Geheimnisse sind wichtig. Sie sind identitätsbildend. Dennoch bin ich überzeugt: Eine
echte Humanisierung im Umgang mit seelischen Krisen, psychosozialen Problemen und
anhaltenden psychosozialen Einschränkungen kann – auf allen Ebenen unserer Gesellschaft
– nur erfolgen, wenn wir therapeutisch Tätigen offener mit unseren eigenen Verwundungen
und Verletzlichkeiten umgehen. Diese These stellt Stephen Hinshaw in seinem Schlusswort
der lesenswerten Sammlung von Erfahrungsberichten krisenerfahrener psychiatrisch und
psychosozial Tätiger auf ([1], S. 359). In meinem Beitrag erläutere ich, warum ich diese These teile.
Im Verlauf meiner bald 25-jährigen psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit habe
ich gelernt, dass ich nur dann wirklich (mit-)menschlich mit meinen Patient*innen
umgehen kann, wenn ich innerlich offen zu meinen eigenen Krisenerfahrungen bin. Dies
betrifft insbesondere meine Psychose im 21. Lebensjahr. Weitere Krisenerfahrungen
und Notlagen kommen dazu, eigene Psychiatrieerfahrung als Nutzer bzw. Betroffener
jedoch nicht. Innerliche Offenheit zu den eigenen Krisenerfahrungen würde sicherlich
jede psychodynamisch geprägte Psychotherapeut*in einfordern. Genau dem dient die Lehrtherapie
bzw. Selbsterfahrung. In der These geht es aber um mehr. Denn es geht explizit darum,
die eigenen Krisenerfahrungen gegenüber Dritten offenzulegen. Dies meint sowohl den
privaten als auch den kollegialen und öffentlichen, zuweilen auch den therapeutischen
Raum. Es gibt gute Argumente für ein selbst gesteuertes Offenlegen, aber auch nachvollziehbare
Ängste vor der Dynamik, die dadurch ausgelöst werden können. Beginnen wir mit dem
therapeutischen Raum, da hier sicherlich die größten Vorbehalte bestehen.
Offenlegung im therapeutischen Raum bedeutet nicht primär, dass wir therapeutisch
Tätigen unsere eigenen Krisenerfahrungen und psychosozialen Problemen direkt mitteilen.
Es bedeutet, dass wir unserem Gegenüber neugierig und interessiert zuhören und unsere
Ideen, was jetzt hilfreich sein könnte, geduldig und gelassen ins Spiel bringen und
einen Raum aufspannen, in dem der andere seine Ideen platzieren kann. Ebenso, wie
wir uns das selbst gewünscht hätten und vielleicht sogar erfahren haben, ob nun von
Profis, Angehörigen oder engen Freunden. Ich möchte dies die Haltung des „verletzten
Heilers“ nennen [2]. Sie entspricht m. E. der Haltung einer guten Psychotherapeut*in, wie sie Michael
Buchholz beschreibt [3]. Diese Haltung mag in bestimmten Ausnahmesituationen schwierig oder vielleicht sogar
unmöglich sein. Aber vermutlich können wir „verletzte Heiler“ zumindest manche dieser
Situationen dadurch entschärfen, indem wir der Angst und dem Misstrauen des anderen
Raum geben, da wir diese zuerst spüren und sie im Sinne eines „Ich kenne das, wenn
auch vielleicht nicht so intensiv wie Sie das gerade erleben …“ formulieren. Mindestens
aber gibt es uns „verletzten Heilern“ einen gewissen Vertrautheitsvorschuss mit dem,
was den anderen bewegt [4]. In allen engeren und weiteren Formen psychotherapeutischen Tuns ist diese Haltung
des „verletzten Heilers“ eigentlich der angestrebte Goldstandard, auch wenn er eben
nicht so genannt wird. Er lebt von der Offenheit zu eigenen Krisenerfahrungen, ohne
dass diese Erfahrungen zwingend im therapeutischen Raum benannt werden müssen.
