt darauf körperlicher Abbau („Disuse“), starke Beeinträchtigungen im Alltag und Depression. Dies intensiviert Schmerzen, was neue Bewegungsängste schürt und schließlich zum beharrlichen Vermeiden entsprechender Aktivitäten führt. Auf die Dauer schließt sich ein fataler Teufelskreis an, der sich häufig über Jahre hält – eine Abwärtsspirale, welche das physische und psychische Wohlbefinden der Menschen massiv beeinflusst. In vielen Fällen hilft schließlich nur eine gezielte multimodale Schmerztherapie, die neben biologischen auch psychische und soziale Faktoren miteinbezieht.
Beim Katastrophisieren überschätzen Patient*innen den Ernst ihrer Schmerzen und fehlinterpretieren deren Bedeutung.
Fear-Avoidance-Modell
Das Fear-Avoidance-Modell (FAM) ist wissenschaftlich gut untersucht. Die Kausalzusammenhänge zwischen den einzelnen Komponenten wiesen Forscher*innen in mehreren klinischen Studien nach [3]–[5]. Diese zeigen, dass Katastrophisierung, schmerzbezogene Angst und Hypervigilanz (KOMPONENTEN DES FAM, S. 33) Zeichen sind, Schmerzintensität und körperliche Beeinträchtigung vorherzusagen [6]–[10]. Zusammen mit weiteren Angst-Vermeidungs-Überzeugungen tragen diese angstassoziierten Verhaltensmuster sogar stärker zur Entwicklung chronischer Schmerzen bei als medizinisch-biologische Faktoren [11]. In den letzten Jahren haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu einigen Veränderungen des ursprünglichen Angst-Vermeidungs-Modells geführt ([ABB. 1A], S. 34) [1]. So wurde die „Priorisierung von Schmerzkontrolle“ als Gegenstück zur „Priorisierung von geschätzten Lebenszielen“ in das FAM integriert ([ABB. 1B], S. 34) [12].


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FAM als dynamisches Modell
Im Gegensatz zu anderen Erklärungsmodellen zeichnet sich das FAM durch seine Dynamik aus. Es fokussiert sich auf das dynamische Zusammenspiel psychologischer, körperlicher und indirekt auch sozialer Faktoren, die sich im Verlauf der Symptomatik gegenseitig beeinflussen [13]. Dementgegen geht beispielsweise das Modell der Somatisierung davon aus, dass der Schmerzsymptomatik vorrangig eine psychosoziale Konflikt- oder Belastungssituation vorausgeht. Typische Beispiele hierfür sind eine Trennung, Scheidung oder der Tod eines nahen Angehörigen. Die aus diesen Belastungssituationen resultierenden psychischen Phänomene äußern sich dann als körperliche Symptome.
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Angst vs. Furcht
Zum besseren Verständnis der nachfolgend verwendeten Begriffe lohnt ein Blick auf die oft miteinander verwechselten Emotionen „Angst“ und „Furcht“. Im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet man diese Ausdrücke häufig synonym, tatsächlich aber beziehen sie sich auf unterschiedliche Phänomene.
Furcht ist eine starke emotionale Reaktion auf eine reale drohende Gefahr. In einer konkreten Gefahrensituation – plötzlich taucht ein gefährliches Raubtier vor uns auf – fürchten wir uns. Furcht versetzt den Körper in akute Alarmbereitschaft und erfordert ein schnelles Handeln nach dem Schema der Fight-or-Flight-Reaktion. Ziel dieser lebenswichtigen Reaktion ist es, der realen Bedrohung zu entkommen. Ist die Gefahr gebannt, klingt die körperliche und emotionale Erregung schnell ab. Angst hingegen bezieht sich auf ein Gefühl der Anspannung in Erwartung einer potenziellen, oftmals weniger spezifischen Bedrohung. Ängste müssen folglich nicht zwingend rational begründet sein. Demgemäß ängstigen sich nicht wenige Menschen im Dunkeln ([ABB. 2]).


