Selbstoffenbarung gilt inzwischen bei psychiatrischen Fachkräften als wirksame Methode. Die humanistische Psychotherapie entdeckte ihr Potenzial und spätestens mit den Dritte-Welle-Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie, wie CBASP und Schematherapie hat sich die Selbstoffenbarung als Methode in der Psychotherapie etabliert. Selbst die Psychoanalyse, die Selbstoffenbarung lange strikt ablehnte, schließt sie inzwischen nicht mehr absolut aus.
Eine ganze Reihe empirischer Studien belegt, dass Selbstoffenbarung in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen positive Effekte haben kann, aber auch negative. In einer Übersichtsarbeit zur Rolle der therapeutischen Selbstoffenbarung in unterschiedlichsten psychotherapeutischen Settings und mit verschiedenen Behandlerprofessionen fanden Henretty und Levitt bei 20 von 30 Studien positive Effekte [1]. Dazu zählen Stabilisierung und Verbesserung der therapeutischen Beziehung, Entstigmatisierung und die Vermittlung eines positiven Rollenmodells. In 6 Studien aber fanden die Autorinnen gemischte Effekte und in 4 Studien negative Effekte. Dazu zählt, dass Patient*innen sich mit den persönlichen Informationen der behandelnden Fachkraft überfordert fühlen, darüber grübeln und Sorge haben, den- oder diejenige mit ihren Themen zu belasten. Ebenso kann es zum Gefühl der Grenzverletzung oder zu einer Fehlinterpretation der Offenheit der behandelnden Fachkraft im Sinne eines außertherapeutischen Beziehungsangebots kommen [1].
Beim Blick auf die Empirie zum Thema Selbstoffenbarung zeigt sich, dass ein wesentliches Problem bei der Beurteilung von Nutzen und Risiko in der unklaren Definition des Begriffes liegt [2]. Es muss unterschieden werden zwischen Selbstoffenbarungen im Sinne von „self-involving“ und im Sinne von „self-disclosure“ [2]. „Self-involving“ bedeutet, den Patient*innen in der Behandlung eigene Emotionen und Gedanken mit direktem Bezug zum aktuellen Geschehen in der Behandlung mitzuteilen. „Self-disclosure“ meint dagegen Informationen zu Erlebnissen außerhalb der Behandlung. Und hier muss zudem zwischen Informationen mit geringem bzw. hohem Intimitätsgehalt, positiven und negativen Informationen, spontanen Aussagen und Aussagen auf Nachfrage durch die Patient*innen unterschieden werden [2]
[3].
Wird Selbstoffenbarung in der Arbeit psychiatrischer Fachkräfte mit Patient*innen unreflektiert eingesetzt, kann sie Schaden anrichten und so von einer wirksamen Methode zum Kunstfehler werden. Obwohl Selbstoffenbarung häufig stattfindet, wird sie als Methode in der Aus- und Weiterbildung psychiatrischer Fachkräfte kaum gelehrt.
Ausbildungskandidat*innen in psychiatrischen Berufsfeldern sollten früh lernen darüber nachzudenken, bei welchen Patient*innen sie aus welchen Gründen, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise Selbstoffenbarung einsetzen. Während Selbstoffenbarung hinsichtlich Informationen zum beruflichen Werdegang, dem Status und der therapeutischen Ausrichtung aus ethischen Gründen angeraten wird und Selbstoffenbarung im Sinne von self-involving als Methode in psychotherapeutischen Verfahren wie der Schematherapie etabliert ist, ist Zurückhaltung bezüglich Selbstoffenbarung im Sinne von self-disclosure bei Patient*innen geboten, die ungünstige Bindungserfahrungen gemacht haben, die sich sehr auf die Versorgung anderer fokussieren, sowie bei Patient*innen mit Persönlichkeitsstörungen und Psychosen [1]
[4]. Patient*innen können es als belastend erleben, private Dinge über ihre behandelnde Fachkraft zu wissen, sie erleben es als eindringlich, überfallsartig, vereinnahmend, übergriffig [5]. Informationen zu Behandlungsfehlern und eigenen Krisen, auch wenn diese in der Vergangenheit erfolgreich überwunden werden konnten, sollten eher nicht offenbart werden, selbst wenn Parallelen zur Situation der Patient*innen bestehen. Solche Offenbarungen können im Ergebnis ungünstig mit der Behandlung interferieren, wenn Patient*innen sich beispielsweise zurücknehmen, um die behandelnde Fachkraft nicht zu belasten [6]. Auf manche Patient*innen kann das Offenlegen eigener Krisen und Schwächen unprofessionell wirken, sie befürchten, dass die behandelnde Fachkraft sich und ihr Problem in den Vordergrund stellt, statt sich mit ihnen zu befassen. Sie konkurrieren oder verlieren den Respekt, halten die Fachkraft für nicht erfolgreich oder gar inkompetent [1]
[6]. Und aus der Wirksamkeitsforschung wissen wir, welchen Effekt Erfolgserwartungen in der Behandlung haben. Andere Patient*innen wiederum nehmen sich die Probleme und Erlebnisse ihrer behandelnden Fachkraft sehr zu Herzen, grübeln und fühlen sich durch das Wissen belastet [1].
Wenn psychiatrische Fachkräfte einen offenen Umgang mit eigenen Krisenerfahrungen ihren Patient*innen gegenüber wählen, müssen sie sicherstellen, dies nicht zu tun, um die Patient*innen zu kontrollieren oder zu manipulieren oder gar zu verletzen. Ebenso dürfen keinesfalls eigene Bedürfnisse wie Zuwendung oder Anerkennung durch die Offenbarung eigener Krisen und deren Überwindung erfüllt werden [7]. Und schließlich ist auch entscheidend dafür, wie problematisch eine Selbstoffenbarung sein kann, wie emotional aufgeladen und somit eventuell auch intrusiv sie ist.
Doch auch wenn Selbstoffenbarung nur dann und in dem Maße eingesetzt wird, wie es dem Behandlungsprozess dient, bleibt es nicht risikofrei. Wie die Offenbarung eigener Krisen und Schwächen auf Patient*innen wirkt, ist nicht in letzter Instanz kalkulierbar.
Bevor wir Selbstoffenbarung in psychiatrischen Arbeitsbeziehungen als Methode nutzen, müssen dafür die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Noch bestehen sie nicht.
Selbstoffenbarung muss als Methode einen Stellenwert in der Ausbildung psychiatrischer Fachkräfte erhalten. Diese müssen lernen, den Einsatz der Methode zu reflektieren, zu üben und dabei die Fallstricke zu erkennen.
Gleichzeitig sollten auch für Patient*innen notwendige Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu zählen Handreichungen und Hilfestellungen, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre behandelnde Fachkraft belastet ist oder grenzverletzend agiert.
Solange das nicht gewährleistet ist, sollte mit der Offenlegung eigener Krisenerfahrungen sehr zurückhaltend umgegangen werden.