Offenlegung im privaten Raum soll hier nur kurz angerissen werden. Es sollte aus heutiger
Perspektive selbstverständlich sein. Dabei fällt das Offenlegen natürlich leichter,
wenn die Betreffenden nahestehen und hilfreich sind. Bei therapeutisch Tätigen mit
tiefgreifender seelischer Krisenerfahrung ist m. E. anzunehmen, dass sie über solche
Personen verfügen.
Ambivalenter ist das Offenlegen im kollegialen Raum, da dies die eigene therapeutische
Kompetenz in Zweifel ziehen kann und Stigmatisierung unter Kollegen droht. Auch mir
fällt das Offenlegen vor Kollegen schwer. Der Bericht einer durchgemachten psychotischen
Episode provoziert m. E. insbesondere bei denjenigen, die ein sehr eng gefasstes biologisches
Verständnis von Psychosen haben, eine Abqualifizierung der eigenen Person und der
vertretenen Standpunkte. Allerdings kann man dabei auch Überraschungen erleben, beispielsweise
wenn sich die andere Person durch den eigenen Bericht dazu durchringt, ihrerseits
eigene Erfahrungen offenzulegen. Dies ist mir wiederholt passiert. Und wir empfanden
es beide als entlastend. Allerdings kenne ich auch gegenteilige Reaktionen, die von
Ungläubigkeit der berichteten Erfahrung bis hin zum künftigen Meiden und Abgrenzen
reicht.
Damit kommen wir zur Offenlegung im öffentlichen Raum. Meine Pro-Position in dieser
Diskussion ist ja genau das. Ich habe dies bereits an anderen Stellen getan ([5], S. 10; [2]), aber auch in Trialogen und anderen öffentlichen Gesprächen den Umstand eigener
Psychoseerfahrung benannt. Wobei ich üblicherweise nicht ins Detail gehe. In den letzten
Jahren habe ich auch unter dem Eindruck der o. g. These den Mut gefasst, offener zu
sein [4]. Psychiatrieerfahrene sind ja tatsächlich, ob in der Selbsthilfe oder als EX-IN-Kräfte
im Gesundheits- und Eingliederungshilfewesen, die Prototypen des „verletzten Heilers“.
Die Einmischung und Beteiligung Erfahrener in den Hilfestrukturen auf allen Ebenen
von der Politik über die Praxis bis zur Forschung hat hier einen fruchtbaren Boden
bereitet, prachtvolle Blüten hervorgebracht und viele Samenkörner gelegt. Ihre öffentlichen
Geschichten sollten auch uns verletzten Heiler*innen Mut machen, uns zu öffnen, damit
die Saat umfassend aufgeht.
Was könnte im Fachdiskurs und in der Öffentlichkeit durch dieses vermehrte Offenlegen
ausgelöst werden? Es könnte ein psychosozialeres, freilich nicht abiologisches Verständnis
auch schwerwiegender seelischer Krisen- und Notlagen stark machen. Ein Verständnis,
welches die Interaktion von psychischer Verfassung und sozialer Umfeld- und Kulturstruktur
dezidierter in den Blick nimmt und sein Vorbild im Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention
hat. Es könnte ein Empowerment der seelisch Beladenen mit sich bringen, welches konsequent
Hilfe zur Selbsthilfe betreibt. Es könnte eine ganz neue Qualität der Hilfe und Hilfestrukturen
entstehen, eine trialogische Wende.
Verschiedene Umfragen unter psychiatrisch Tätigen illustrieren die Bedeutung dieser
Überlegungen. So ist die Gruppe psychiatrisch Tätiger mit seelischer Krisenerfahrung
regelhaft hoch und schwankt zwischen 30 und 60 %, wobei die Rate bei psychotherapeutisch
Qualifizierten höher zu liegen scheint. Zugleich ist die Offenlegung dieser Krisenerfahrung
abseits des privaten Rahmens gering [6]. Die Erfahrung liegt vor, aber sie wird im Diskurs nicht wirksam – weder im Fachdiskurs,
noch im öffentlichen Diskurs. Es wird Zeit, dass sich dies ändert.