Ängste triggern Schmerzen mehr als biologische Faktoren. So können verschiedene angstassoziierte Verhaltensmuster stärker zur Entwicklung chronischer Schmerzen beitragen.
Die Handlungsoptionen bei Angst beschränken sich auf das Vermeidungsverhalten und die Hypervigilanz. Ziel dieser Reaktionen ist es, die vermeintliche Bedrohung frühzeitig abwenden zu können. Die körperlichen Reaktionen bei Angst sind zwar weniger intensiv als bei Furcht, halten dagegen aber über einen längeren Zeitraum an, was sich auf Dauer negativ auf die physische und psychische Gesundheit auswirken kann [14]–[16]. Evolutionär bedingt beeinflussen Furcht und Angst die Schmerzreaktivität [17]. Furcht reduziert die Schmerzwahrnehmung, weil es primär gilt, der Gefahr zu entkommen, um womöglich schlimmeren Verletzungen zu entgehen und das Überleben zu sichern. Im Gegensatz dazu erhöht Angst die Schmerzreaktivität einer Person.
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Ängste und Lernerfahrungen
Die Entwicklung von Ängsten basiert auf Lernerfahrungen. Von zentraler Bedeutung sind dabei die drei Informationswege über [35], [36]: die klassische Pawlow'sche Konditionierung, das Modelllernen und die verbal vermittelte Information.
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Pawlow'sche Konditionierung assoziiert Schmerz mit Bewegung
Besonders relevant für die Entstehung einer Kinesiophobie ist die Pawlow'sche Konditionierung durch eigene Erfahrung. Gemäß diesem Modell ruft ein unkonditionierter Stimulus (US) eine unkonditionierte Reaktion (UR) hervor. Im Fall der Kinesiophobie (KOMPONENTEN DES FAM) fungiert der Schmerz als US und die Angst vor Schädigung als UR. Wenn der Schmerz als US wiederholt mit einem neutralen Stimulus (NS) wie zum Beispiel einer bestimmten Bewegung einhergeht, entsteht eine Assoziation zwischen beiden Stimuli. Folglich wird die Bewegung (NS) zum konditionierten Stimulus (CS). Die Präsenz dieser bestimmten Bewegung signalisiert dem Betroffenen das Auftreten von Schmerz und führt somit zur konditionierten Reaktion (CR). Über den Weg der Pawlow'schen Konditionierung entwickelt er eine Angst vor Schädigung, wenn er bestimmte Bewegungen ausführt ([TAB.].). Durch die Pawlow'sche Konditionierung können bestimmte Bewegungen langfristig die Erwartung von Schmerzen triggern und folglich Ängste erzeugen, ohne dass man zwangsläufig Schmerz erfährt [35], [37]. Darüber hinaus können sich diese Ängste durch eine „Generalisierung“ auch auf ähnliche Bewegungen übertragen, welche bis dato keine Schmerzen zur Folge hatten [38], [39]. Dies wiederum kann den Alltag massiv einschränken.
Phase |
Stimulus |
Reaktion |
---|---|---|
vor Konditionierung |
unkonditionierter Stimulus (US): Schmerz |
unkonditionierte Reaktion (UR): Angst vor Schädigung |
Konditionierung |
unkonditionierter Stimulus (US) + neutraler Stimulus (NS): Schmerz + Bewegung |
unkonditionierte Reaktion (UR): Angst vor einer Schädigung |
nach Konditionierung |
konditionierter Stimulus (CS): Bewegung |
konditionierte Reaktion (CR): Angst vor Schädigung |
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Modelllernen durch Beobachtung von Menschen
Schmerzbezogene Angst erlernt man häufig indirekt durch die Weitergabe von Schmerzinformationen. So schaffen zum Beispiel visuelle Kanäle eine Assoziation zwischen dem unkonditionierten Stimulus „Schmerz“ und der unkonditionierten Reaktion „Angst vor Schädigung“. Das Modelllernen beruht auf der Beobachtung menschlicher Vorbilder. Studien mit gesunden Probanden belegen, dass man schmerzbezogene Angst durch Modelllernen – das heißt durch die bloße Beobachtung der Schmerzerfahrung anderer und der damit einhergehend vermittelten Mimik – erlernen kann [40]–[42]. Dies gilt vor allem, wenn das Individuum im Vorfeld katastrophisierende Tendenzen zeigt [43].
Katastrophisierende Gedanken befeuern jedoch nicht nur die Angst vor dem Schmerz selbst, sondern auch die Kinesiophobie.
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Verbal vermittelte Information mit immensem Einfluss
Entsteht eine Kinesiophobie, ist auch die verbale Informationsverbreitung etwa durch das soziale Umfeld oder die Medien wichtig [35]. Gerade im Zeitalter des Internets sind negative Erfahrungsberichte und irreführende bzw. unvollständige Informationen beinahe unvermeidlich, die die Sorgen der betroffenen Personen verstärken [44], [45].
Ängste werden jedoch nicht nur durch medizinische Laien geschürt. Auch die Kommunikation zwischen Patient*in und Arzt bzw. Ärztin oder Therapeut*in bietet häufig einen idealen Nährboden für Ängste. In diesem Kontext können sich sogar die Ängste eines Therapierenden nonverbal auf Patient*innen übertragen. Therapeut*innen haben über ihre Erklärungen, ihre Wortwahl und ihr Auftreten langfristige Effekte auf die Ängste und das Verhalten der Patient*innen. Deshalb sollte die Aufmerksamkeit immer auch auf der verbalen und nonverbalen Kommunikation im therapeutischen Setting liegen. Rückversicherung und Bestärkung sowie eindeutige, leicht verständliche und klare Informationen können zu mehr Selbstvertrauen und zur Aktivierung der Patient*innen führen [47].
Prädiktoren von Schmerzintensität und körperlicher Beeinträchtigung
Katastrophisierung
Ängstliche Menschen neigen zu katastrophisierenden Interpretationen ihrer Beschwerden. Sie tendieren dazu, den Ernst ihrer Schmerzen bzw. deren Bedeutung zu überschätzen. Typische von Patient*innen geäußerte Sorgen sind unter anderem, ob ihre Schmerzen „noch schlimmer“, „jemals aufhören“ oder schließlich „überwältigend“ sein werden. Diese katastrophisierenden Gedanken erfasst man mit der „Pain Catastrophizing Scale“ (PCS) [18], [19].
In einer Untersuchung von Julio Doménech et al. aus dem Jahr 2013 erklärte „Katastrophisieren“ 37 Prozent der Varianz der Schmerzintensität bei Patient*innen mit chronischem Knieschmerz und immerhin 28 Prozent der resultierenden Beeinträchtigung bzw. „Disability“ [20]. In einer Folgestudie stellten die Autor*innen fest, dass bei derselben Patientengruppe abnehmende katastrophisierende Gedanken dazu führten, dass sich die Schmerzintensität und schmerzbezogene Beeinträchtigungen über den Behandlungsverlauf minimierten [21].
Schmerzbezogene Angst
Schmerzbezogene Angst bezieht sich auf die Erwartung und Überschätzung von Schmerzen zum Beispiel während eines medizinischen Eingriffs, einer Operation oder bei einer Verletzung. Dieser Angst-Typus wird in der klinischen Praxis mit dem „Fear of Pain Questionnaire“ (FPQ) oder der „Pain Anxiety Symptoms Scale“ (PASS) erfasst [22]–[24]. Diverse klinische Studien belegen den Zusammenhang zwischen schmerzbezogener Angst und Vermeidungsverhalten sowie körperlichen Beeinträchtigungen [25]–[27].
Kinesiophopie
Kinesiophobie beschreibt eine exzessive und irrationale Angst vor Verletzung durch Bewegung. Sie wird mittels der „Tampa Scale of Kinesiophobia“ (TSK) gemessen [28]. Mehrere klinische Studien an Patient*innen mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparats wiesen bereits auf einen Zusammenhang zwischen Kinesiophobie und Vermeidungsverhalten, Beeinträchtigungen sowie der Schmerzinterferenz im Alltag hin [7], [30]–[32]. Auch anhand der bereits erwähnten Studie von Julio Doménech et al. wurde deutlich, dass die Kinesiophobie 28 Prozent der Varianz schmerzbezogener Disability bei Patient*innen mit chronischem Knieschmerz erklärt [20]. Diese Befunde bestätigen, dass die Angst eines Menschen, sich durch Bewegung und Aktivität zu schaden, ihn massiv in dessen Alltag einschränken kann [33].
Hypervigilanz
Ein Mensch mit Kinesiophobie richtet seine Aufmerksamkeit von nun ab verstärkt auf seinen Körper und scannt diesen permanent auf mögliche schmerzbezogene Reize. Nimmt er dann tatsächlich eine Schmerzsensation wahr, fokussiert er die Aufmerksamkeit auf diese. Alltägliche Aufgaben lassen sich dadurch oft schlechter bewältigen [4], [34]. Dieses als „Hypervigilanz“ bezeichnete Verhalten geschieht nicht unbedingt bewusst, sondern erfolgt zumindest teilweise automatisch und unbeabsichtigt [34]. Zwar kann derjenige seine Aufmerksamkeit kontrollieren, dies geht allerdings auf Kosten kognitiver Ressourcen.
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Behandlungsansätze
Wegen der hohen Relevanz für die Chronifizierung von Schmerzen und angesichts der Wichtigkeit von Lernerfahrungen müssen Therapierende potenzielle Ängste ihrer Patient*innen in der therapeutischen Beziehung und Behandlung berücksichtigen. Dementsprechend sollte die Angstminderung selbst ein Therapieziel sein. Wichtige Behandlungsstrategien, die Angst zu mindern, sind die Expositionstherapie und „Graded Activity“. Beide haben das Ziel, die Aktivitäten von Patient*innen aufzubauen und deren Ängste und schmerzbedingte Beeinträchtigungen zu reduzieren.
Therapeut*innen müssen ganz besonders darauf achten, durch ihre Erklärungen, ihre Wortwahl und ihr Auftreten keine Ängste bei Patient*innen zu schüren.
In der Expositionstherapie erfasst man zunächst die individuellen Ursachen des eingeschränkten Aktivitätsniveaus eines Patienten bzw. einer Patientin. Zumeist handelt es sich dabei um irrationale oder übersteigerte Auffassungen und katastrophisierende Gedanken, die man in der Therapie durch eine quasi „neue Erfahrung am eigenen Leib“ widerlegen oder verändern möchte. Für die Praxis bedeutet das, dass Patient*innen eingangs ihre Ängste und Befürchtungen explizit formulieren und anschließend die von ihnen gefürchteten Bewegungen und Aktivitäten unter Anleitung des Therapierenden ausführen.
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Schädlichkeit von Aktivitäten bewerten
Zu Beginn erstellen Patient*in und Therapeut*in mittels der „Photograph Series of Daily Activities“ (PHODA) eine Schädlichkeitshierarchie verschiedener Aktivitäten [48], [49]. Anhand von Bildern – zu sehen sind zum Beispiel Menschen, die eine Schubkarre schieben, eine Kiste heben oder Rasen mähen – bewertet der Patient bzw. die Patientin die von ihm bzw. ihr empfundene Schädlichkeit jeder einzelnen Aktivität auf einer numerischen Skala von 0 bis 100.
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Aktivitäten gemeinsam ausführen
Neben einer allgemeinen und individualisierten Informationsvermittlung zu den Themen chronischer Schmerz und Angst-Vermeidungs-Modell besteht die Therapie in erster Linie aus Expositionssitzungen. Hier wählt man anfangs einzelne Aktivitäten aus der Schädlichkeitshierarchie, woraufhin Patient*innen ihre konkrete Befürchtung formulieren à la „Wenn ich eine Kiste hebe, wird mein Rücken geschädigt“.
Im zweiten Schritt bewerten Patient*innen nun die Plausibilität und die Intensität ihrer Angst gegenüber der entsprechenden Aktivität. Anschließend führen sie die Bewegung aus. Der Therapeut bzw. die Therapeutin erfragt nun erneut, ob sich die Angst vor Bewegung und der Schmerzintensität bestätigt hat, das heißt, ob sich die Ausführung der Bewegung tatsächlich als „schädlich“ wie ursprünglich angenommen erwiesen hat. Diese Schritte werden so lange wiederholt, bis das Angstniveau sinkt und der Therapeut bzw. die Therapeutin Fortschritte feststellen kann.
Die Expositionstherapie und Graded Activity haben das Ziel, Aktivitäten von Patient*innen aufzubauen und Ängste sowie schmerzbedingte Beeinträchtigungen zu reduzieren.
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Mit herausfordernden Aktivitäten beginnen
Eine mögliche Vorgehensweise bei der Auswahl der Aktivitäten bietet die „Graded Exposure“. Ursprünglich wurde hierzu die Schädlichkeitshierarchie von unten nach oben abgearbeitet. Begonnen wurde die Exposition also mit jener Aktivität, die vom Patienten bzw. von der Patientin als „am wenigsten schädlich“ eingeschätzt wurde, um so eine graduelle Steigerung zu ermöglichen. Neuere Studien zeigen hingegen, dass es empfehlenswert ist, bereits mit herausfordernden Aktivitäten zu beginnen, um dadurch ein Überraschungsmoment zu kreieren und so größere Lerneffekte zu erzielen [50]. Speziell für Therapierende entwickelte Peter OʼSullivan eine Version der Expositionstherapie namens „Cognitive Functional Therapy“ (CFT), die sehr praktikabel auch mit Video-Tutorials arbeitet [51].
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Graded Activity als alternativer Behandlungsansatz
Im Gegensatz zur hauptsächlich auf die Konfrontation mit katastrophisierenden Überzeugungen und Ängsten gerichteten Expositionstherapie steigert man das Aktivitätsniveau beim „Graded Activity“-Behandlungsansatz (GA) nach dem Prinzip der operanten Konditionierung stufenweise [52]. Dementsprechend werden die Fortschritte von Patient*innen durch Therapierende bekräftigt und positiv verstärkt. Eine zentrale Rolle in der GA spielt das „Pacing“, das heißt die Aktivitätssteigerung der Patient*innen auf Basis vorab festgelegter Quoten und unabhängig von deren Tagesform und aktuellem Schmerzniveau. Über das Pacing soll das Schmerzverhalten peu à peu abgebaut werden. Den ursprünglich psychologischen Therapieansatz wenden Physiotherapeut*innen insbesondere aus den Niederlanden an.
Studien belegen die Effektivität der Expositionstherapie und der Graded Activity hinsichtlich der Senkung schmerzbezogener Ängste und Beeinträchtigungen [52]–[54]. Laut einer Metaanalyse von Ibai López-de-Uralde-Villanueva et al. aus dem Jahr 2016 erzielt Graded Activity kurz- und langfristig bessere Ergebnisse hinsichtlich der Disability als gängige Routinebehandlungen. Im Vergleich reduziert Graded Exposure katastrophisierende Gedanken und schmerzbedingte Beeinträchtigungen jedoch am besten [55]. Ungeachtet dieser positiv stimmenden Studienergebnisse sind noch weitere Forschungsarbeiten zu den vorgestellten Therapieformen und ihrer Wirkung auf die verschiedenen Angstformen dringend erforderlich.
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Ängste therapieren, um Teufelskreis zu durchbrechen
Ängste bei Patient*innen können sich durch deren negative Erfahrungen oder aus ihrem sozialen Umfeld heraus entwickeln. Gleichzeitig können auch Therapeut*innen durch ihre eigene Unsicherheit oder eine unklare Kommunikation zu deren Entstehung beitragen. Weil die verschiedenen Formen von Ängsten maßgeblich an der Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen und Beeinträchtigungen beteiligt sind, müssen diese gezielt therapiert werden, um dadurch den verhängnisvollen Teufelskreis des Angst-Vermeidungs-Modells zu durchbrechen.
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Publication History
Article published online:
18 February 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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